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»Sonst wären Sie längst nicht mehr hier«, knurrte Schneider. Er hatte diesen Eid vor Jahren geleistet, als Sohn einer konservativ-christlichen Familie und eingedenk der Vorteile, die diese Verbindung brachte, wenn auch getragen von der Überzeugung, das Richtige zu tun. Bis vor dreiTagen dieser grauhaarige Alte gekommen war, um ihn einzufordern. Allerdings hätte der Mann von seinem Auftreten her genausogut vom Geheimdienst sein können – oder von der CIA.
Alexander hatte sich inzwischen wieder völlig in der Gewalt. »Sie retten Ihrem Patienten mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben«, sagte er. »Und vielen anderen Menschen möglicherweise auch.«
»Ach!« Schneider machte eine ärgerliche Handbewegung, aber er hatte sich verschätzt. Seine Hand stieß gegen das Telefon und fegte es halbwegs vomTisch. Er griff gedankenschnell zu und fing den Apparat auf, aber mit dieser Aktion nahm er seinen Worten natürlich jeden Beiklang von gerechter Empörung. Er wirkte jetzt einfach nur komisch. Trotzdem fuhr er fort: »Der Kerl ist vollkommen gesund! Er hat eine harmlose Fleischwunde in der Schulter und ein paar Prellungen, das ist alles. Keine Spur von Lebensgefahr. Er gehört nicht einmal ins Krankenhaus – geschweige denn auf die Intensivstation! «
»Vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet vielleicht nicht«, gestand Alexander lächelnd, »aber es gibt – «
»– mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen läßt«, vollendete Schneider in bewußt zynischemTon.
»So ungefähr.« Alexander nickte. »Ich hätte es anders ausgedrückt, aber es trifft den Kern der Sache, ja.«
Schneider starrte den grauhaarigen Mann geschlagene fünf Sekunden lang beinahe haßerfüllt an, aber er beherrschte sich und schluckte seinen Zorn herunter – obwohl er dabei das Gefühl hatte, tatsächlich etwas Materielles herunterschlucken zu müssen; einen stacheligen, bitteren Ball, der einen schlechten Geschmack in seinem Mund und eine Reihe kleiner, blutender Wunden in seinem Stolz hinterließ. Und der schwer wie ein Stein in seinem Magen lastete.
Trotzdem; er versuchte es: » Es ist nicht so, daß ich Ihnen mit Absicht Schwierigkeiten bereiten will, Monsignore.« Er benutzte dieses Wort absichtlich und hielt Alexander dabei scharf im Auge. Da er – nach drei Tagen, zum Teufel! – immer noch nicht wußte, mit wem er es eigentlich zu tun hatte, umging er die direkte Anrede normalerweise, so gut es ging. Wenn er es doch tat, wählte er jedesmal eine andere: Hochwürden, Exzellenz, Vater … die Reaktion des Mannes war stets die gleiche. Er tat Schneider nicht den Gefallen, sich zu verraten. Allerdings verriet das belustigte Glitzern in seinen Augen Schneider etwas anderes: nämlich daß er keineswegs das Gefühl hatte, Schneider bereite ihm irgendwelche Schwierigkeiten. »Es würde mir nur leichter fallen, Ihnen zu helfen, wenn ich verstehen würde, worum es überhaupt geht.«
»Das kann ich Ihnen nicht erklären«, antwortete Alexander. »Bitte verstehen Sie mich richtig. Es ist nicht so, daß ich es nicht will. Ich kann es nicht. Aber ich versichere Ihnen, es handelt sich um eine Angelegenheit von kirchlichem Belang. Und mit möglicherweise weittragenden Konsequenzen.« Schneider ging zum Angriff über. »Hochwürden, verzeihen Sie, aber das hier ist ein Krankenhaus. Wir kümmern uns um das leibliche Wohl der Menschen, nicht um das seelische.« »Das eine ist nicht immer von dem anderen zu trennen.«
Diesmal war es Alexander, der Schneider unterbrach, aber
Schneider ließ den Einwand nicht gelten.
