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sich ihm zuwandte. »Scheiß-Job, was?«
»Es geht«, antwortete Weichsler ausweichend.
»Draußen ist es schlimmer«, pflichtete ihm Nehrig bei, und obwohl Weichsler zustimmend nickte, wußte er doch, daß das nicht stimmte. Vor zweiTagen war er froh gewesen, hierher zum Wachdienst abkommandiert worden zu sein statt zu einer der Einheiten, welche die umliegenden Ortschaften nach Leichen absuchten; aber mittlerweile war viel Zeit vergangen. Zeit zum Nachdenken, Zeit, die er zusammen mit diesen schweigenden Toten in einer Turnhalle oder zusammen mit seinen Alpträumen in einem zum Schlafsaal umfunktionierten Klassenraum verbracht hatte. Entschieden zu viel Zeit. Vermutlich war es eine grauenhafte Aufgabe, die umliegenden Ortschaften Haus für Haus, Etage um Etage und Zimmer um Zimmer nach weiteren Toten zu durchkämmen. Aber die Männer dort draußen hatten wenigstens was zu tun, und Weichsler war an einem Punkt, an dem ihm alles besser erschien, als in dieser kalten, zugigen Halle zu stehen und darauf zu warten, daß es Tag wurde. Die Toten waren nicht stumm. Sie machten Geräusche, und wenn er noch einen oder zwei weitere Tage hier verbrachte, würde er vermutlich anfangen, ihre Stimmen zu hören.
»Die beiden da waren die letzten«, sagte Nehrig nach einer Weile. »Ich glaube nicht, daß wir noch mehr finden. Gott sei Dank wirkt dieses Scheiß-Zeug nicht allzu lange.«
»Wie viele sind es?« fragte Weichsler. Er erschrak fast. Warum stellte er diese Frage? Er wollte es nicht wissen! Trotzdem nickte er, als Nehrig die Zigarette aus dem Mundwinkel nahm und ihn fragend ansah:
»Insgesamt? Eintausendzweihundertsiebzehn – mit den beiden da.«
»Großer Gott!« flüsterte Weichsler. Er hatte gewußt, daß die wirklichen Zahlen von denen abwichen, die die Medien verbreiteten, aber das …
»Ja, eine ganze Menge, nicht?« Nehrig schürzte die Lippen und fügte in vollkommen verändertem, hartem Ton hinzu:
»Und trotzdem noch einer zu wenig. Sie haben dieses Schwein immer noch nicht gefunden. Entweder hat es ihn in Atome zerblasen, oder er lebt noch.«
Weichsler mißfiel der Ton in Nehrigs Stimme. Er hätte ihn verstehen müssen – immerhin sprachen sie von dem Mann, der für denTod von eintausendzweihundert Männern, Frauen und Kindern verantwortlich war. Aber er war dem Tod in den letzten beidenTagen einfach zu nahe gewesen, um noch so zu empfinden.
»Sie werden ihn schon aufspüren«, antwortete er. »Wenn er noch lebt, finden sie ihn. Niemand zieht so ein Ding ab und kommt damit durch.«
Nehrig schnaubte. »Einen Scheiß werden sie! Offiziell war das Ganze ein Unfall,, schon vergessen? Der Verursacher ist tot, die Amerikaner hüllen sich in Schweigen, die Regierung zahlt den Hinterbliebenen eine großzügige Abfindung, und irgendein paar ho he Tiere in Bonn streichen eine großzügige Abfindung dafür ein, daß man in der Öffentlichkeit ihre Köpfe rollen läßt. So läuft das.«
Weichsler widersprach nicht – er hatte, weiß Gott, keine Lust, sich mit Nehrig ausgerechnet auf eine politische Diskussion einzulassen; schon gar nicht, wenn sie auf dem Niveau eines Stammtischgespräches stattfand – , aber er bezweifelte, daß es tatsächlich so laufen würde. Was er über Salid, den Terroristen, gesagt hatte, galt auch für diese ganze verdammte Geschichte: Niemand zog so ein Ding ab und kam damit durch. Nicht einmal die Amerikaner. Und keine verdammte Regierung der Welt.
