122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

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»Ich besitze eine Taschenbuchausgabe«, antwortete die Schwester. »Sie wiegt kaum etwas.«

Brenner lachte. »Jedenfalls danke für den Vorschlag. Vielleicht komme ich später darauf zurück. Im Moment … vielleicht werde ich jetzt doch noch versuchen, ein bißchen zu schlafen. «

»Eine gute Idee«, antwortete die Schwester. »In knapp drei Stunden kommt die Frühschicht, und dann werden Sie gnadenlos geweckt.«

Er hörte, wie sie irgend etwas an den Maschinen neben ihm tat, dann fuhr sie fort: »Das sieht ja alles schon sehr gut aus. Sie waren ein braver Patient und haben alle ihre Medikamente genommen?«

»Habe ich eine Wahl?« Brenner hob die rechte Hand, so weit er konnte. Sehr weit war es nicht. In seinem rechten Handrücken steckte eine Nadel, durch die er nicht nur intravenös ernährt, sondern auch mit dem größtenTeil seiner Medikamente versorgt wurde. Und die außerdem noch erbärmlich weh tat.

»Nein«, antwortete die Schwester. Sie klang jetzt eindeutig fröhlich. »Und das ist auch gut so. Wenn Sie irgendwas brauchen, klingeln Sie.«

Ihre Schritte entfernten sich, und einen Moment darauf hörte er das Geräusch der Tür. Er war allein – das hieß, außer ihm war niemand im Zimmer. Vermutlich wurde er in jeder Sekunde von mindestens einem Augenpaar beobachtet. Brenner war sich ziemlich sicher, daß die Schwester keineswegs zufällig genau in dem Moment hereingekommen war, als er versucht hatte, von seinem Bett aufzustehen. Wenn nicht sie selbst, so überwachten ihn doch die zahlreichen Geräte, an die er angeschlossen war, so gründlich, wie es nur ging. Die Ärzte stritten es ab, vermutlich um ihn zu beruhigen, aber Brenner war vom ersten Moment an klargewesen, daß dies kein normales Krankenzimmer war. Er befand sich auf einer Intensivstation, möglicherweise sogar in einer Spezialklinik.

Er fragte sich nur, warum.

Abgesehen von seinen Augen fehlte ihm nicht viel. Gewiß, jeder einzelne Muskel in seinem Körper tat weh, und er hatte seit seinem ersten Erwachen in diesem Zimmer so viele Spritzen bekommen, daß er sich wie ein Nadelkissen fühlte, aber er war eindeutig nicht schwer verletzt. Jedenfalls nicht schwer genug, um diese Behandlung zu rechtfertigen. Vielleicht hatten sie ihn doch belogen, was sein Sehvermögen anging. Was, wenn es nicht zurückkehrte, sondern im Gegenteil ganz erlöschen würde – oder er für den Rest seines Lebens in diesem grauen Universum gefangen war?

Brenner spürte die Gefahr, die in diesem Gedankengang lauerte, und brach ihn mit einer bewußten Anstrengung ab. Er war in den letzten Tagen mehrmals am Rande der Panik gewesen – und ein– oder zweimal ganz eindeutig jenseits dieses Randes – , aber er hatte begriffen, daß Panik zu nichts führte. Sie war nicht konstruktiv, und sie erfüllte nicht einmal die Funktion eines reinigenden Gewitters, denn er fühlte sich hinterher nicht besser, sondern im Gegenteil hundeelend – nicht gereinigt, sondern ausgebrannt.