»Möglicherweise. Aber ich weigere mich, noch lange tatenlos dabei zuzusehen, wie Sie diesem Mann etwas antun, mit dem er vielleicht nie wieder fertig wird. Sie reden von seinem Seelenheil? Ist Ihnen eigentlich bewußt, was wir seiner Psyche antun?«
»Durchaus«, sagte Alexander so gelassen, daß es Schneider schauderte. »Und wenn es das ist, was Sie hören wollen: diese Schuld werde ich tragen müssen. Hier steht mehr auf dem Spiel als das Wohl eines Menschen. «
Schneider war nicht ganz klar, von wessen Wohl Alexander sprach – seinem oder dem Brenners. Es spielte auch keine Rolle. »Ich weigere mich, diese Art der Rechnung mitzumachen«, sagte er. »Ein Menschenleben gegen hundert? Opfern wir tausend, um eine Million zu retten? Eine Million für zehn Milliarden? Werfen wir doch gleich eine Wasserstoffbombe auf Neu Delhi, um die Pest einzudämmen, die dort wütet. Auf lange Sicht würde das die Anzahl derTodesopfer verringern.«
Alexanders Blick machte klar, daß er nicht vorhatte, sich auf diese Diskussion einzulassen. Es war auch nicht das erste Mal, daß sie sie führten. Ihre Gespräche drehten sich seit drei Tagen im Kreis.
Das Telefon klingelte und enthob Schneider so der Verlegenheit, weitersprechen zu müssen und so vielleicht noch mehr Unsinn zu reden. Er hob ab, lauschte einen Moment in den Hörer und fragte dann: »Sind Sie sicher? Der gleiche Mann?«
Alexander legte fragend den Kopf schräg, aber Schneider tat so, als bemerke er es nicht. Er tat ihm auch nicht den Gefallen, auf die Mithörtaste zu drücken. »Also gut«, sagte er nach einigen Sekunden. »Unternehmen Sie nichts, aber rufen Sie die Polizei. «
»Warten Sie«, sagte Alexander.
»Einen Moment.« Schneider ließ den Hörer sinken, legte die linke Hand auf die Sprechmuschel und sah Alexander bewußt unfreundlich an. »ja?«
»Wieder dieser Pater?« fragte Alexander in ungewohnt sachlichemTon.
»Jedenfalls behauptet er, einer zu sein«, antwortete Schneider. »Die Polizei soll sich darum kümmern.«
»Nein.« Alexander stand auf, und während er diese kurze Bewegung vollzog, ging eine erstaunliche Veränderung mit ihm vonstatten. Ganz plötzlich war er kein alter, stets freundlich lächelnder Mann mehr. Seine Bewegungen und sein Tonfall strahlten Autorität aus. »Keine Polizei! Ich kümmere mich darum. « Er ließ Schneider keine Gelegenheit zu widersprechen, sondern verließ mit schnellen Schritten das Büro, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Schneider hob den Telefonhörer wieder ans Ohr und stand gleichzeitig auf. »Also gut, keine Polizei«, sagte er. »Aber kommen Sie nach oben, zur Intensivstation. Und … bringen Sie den Pfleger mit, der Bereitschaft hat.«
Aus dem dumpfen, süßlich-warmen Dunstkreis eines Fiebertraumes glitt er hinüber in etwas, von dem er nicht wußte, ob es nun das Wachen war oder nur ein anderer, vielleicht schlimmerer Alpdruck. Wärme umgab ihn, der harzige Geruch von brennendem Holz, der aus irgendeinem ihm selbst nicht ganz verständlichen Grund nicht in das Bild passen wollte, und dunkelrot flackerndes Licht; möglicherweise nur eine Assoziation zu dem Fackelgeruch, vielleicht aber auch real. Er lag auf dem Rücken, und obgleich er viel zu matt war, um sich bewegen zu wollen, hatte er das Gefühl, an Händen und Füßen gebunden zu sein. Aber wer sollte ihn fesseln?
Und warum?
Er versuchte die Augen zu öffnen. Im ersten Moment dachte er, es ginge nicht, dann wurde ihm klar, daß sich seine Lider gehorsam gehoben hatten; er konnte nicht richtig sehen. Der rote Schimmer, der durch seine geschlossenen Lider gedrungen war, war auch jetzt nicht sehr viel heller. Etwas stimmte nicht mit seinen Augen – oder er lag tatsächlich in einem fast völlig dunklen Raum. Irgendwo waren Geräusche: ein samtigwarmes Rascheln, Stoff, vielleicht ein Kleidungsstück, vielleicht eine Decke, die über den Boden geschleift wurde, Stimmen, die in gehetztem Flüsterton sprachen, ohne daß er die Worte verstehen konnte. Es war warm.