Die Soldaten hatten ihre Last abgeladen und kamen zurück. Sie bewegten sich sehr schnell und schweigend, aber als Weichsler ihnen in die Gesichter sah, entdeckte er auf allen vier den gleichen Ausdruck: eine Art abgestumpfter Verbitterung, die ihn einen Moment lang daran zweifeln ließ, tatsächlich den schwereren Job bekommen zu haben. Aber diese Frage war vermutlich müßig: Jeder Job war der schwerere, wenn man ihn gerade tun mußte.
Die Soldaten sagten kein Wort, sondern blickten Nehrig nur fragend an. Nehrig machte eine ebenso wortlose Geste nach draußen, und die Soldaten gingen. Weichsler sah ihnen nach, bis sie in dem silberschwarzen Gemisch aus Dunkelheit und Regen verschwunden waren, das auf der anderen Seite der Tür lastete. Neben dem Ausdruck von Entsetzen hatten die vier Männer noch etwas gemein: sie alle waren noch sehr jung. Keiner älter als zwanzig, schätzte Weichsler. Vermutlich Wehrpflichtige. Er fragte sich, ob sie das, was sie hier erlebten, wohl jemals wieder vergessen würden. Aber auch diese Frage hatte allenfalls akademischen Wert. Die Frage war vielmehr, ob er es jemals wieder vergessen würde, und die Antwort darauf war eindeutig nein.
Erst nach einigen Sekunden fiel ihm auf, daß Nehrig keine Anstalten machte, ebenfalls zu gehen, sondern gemächlich an der Wand neben derTür lehnte und auf seiner Zigarette kaute. In dem fast schattenlosen weißen Neonlicht glich sein Gesicht selbst ein bißchen dem eines Zombies. Seine Haut wirkte unnatürlich bleich, und je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtete, schien sie einen bläulich-grünen Schimmer zu haben. Das einzige, was nicht zu diesem toten Aussehen paßte, waren die Augen. Ihr Blick irrte fast unstet durch den Raum, verharrte hier, verweilte einen Moment dort, tastete über dieses und jenes, als würde er etwas ganz Bestimmtes suchen … vielleicht befürchten?
Weichsler schüttelte den Gedanken ab. Nehrig war müde, körperlich erschöpft und im Innersten genauso fertig wie er und alle anderen hier, und das war alles, und das war auch schon schlimm genug, basta.
»Ganz schön unheimlich hier, wie?« sagte Nehrig unvermittelt. Er lächelte nervös, paffte an seiner Zigarette und stieß sich von der Wand ab. »Fängt man da nicht allmählich an, Gespenster zu sehen?«
Einen Moment lang überlegte Weichsler ernsthaft, worauf Nehrig mit dieser Frage hinauswollte. Vermutlich auf nichts. Andererseits …
»Nein«, sagte er. »Nur die Langeweile setzt einem zu. Und die Kälte.«
»ja, ist ein bißchen wie im Kühlhaus hier«, bestätigte Nehrig. »Aber ich fürchte, es muß sein. Wenn wir die Heizung aufdrehen, fangen unsere Freunde hier in ihren Ganzkörperparisern an zu stinken. Das würde Ihnen bestimmt noch weniger gefallen.«
Weichsler schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment herunter. Die Respektlosigkeit, mit der Nehrig über die Toten sprach, machte ihn wütend, weil sie so banal war und so unnötig.
Aber er sagte nichts von alldem, sondern fragte nur: »Warum bringt man sie nicht weg?« Eine Frage, die er sich ohnehin seit zweiTagen fast ununterbrochen stellte.