Brenner hob die linke, nicht bandagierte Hand und tastete ungeschickt nach dem Radiohörer – genauer gesagt, dem Ding, das sich Radiohörer schimpfte. Die kleine, an einem Gummischlauch befestigte Muschel hatte die Klangqualität eines schlechten Ohrsteckers, wie ihn Stenotypistinnen zu benutzen pflegten, und die Qualität des Programms, das er damit empfing, paßte dazu. Der Schalter an der Wand – den er nicht mit der Hand erreichen konnte, ohne sich halb den Arm auszukugeln – hatte zwar sechs Stellungen, aber auf vieren davon empfing er nur statisches Rauschen, auf den beiden anderen das krankenhauseigene Musikprogramm, das vom Band kam und sechsmal am Tag wiederholt wurde: seichte Popmusik auf dem einen und ebenso seichte Klassik auf dem anderen Kanal. Er kannte die Programmfolge mittlerweile auswendig. Trotzdem war es immer noch besser als gar nichts.

Umständlich nestelte er den Hörer in sein Ohr und verzog dasGesicht, als er die Melodie identifizierte. Zu allem Überfluß hatte er auch noch den Klassikkanal gewählt. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten: er konnte die Schwester rufen oder mit dem linken Arm in einem beinahe unmöglichen Winkel nach dem Schalter an der Wand greifen, womit er wahrscheinlich ebenfalls die Schwester wieder auf den Plan gerufen hätte. Die dritte Alternative war, für die nächsten zwanzig Minuten eine miserabel gespielte Klaviersonate von Debussy oder Gottweißwem von einem seit Monaten ununterbrochen heruntergespulten Band zu hören.

Er hob den Arm und kam genau so weit, wie er befürchtet hatte: Seine Finger tasteten an dem dürren Plastikschlauch entlang, bis er den Arm so weit verdreht hatte, wie er konnte, und seine Fingerspitzen berührten soeben den Kopf.

»Warten Sie – ich helfe Ihnen.«

Brenner fuhr so erschrocken zusammen, daß das Krankenhausbett spürbar zitterte. »Wer ist da?« Er hatte nicht gehört, daß jemand hereingekommen war; weder das Geräusch derTür noch Schritte. In den grauen Nebelschwaden ringsum bewegten sich Schemen, aber er konnte nicht sagen, was davon real war und was nicht.

»Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Möchten Sie die Musik hören?«

Brenner riß den Ohrhörer mit einer hastigen Bewegung herunter und setzte sich nun doch auf. Mindestens zwei seiner elektronischen Schutzengel begannen protestierend zu piepsen, aber darauf achtete er nicht. »Wer sind Sie?« fragte er noch einmal. »Und wo, zumTeufel, kommen Sie her?«

»Also gerade dorther mit Sicherheit nicht.« Ein leises Lachen, das es ihm endlich gestattete, wenigstens die Richtung zu identifizieren, aus der die Stimme kam. »Bitte verzeihen Sie mir. Ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken. Die Schwester sagte mir, daß Sie wach sind und vielleicht ganz froh über ein bißchen Gesellschaft wären. Mein Name ist Johannes. Pater Johannes, von der Gesellschaft Jesu, aber das muß Sie nicht beeindrucken. Die meisten nennen mich einfach nur Johannes.«

»Pater?« Brenner legte den Kopf auf die Seite und blickte angestrengt in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nach einigen Momenten sah er tatsächlich einen Schatten – den ersten wirklichen Schatten, seit er hier aufgewacht war. Alle anderen Schemen, die zu ihm sprachen, waren hell gewesen. Dieser war dunkel. »Sind Sie der Gefängnispfarrer hier?«

Johannes lachte – nicht sehr laut, aber es klang herzhaft und sehr warm. Seine Stimme war älter als die der Schwester, aber nicht älter als Brenners. »So ungefähr«, sagte er. »Aber lassen Sie sich davon nicht irritieren. Außerdem bin ich nicht im Dienst, «

»Das ist gut«, sagte Brenner. »Ich brauche nämlich keinen Beichtvater. Ich habe noch nicht vor zu sterben.«

Diesmal lachte Johannes nicht. Selbst Brenner war ein wenig erstaunt über den leisen, scharfen Unterton in seiner Stimme. Seine Verwirrung war fort, aber dafür machte sich ein Gefühl von Feindseligkeit in ihm breit, das er sich gar nicht erklären konnte.