Obwohl alles an diesem Traum – und es mußte ein Traum sein, denn hinter der Schwärze, die seine Erinnerungen verschluckt hatte, lauerte noch etwas anderes, etwas Gräßliches und ungemein Schlimmes, an das er sich vielleicht nur nicht erinnerte, weil er es nicht wollte – , obwohl also alles an diesem Traum dazu angetan war, ihn zu ängstigen, erfüllte er ihn zugleich mit einem Gefühl von Beschütztsein und Wärme, vielleicht, weil er die älteste aller Erinnerungen mit sich brachte: eine rote, warme Geborgenheit, in der beruhigende Geräusche und eine schützende Umarmung sich vereinten.
Aber dieses Gefühl mochte täuschen. Da war immer noch das dunkle Etwas hinter seiner Erinnerung, das allmählich Substanz, aber noch keine Form gewann. Etwas war geschehen. Etwas war ihm angetan worden.
Diese Erkenntnis allein – so sehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte – reichte aus, ihn ein Stück weiter über die Grenzlinie zwischen Schlaf und Wachen rutschen zu lassen. Geborgenheit und Wärme zogen sich zurück wie die Wellen einer warmen Brandung, und der Strand, der darunter zum Vorschein kam, war voller spitzer Steine und Scherben. Seine Hände und Füße schmerzten, zuerst sacht, dann immer heftiger und schließlich unerträglich, und zugleich gewannen auch die Stimmen weiter an Deutlichkeit. Er konnte die Worte jetzt verstehen
»Früher oder später müssen wir es ohnehin tun. Wir können ihn nicht ewig hier gefangenhalten.«
»Aber es ist zu seinem eigenen Schutz! « »Schutz? Wovor? Das ist lächerlich! « »Vielleicht vor sich selbst.«
–aber sie ergaben keinen Sinn. Trotzdem war etwas Bedrohliches darin. Sie enthielten eine Wahrheit, die er noch nicht verstand, aber deren Bedeutung er bereits zu erahnen begann. Nicht, was geschehen war – oder würde – , aber was es bedeutete. Vielleicht war die Schwärze in seiner Erinnerung nicht etwas, was geschehen war, sondern etwas, das noch kam.
»Er ist wach. Gebt acht, was ihr redet.«
Das schleifende Geräusch wurde lauter. Schritte näherten sich ihm, und dann erschien eine Gestalt in der rötlichen Dämmerung, die seine Welt erfüllte. Im ersten Moment verspürte er Erleichterung, als er das Gesicht als das eines Freundes identifizierte. Aber dann sah er noch einmal hin, und als er den Ausdruck in seinen Augen sah und zu begreifen begann, was er bedeutete, da begann er zu schreien …
Sie hatten aufgehört, Tote zu bringen, aber das machte es nicht besser. Der letzte Wagen war vor einer Stunde gekommen, vielleicht anderthalb – obwohl keine Minute verging, in der er nicht mindestens einmal auf die Uhr sah, hatte er zugleich jedes Zeitgefühl verloren. Sein subjektives Empfinden für das Verstreichen der Zeit schien irgendwie gespalten worden zu sein: auf der einen Seite zählte er die Sekunden bis zum Ende seiner Wache, aber gleichzeitig war es ihm auch nicht möglich zu sagen, was vor einer halben Stunde gewesen war oder vor drei oder vor zehn Minuten. Der Alptraum hatte vor zweiTagen begonnen, und seither hatte Weichsler jede nur vorstellbare Facette des Schreckens und Entsetzens kennengelernt – und eine ganze Reihe bisher für ihn unvorstellbarer dazu.
Dabei war Weichsler alles andere als zart besaitet. Niemand, der in der Sondereinheit Dienst tat, der Weichsler und seine Kameraden angehörten, war das, und bis zu dem Moment vor zwei Tagen, an dem er von der Ladepritsche des Lastwagens gesprungen war und gesehen hatte, was sie wirklich erwartete, war er sogar stolz darauf gewesen. Seither hatte sich eine Menge geändert. Nicht nur Weichslers Einstellung zum Sterben und Tod, sondern auch die zum Leben.
Das Schlimme war noch nicht einmal der Anblick der Toten. Daran hatte er sich tatsächlich gewöhnt, und das schon vor Jahren. Es waren die Säcke. Schwarze, mit einem Kunststoffreißverschluß versehene Säcke aus einem Material, das unangenehm anzufassen war und immer feucht aussah, und es waren die Geräusche. Vor allem sie.