»Seit wann fragt ein Soldat nach dem Sinn seiner Befehle?« sagte Nehrig anstelle einer Antwort. Er grinste dabei, aber irgend etwas in seinen Augen strafte dieses Grinsen Lügen. Einen Moment später erlosch es dann auch, und er fuhr fort: »Ist schon alles organisiert. Morgen abend beginnt der Abtransport. Und bis dahin passen Sie gut auf, daß hier keiner aufsteht und wegläuft, ja?«
Weichsler blieb sehr ernst. Nehrigs Bemerkung amüsierte ihn nicht im geringsten, sondern gab dem bohrenden Schrecken in seinen Gedanken noch neue Nahrung. »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte er geradeheraus. Geräusche. Da waren die Geräusche gewesen, ein beständiges Knistern und Rascheln, als bewege sich in den schwarzen Plastiksäcken etwas, ununterbrochen und kriechend. Sie hatten ihm erklärt, warum das so war: Tote waren nicht still. Es gab Fäulnisprozesse, Gärung. Sie konnten Blähungen haben und rülpsen, und manchmal konnten sie sich tatsächlich bewegen, selbst nach Tagen noch. Aber das war die wissenschaftliche Erklärung, und die nutzte ihm im Moment herzlich wenig. Die Geräusche waren dagewesen, und sie waren noch da, selbst jetzt, auch in diesem Moment, auch wenn er sie im Augenblick nicht zu hören glaubte.
»Was?« Nehrig sah ihn mit wenig überzeugt gespieltem Unverständnis an.
»Fürchten Sie, es könnte tatsächlich passieren?« fragte Weichsler. »Ich meine, daß sie aufstehen und weglaufen?« Nehrig starrte ihn einen weiteren Moment lang mit diesmalnicht gespielter Überraschung an, dann begann er zu lachen. Nach kurzem Zögern stimmte Weichsler in dieses Lachen ein, aber es hatte ungefähr die Qualität eines Liedes, das man lauthals pfeift, während man nachts über einen Friedhof geht. Es hielt auch nicht sehr lange an.
»Nein, im Ernst«, sagte Nehrig. »Passen Sie auf. Erst vor einer Stunde haben sie ganz in der Nähe zwei Reporter aufgegriffen, die sich irgendwie durch die Absperrung gemogelt haben. Halten Sie also die Augen offen – und melden Sie alles Ungewöhnliche.«
Wenn es etwas gab, das hier und jetzt überflüssig war, dachte Weichsler, dann war es diese Bemerkung. Er hatte ohnehin Befehl, sich alle dreißig Minuten bei der Kommandostelle zu melden – die fünfzig Meter entfernt auf der anderen Seite des Schulhofes lag – , und er kam diesem Befehl peinlich genau nach.
»Und was soll ich tun, wenn hier ein … Journalist auftaucht?« fragte er betont. »Ihn erschießen?«
»Halten Sie nur die Augen offen«, antwortete Nehrig. »Das ist alles. Gute Nacht.«
Er zertrat seine Zigarette unter dem Stiefelabsatz und ging. Weichsler schloß dieTür hinter ihm, aber nicht ganz. Durch einen schmalen Spalt, der eine ebenso schmale, aber sehr unangenehme Linie eisiger Kälte auf seinem Gesicht und dem linken Auge hinterließ, sah er zu, wie Nehrig gebückt durch den Regen lief und in einen der beiden Laster einstieg, die noch immer mit laufendem Motor vor derTurnhalle standen.
Der Anblick hatte etwas sonderbar Bizarres. Die schweren Maschinen und die Welt, durch die sie sich bewegten, schienen plötzlich nicht mehr zusammenzupassen. Das Universum ringsum war erloschen. Es war die schwärzeste Stunde der
Nacht, und die Dunkelheit hatte sich wie ein Deckel über das Gelände der ehemaligen Grundschule gestülpt. Der Regen war so dicht, daß selbst die erleuchteten Fenster des Schulgebäudes drüben verschwunden waren. Das einzige Licht kam von den Scheinwerfern der beiden Wagen, die jetzt langsam zurücksetzten, um auf möglichst engem Raum zu wenden obwohl es auf dem Schulhof weiß Gott genug Platz gab. Mit ihren klobigen Formen, den gewaltigen Reifen und den beschlagenen rechteckigen Scheiben wirkten sie wie seltsame Stahltiere; und sie sahen uralt aus, wie die letzten Vertreter einer längst ausgestorbenen Spezies. Der Anblick hatte etwas Endgültiges. Als die beiden Wagen in den wehenden Regenschleiern verschwanden, schienen sich gleichsam auch die Tore der Zeit hinter ihnen zu schließen.