»Ich sagte doch, ich bin nicht im Dienst«, sagte Johannes nach einer Weile. »Ich war schon auf dem Weg nach Hause, als ich die Nachtschwester getroffen habe. Sie hielt es für eine gute Idee, wenn ich noch einmal bei Ihnen vorbeischaue. Aber ich gehe wieder, wenn Sie nicht reden wollen.«

»Nein«, antwortete Brenner hastig. »Bitte entschuldigen Sie, Pater. Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen.«

Die Schritte umkreisten das Bett, und er hörte, wie ein Stuhl hochgehoben und scharrend herangezogen wurde. »Also gut«, sagte Johannes. »Wenn wir damit fertig sind, uns gegenseitig zu entschuldigen, könnten wir uns ein bißchen unterhalten. Wenn Sie wollen, heißt das.«

Eigentlich wollte Brenner das nicht. Er konnte es sich nicht erklären, aber er empfand noch immer ein grundloses, aber sehr heftiges Mißtrauen gegen die körperlose Stimme des Geistlichen. Warum?

Das Gefühl war so stark, daß es sein schlechtes Gewissen weckte – schließlich hatte der Mann ihm nichts getan, sondern war im Gegenteil sehr freundlich zu ihm gewesen. Er opferte immerhin einen Teil seiner Freizeit, was für jemanden mit seinem Beruf vielleicht nicht selbstverständlich war, auch wenn alle Welt es erwarten mochte. Brenner glaubte nicht, daß Krankenhausgeistliche über sehr viel Freizeit verfügten.

»Ich möchte schon«, sagte er zögernd. »Ich fürchte nur, daß… nun, ich bin nicht unbedingt besonders bibelfest.« Johannes seufzte. »Warum glaubt eigentlich alle Welt, daß wir nur über die Bibel und den Sinn des Lebens reden können?« fragte er. »Das muß wohl der Fluch meiner Kutte sein.« »Tragen Sie denn eine?« fragte Brenner.

»Nein. Bei uns gibt es das nicht. Sehen …« Johannes stockte, schwieg für eine oder zwei Sekunden und fuhr dann in deutlich betroffenem Tonfall fort: »Verzeihung. Ich hatte für einen Moment vergessen, daß … Sie nichts sehen.«

»Das macht nichts«, log Brenner. Es klang nicht besonders überzeugend, und er gab sich auch keine Mühe, so zu tun. »Man gewöhnt sich dran, wissen Sie? Es ist ja nicht für lange. Ich kann heute schon besser sehen als gestern. Und gestern etwas besser als vorgestern.« Das klang noch weniger überzeugend. Johannes sagte nichts dazu, aber irgend etwas an seiner Art zu schweigen irritierte Brenner. Nach einigen Sekunden fügte er hinzu: »In ein paarTagen ist alles wieder in Ordnung. Wenigstens … hoffe ich das.«

»Das klingt überhaupt nicht überzeugt«, sagte Johannes geradeheraus. Er hatte eine recht eigenwillige Art, seinen Job zu tun, fand Brenner. Aber zugleich auch eine, die ihm gefiel. Bisher hatte er sich hartnäckig geweigert, mit einem Geistlichen zu sprechen, obwohl das das erste gewesen war, was sie ihm angeboten hatten, kaum daß er wieder richtig zu sich gekommen war. Schließlich war das hier ein kirchlich verwaltetes Krankenhaus. Das war das zweite gewesen, was sie ihm gesagt hatten.

»Sind Sie hier, um meine Depressionen zu pflegen oder um mich aufzuheitern?« fragte Brenner. Er lächelte. »Nein, keine Sorge – das wird schon wieder. Es geht eben nur … langsam. Man ist ziemlich hilflos, wenn man nichts sehen kann. Und man kommt auf die seltsamsten Gedanken.«

»Seltsame Gedanken?«

»Nichts Bestimmtes«, antwortete Brenner ausweichend. Es tat ihm bereits leid, daß er überhaupt von demThema angefangen hatte. »Der ganze sinnlose Kram eben, der einem durch den Kopf geht, wenn man ans Bett gefesselt daliegt und vor Langeweile fast stirbt.«

»Bekommen Sie keinen Besuch?«

»Wer sollte mich schon besuchen?« antwortete Brenner. Es hatte nicht wehleidig klingen sollen, aber er hörte selbst, daß genau das der Fall war.