Weichsler zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an – es war verboten, aber niemand scherte sich auch nur einen Dreck darum – und sog den Dunst so tief in die Lungen, daß ihm schwindlig wurde. Der Rauch war zu heiß, und er hinterließ einen fauligen Geschmack auf seiner Zunge. Weichsler verzog angeekelt das Gesicht, aber er widerstand der Versuchung, die Zigarette zu Boden zu werfen und auszutreten. Es lag nicht an der Zigarette. Alles, was er seit zwei Tagen zu sich nahm, schien irgendwie faulig zu schmecken.
Wieder sah er auf die Uhr. Es war anderthalb Minuten später als gerade, als er es das letzte Mal getan hatte – drei Minuten nach vier. Noch zwei Stunden, bis er abgelöst wurde. Drei, bis die Sonne aufging. Weichsler verzog das Gesicht. Wahrscheinlich würde er auch heute nicht schlafen können.
Hinter ihm raschelte etwas. Das heißt: rascheln war nicht die richtige Bezeichnung. Es war eher ein Geräusch, wie es dünne Aluminiumfolie verursachen würde, die man mit der Hand zerknüllte – oder ein schwarzer Leichensack, in dem sich etwas bewegte …
Weichsler unterdrückte den Impuls, auf der Stelle herumzufahren, aber er konnte nicht verhindern, daß sich seine Hand fester um den Lauf der Maschinenpistole schloß, während er sich bewußt langsam umdrehte. EinTeil von ihm wußte ganz genau, daß es eine Erklärung für die Geräusche gab, aber da war noch eine andere, rationalen Argumenten nicht zugängliche Stimme in seinem Kopf, und diese Stimme sagte etwas ganz anderes.
Das Rascheln hatte aufgehört. Vielleicht war es dagewesen, vielleicht auch nicht – es spielte keine Rolle. Für einen Moment sah er überall huschende Schatten, Reißverschlüsse, die von innen aufgezogen wurden, verkrümmte Hände mit blaugrauer, ausgetrockneter Haut, die sich mit abgehackten Bewegungen aus den schwarzen Kunststoffbeuteln herausarbeiteten und
»Schluß! «
Der Klang seiner eigenen Stimme erschien ihm fremd, und das Echo, das sie in der großen, kaum beleuchteten Turnhalle hervorrief, wirkte irgendwie bedrohlich; als wären es nicht nur seine eigenen Worte, die zurückkehrten, sondern als hätten sie … etwas mitgebracht. Trotzdem beruhigte es ihn. Er war lange genug daran gewöhnt, Befehlen zu gehorchen – sogar, wenn sie von ihm selber kamen. Weichsler nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarette, blies den faulig schmeckenden Qualm so weit von sich, wie er konnte, und trat die Zigarette schließlich doch aus, bevor er mit langsamen Schritten zwischen den in schnurgeraden Reihen aufgestellten Feldbetten entlang zu gehen begann. Es waren sehr viele Feldbetten, in sehr vielen Reihen. Weichsler wußte nicht, wie viele genau: Am erstenTag hatte er sie gezählt, und da waren es dreihundert gewesen, aber danach hatte er damit aufgehört. Vielleicht waren es jetzt schon fünfhundert, vielleicht auch mehr – es spielte keine Rolle. Es waren auf jeden Fall zu viele. Wieder hörte er ein Geräusch, aber diesmal war es nicht das eingebildete Kratzen einer Zombiehand, die sich aus ihrem Plastikkokon zu befreien versuchte, sondern ein Laut, den er vielleicht noch mehr fürchtete. Draußen fuhr ein Lastwagen vor, Türen wurden geschlagen, dann das typische Klappern, mit dem die Ladeklappe heruntergelassen wurde. Er hatte zu früh aufgeatmet. Es war noch nicht vorbei. Sie brachten wieder Tote. Weichsler verzog erneut das Gesicht, machte auf der Stelle kehrt und ging zur Tür. Er hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als sie von außen geöffnet wurde, und für einen Moment blendete ihn grellweißes Licht. Die Scheinwerfer des Lastwagens waren genau auf die Tür gerichtet. Weichsler ging schneller, erreichte die Tür und betätigte den Lichtschalter, ehe er sich dem Schatten zuwandte, der in dem hell erleuchteten Rahmen aufgetaucht war. Der Soldat in ihm war offensichtlich stärker als der total verunsicherte Mensch, denn