Verrückt. Und trotzdem war nichts Komisches oder gar Lächerliches an diesem Gedanken – ganz im Gegenteil. Er erschreckte ihn, heftiger und tiefer, als er sich selbst eingestehen wollte; als hätte er eine Art verborgener Wahrheit in ihm berührt, von deren Existenz er bisher nicht einmal etwas geahnt hatte.
Er wollte den Gedanken verjagen und sich gerade von der Tür abwenden, als er draußen eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Er war nicht ganz sicher – es ging zu schnell, und die Sicht war zu schlecht, um überhaupt etwas sicher erkennen zu können – , aber für einen kleinen Moment hatte er den Eindruck, eine … Gestalt inmitten der silbernen Regenschleier zu erkennen. Sie stand einfach da, ein hochgewachsener, schlanker Umriß in einem irgendwie sonderbaren Gewand, und blickte zu ihm herüber. Dann blinzelte er, und als er die Augen wieder öffnete, war die Erscheinung verschwunden.
Nein, dachte Weichsler. Niemand wäre so verrückt, bei diesem Wetter dort draußen zu stehen und ihn anzustarren; nicht einmal ein Reporter auf der Jagd nach einer Story. Er begann allmählich Gespenster zu sehen – kein Wunder nach den letzten beiden zurückliegenden Nächten.
Weichsler begriff, daß er dabei war, sich die sonderbarste Erfrierung aller Zeiten zuzuziehen, drückte dieTür ins Schloß und drehte sich herum. Sein Gesicht war taub vor Kälte, und das linke Auge tränte heftig. Er streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus und zog sie wieder zurück, ohne ihn berührt zu haben. Für die Zeit von Mitternacht bis zu Nehrigs Eintreffen hatte ihm die Notbeleuchtung ausgereicht, aber die beiden verbleibenden Stunden würde er die Lampen brennen lassen, auch wenn das weiße Neonlicht ihm normalerweise unangenehm war.
Weichsler griff in die Tasche, zog seine vorletzte Zigarette heraus und setzte sie in Brand. Der Rauch schmeckte noch schlechter als bisher, aber er sog ihn so tief in die Lungen, daß ihm schwindelig wurde.
Und dann, ganz plötzlich, wußte er, was der Ausdruck auf Nehrigs Gesicht bedeutet hatte. Er hatte ihn für Müdigkeit gehalten, aber das stimmte nicht.
Es war Angst.
Er erwachte mit dem lastenden Gefühl eines vergessenen, aber noch nicht verarbeiteten Alptraums und dem intensiven Gefühl, daß etwas anders geworden war. Es dauerte auch nur eine Sekunde, bis Brenner begriff, was: er konnte sehen.
Nicht besonders gut und nicht besonders viel, aber er konnte sehen, und das war eine Neuigkeit, die ihn die Nachwehen des Alptraums – es war eine völlig wirre Geschichte, die irgend etwas mit einem Mädchen zu tun hatte, aber auch mit Feuer, flüsternden Stimmen und dem Gesicht eines bärtigen Mannes auf der Stelle vergessen ließ. Brenner fuhr ein kleines Stück aus seinem Kissen hoch, erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, daß jede zu heftige Bewegung seine elektronischen Wachhunde auf der Stelle wieder dazu bringen würde, lautstark aufzuheulen, und sah sich aus so weit aufgerissenen Augen um, daß er wahrscheinlich einen entsetzlichen Anblick geboten hätte – wäre jemand dagewesen, um ihn zu sehen.
Es war niemand da. Wie meistens, wenn er erwachte, war er allein. Aber noch etwas hatte sich geändert – er empfand die Einsamkeit und Stille plötzlich nicht mehr als Bedrohung, sondern fühlte sich im Gegenteil sicherer, wenn auch auf eine sehr sonderbare Weise: die eines Gefangenen. Was er empfand, das war die Erleichterung eines Kerkersträflings aus vergangenen Jahrhunderten, dem das Alleinsein der einzige Schutz vor seinen Kerkermeistern war, die doch nur kamen, um ihn zu quälen.