»Keine Verwandten, Freunde … Kollegen?«

»Doch«, antwortete er, hastig und eindeutig im Tonfall einer Verteidigung. »Aber ich wollte nicht, daß man sie benachrichtigt. «

»Warum nicht?«

»Meine Mutter ist fast siebzig und seit zehn Jahren herzkrank«, antwortete Brenner. »Ich wollte nicht, daß sie sich unnötig aufregt. Und mein Vater ist schon lange tot.«

Johannes hatte seinen Tonfall wohl richtig gedeutet und ließ die Frage nach Freunden und Kollegen diskret fallen. Für einige Augenblicke wurde es still; auf eine sehr ungute, bedrohliche Art. Die Dunkelheit schien näher an ihn heranzukriechen, und Brenner fühlte sich sehr allein. Johannes hatte es nicht gewußt und ganz sicher nicht beabsichtigt, aber seine Frage hatte eine Tür in Brenners Gedächtnis geöffnet, die er bisher sorgsam verschlossen gehalten hatte. Er wollte nicht an seine Familie denken, auch nicht an Freunde, die er praktisch nicht hatte, und erst recht nicht an seine Kollegen, mit denen er – wenn überhaupt – in einer Art zähneknirschendem Burgfrieden lebte. Natürlich hatte er daran gedacht – ebenso wie an das Sterben, seinen Unfall, das Feuer … Drei Tage waren eine lange Zeit, wenn man nichts anderes zu tun hatte, als dazuliegen und zu denken.

»Möchten Sie darüber reden?« fragte Johannes nach einer Weile.

»Über meine Familie?«

Er konnte das Kopfschütteln des Paters hören. »Ihren Unfall. Manchmal erleichtert es, über die Dinge zu reden.«

Er konnte also doch nicht aus seiner Haut, dachte Brenner. Einmal Seelsorger, immer Seelsorger, selbst wenn man nur mal eben auf dem Nachhauseweg bei einem Patienten vorbeisah, um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten. Aus irgendeinem Grund wirkte dieser Gedanke jedoch beruhigend auf ihn.

»Ich kann mich kaum erinnern«, sagte er. »Es muß ziemlich schlimm gewesen sein, aber … « Er suchte einen Moment nach Worten und rettete sich schließlich in ein Achselzucken. »lm

Grunde weiß ich nicht mehr darüber als das, was mir die Polizei erzählt hat.«

Das war eindeutig nicht die Wahrheit. Er erinnerte sich an eine Menge, aber er konnte nicht genau sagen, was davon wirklich geschehen war und was nicht. Einiges davon war so bizarr, daß es nur Einbildung sein konnte. Es war mit seinem Gedächtnis wie mit seinem Augenlicht – sie hatten ihm gesagt, daß es zurückkehren würde, aber es war ein langsamer Prozeß, voller Qual und Ungewißheit. Und es gab noch einen Unterschied: Er sehnte es nicht annähernd so sehr zurück wie sein Augenlicht. Vielleicht überhaupt nicht.

»Es heißt, Sie hätten großes Glück gehabt.« Johannes schien zumindest eine menschliche Schwäche zu haben – er war neugierig.

Brenner lächelte beinahe gegen seinen Willen. »Fünfunddreißig Stufen kopfüber eine Steintreppe hinunterstürzen und sich dabei nicht einen einzigen Knochen zu brechen ist ziemliches Glück, denke ich«, sagte er. »Jeder Stuntman wäre neidisch darauf – jedenfalls hat man es mir so erzählt.«