er erkannte erst die Rangabzeichen und dann das Gesicht seines Gegenübers: Oberleut nant Nehrig. Ausgerechnet. Von allen Offizieren der Einheit mochte Wechsler ihn am allerwenigsten. Und daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte, machte es auch nicht unbedingt besser. Nehrig brauchte offensichtlich eine Sekunde, um sich zu orientieren, denn zunächst blinzelte er irritiert in das weiße Neonlicht, das Reihe um Reihe unter der Decke derTurnhalle aufflackerte. Dann nickte er Weichsler zu, salutierte nachlässig und gab mit dem zweiten Teil derselben Bewegung jemandem draußen auf dem Schulhof einen Wink. Erst dann trat er endgültig ein. »Leutnant Weichsler. Alles in Ordnung?« Was soll wohl nicht in Ordnung sein? dachte Weichsler verärgert. Glaubst du, sie stehen auf und laufen davon, wenn ich nicht hinsehe? Natürlich sprach er das nicht aus – wenn auch im Grunde weniger aus Respekt vor seinen Vorgesetzten, sondern vielmehr, weil der Gedanke etwas in ihm berührt und geweckt hatte, das ihn über die Maßen erschrecken würde, wenn er den Fehler beging, es laut auszusprechen. So nickte er nur ebenso knapp wie Nehrig gerade und sagte: »Melde: Alles in Ordnung, Herr Oberleutnant. « Aus irgendeinem Grund schien Nehrig diese förmliche Meldung zu verblüffen. Einen kurzen Moment lang sah er Weichsler beinahe konsterniert an, dann tat er etwas für ihn höchst Seltenes: er lächelte. »Okay, vergessen wir die Förmlichkeiten«, sagte er. »Gab's irgend etwas?« »Nein.« Weichsler schüttelte den Kopf. »Alles ruhig.« »Und mörderisch langweilig, nehme ich an«, fügte Nehrig hinzu. »Wir bringen Ihnen noch ein paar Gäste. Sie haben doch noch Betten frei?« »Zwei oder drei.« Weichsler machte eine Handbewegung über die Schulter zurück. »In der letzten Reihe.« »Das reicht.« Nehrig wiederholte seine Geste nach draußen. »Bringt sie rein.« Weichsler trat einen Schritt zur Seite, um den beiden Soldaten Platz zu machen, die Nehrigs Befehl folgten und einen weiteren schwarzen Kunststoffsack hereinschleppten. Den beiden folgten zwei weitere Männer, die einen offenbar sehr viel leichteren Sack trugen; eine sehr schlanke Frau, vermutete Weichsler, vielleicht ein Kind.
»Ganz hinten«, sagte Nehrig. »Letzte Reihe.«
Während sich die vier Soldaten mit ihrer schrecklichen Last weiterbewegten, starrte Nehrig einige Sekunden lang mit gerunzelter Stirn auf die Stelle neben der Tür, an der Weichsler die letzten Stunden gestanden und eine ihm unbekannte Anzahl von Toten bewacht hatte. Auf dem grüngestrichenen Betonboden lagen ungefähr fünfzehn ausgetretene Zigarettenstummel. Wahrscheinlich, dachte Weichsler, suchte er in Gedanken nach einer entsprechenden Formulierung, um ihn wegen dieses Verstoßes gegen die Dienstvorschrift zu rügen.
Weichsler erlebte binnen kurzem eine zweite Überraschung: Statt ihn anzublaffen, zog Nehrig plötzlich selbst eine Packung West aus der Jackentasche und hielt sie ihm hin. Weichsler griff schon aus reiner Verblüffung zu und beugte sich ein wenig vor, als Nehrig ihm Feuer gab. Seine MPi schlug mit einem leisen Klappern gegen denTürrahmen. Nehrig sah ganz automatisch hin und runzelte mißbilligend die Stirn. Weichslers Waffe hing griffbereit an seiner Seite, statt über der Schulter. Aber er sagte auch dazu nichts. Weichsler schulterte seine Waffe mit einer Bewegung, die eine Winzigkeit zu hastig ausfiel, während Nehrig sich selbst Feuer nahm und den Rauch mit sichtbarem Genuß in die Lungen sog. Weichsler empfand ein flüchtiges Aufwallen von vollkommen absurdem Neid. Seine Zigarette schmeckte immer noch irgendwie faulig.
»Seit wann sind Sie hier?« fragte Nehrig. Er sah Weichsler dabei nicht an, sondern verfolgte scheinbar konzentriert die vier Soldaten, die die beiden Leichensäcke zum anderen Ende derTurnhalle trugen.
»Heute nacht?« Weichsler sah vollkommen überflüssig auf die Uhr. »Seit Mitternacht.«