Brenner setzte sich ganz vorsichtig auf – er hatte gelernt, sich zu bewegen, ohne daß die High Tech-Bagage rings um sein Bett sofort losrandalierte – und versuchte dieses sonderbare Gefühl zu verdrängen, aber statt dessen wurde es eher stärker. Es war ein völlig absurdes Gefühl; so widersinnig, daß er darüber gelacht hätte, wäre es nicht zugleich so beängstigend gewesen. All diese Geräte und Apparaturen, der gesamte gewaltige Krankenhausapparat mit seinen Maschinen, Operationssälen, Röntgengeräten, Computern und Überwachungsanlagen, all die Arzte und Pfleger und Schwestern waren schließlich aus keinem anderen Grund hier, um ihn zu beschützen, und trotzdem fühlte er sich bedroht und gefesselt.
Ob es etwas mit seinem Traum zu tun hatte? Er versuchte sich genauer daran zu erinnern, aber wie meistens, wenn er mit klopfendem Herze n und einem schalen Geschmack im Mund aufwachte, ging es nicht. Die Bilder waren da, aber sie ließen sich einfach nicht zu einem sinnvollen Ablauf zusammenfügen.
Wahrscheinlich, weil es keinen gab, dachte er. Er hatte sich irgendwelches wirres Zeug zusammenphantasiert, wie in jeder der vergangenen Nächte, und etwas davon in die Welt des Wachens mitgenommen. Nachdem es seinem Körper trotz aller Anstrengung nicht gelungen war, ihn im Stich zu lassen, machte er jetzt offenbar gemeinsame Sache mit seinem Unterbewußtsein. So einfach war das.
Unendlich vorsichtig stemmte er sich weiter hoch, bis er sich auf die Ellbogen aufgerichtet hatte und einen etwas größeren Teil seines Zimmers überblicken konnte. Der graue Nebel war noch da, aber er hatte sich gelichtet. Brenner konnte jetzt tatsächlich einen billigen Tisch und drei Plastikstühle auf der anderen Seite des Zimmers erkennen und darüber ein schwarzes Rechteck: das abgedunkelte Fenster, dessen Abwesenheit ihm bisher solche Angst bereitet hatte. Daneben befand sich ein etwas kleinerer, verwaschener Fleck von hellerer Farbe – wahrscheinlich ein Bild, einer jener billigen Drucke, wie sie in Krankenhauszimmern der zweiten Klasse üblich waren. Und da war noch mehr.
Brenner stürzte jäh in einen Strudel von einander widersprechenden Emotionen und Gedanken. Das Gefühl, gefangen – eingekerkert – zu sein, war noch immer da, aber er empfand auch eine Erleichterung, die an Euphorie grenzte, und ein fast hysterisches Vergnügen an Dingen, die er in den letzten dreißig Jahren seines Lebens als selbstverständlich hingenommen hatte. Er spürte seinen Körper so intensiv wie niemals zuvor, jeden einzelnen Quadratzentimeter seiner Haut, jedes Haar, jede Nadel, die in ihm steckte, jeden Verband und jede Elektrode, die sie auf die eine oder andere Art an ihm befestigt hatten, und er spürte jetzt eigentlich zum erstenmal, wie viele Quellen unterschiedlich intensiver Schmerzen er in und an sich hatte. Aber selbst dieser Schmerz war zugleich beinahe wohltuend, denn er war da, und das allein war wichtig. Schmerz war etwas Schlimmes, aber nichts zu empfinden war schlimmer. Und zugleich sah er Dinge, die er vor dreiTagen noch nicht einmal registriert hätte, hätte man ihn mit der Nase darauf gestoßen. Er sah jedes winzige Stäubchen auf seinem Nachttisch, die mikroskopisch feinen Kratzer an dem verchromten Bettgestell, jede einzelne Faser der weißen Verbände, in denen seine Hände steckten.