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Die in seinem linken Fuß hielt nur ungefähr eine Sekunde, genau so lange nämlich, wie er brauchte, um das Bein aus dem Wagen zu schwingen und den Fuß auf den Boden zu setzen; genauer gesagt, in die beinahe knöcheltiefe Pfütze, über der er den Wagen zielsicher zum Stehen gebracht hatte. Das Wasser, das durch seinen Strumpf sickerte und in einem halben Dutzend winziger Katarakte in seinen Schuh stürzte, war so kalt, daß es weh tat. Brenner biß die Zähne zusammen und widerstand sogar der Versuchung, den Fuß wieder zurückzuziehen. Statt dessen suchte er sich wenigstens für den anderen Fuß einen trockenen Platz, stemmte sich mit weit durchgedrückten Armen und einer schon beinahe grotesken Bewegung völlig ins Freie und humpelte um den Kombi herum.
Um es kurz zu machen: Der Reservekanister glänzte durch die gleiche Eigenschaft wie sein Mantel, die Handschuhe und die Brieftasche – durch Abwesenheit. Gut. Mußte er das blöde Ding wenigstens nicht bis zur nächsten Tankstelle schleppen.
Astrid war aus dem Wagen gestiegen und wühlte in ihrem aufgeklappten Jeans-Rucksack herum, den sie auf der Motorhaube des Space abgestellt hatte. Brenner verbiß sich die Frage, was die Schnallen des Rucksacks dem Lack des Wagens antun mochten, drückte statt dessen die Tür zu und schloß ab. Astrid musterte ihn spöttisch aus den Augenwinkeln und begann etwas Graues, Unförmiges aus dem Rucksack herauszuzerren.
»Hast du Angst, daß jemand mit einem Benzinkanister kommt und ihn stiehlt?« fragte sie.
»Ich hab' ein Radio im Wagen«, knurrte Brenner. »Was tust du da?«
Das graue Monstrum entpuppte sich als Strickpullover, den Astrid bequem als Nachthemd hätte tragen können und der auch Brenner noch um schätzungsweise acht Nummern zu groß war. Sie zerrte ihn mit einem unwilligen Ruck vollends ins Freie, wobei sich allerdings auch ein Teil des restlichen Rucksackinhaltes selbständig machte und in den Schnee und auf die Motorhaube herabfiel. Brenner wußte jetzt, was sie dem Lack des Wagens antat.
»Hier. Zieh das an«, sagte sie, während sie sich nach ihren Habseligkeiten bückte.
Brenner zögerte nur einen wirklich winzigen Moment. Der Pullover sah zwar scheußlich aus, aber das Wärmereservoir seines Körpers war bereits aufgebraucht. Wenn er vor der Wahl stand, sich lächerlich zu machen oder sich eine Lungenentzündung zu holen, zog er ein paar Lacher auf seine Kosten immer noch vor.
Er schlüpfte in den Pullover und half dem Mädchen, seinen Rucksack wieder zu packen – und dabei die Motorhaube endgültig zu ruinieren – , dann marschierten sie los. Die Straße verlief leicht abschüssig gute hundert Meter weit bis zur nächsten Biegung und stieg dann ebenso sanft wieder an, bis sie nach zwei-oder dreihundert Metern hinter einer weiteren Biegung verschwand. Und der nächsten. Und der nächsten.
»Wohin, zumTeufel, führt diese beschissene Straße?« fragte Astrid, nachdem sie mindestens eine halbe Stunde lang schweigend nebeneinander hergelaufen waren. »Nach Sibirien?«
In ihrer Stimme war noch immer der gleiche aggressiveTon, der Brenner in den ersten zehn Minuten ihrer Bekanntschaft irritiert und ab der elften geärgert hatte. Brenner war vielleicht noch nicht alt genug, um ihr Vater zu sein, aber mit seinen fünfunddreißig Jahren entschieden zu alt, um sehr viel Verständnis für das Benehmen einer allerhöchstens sechzehnjährigen Möchtegern-Punkerin aufzubringen, die gerade ihre nachpubertäre Phase durchlebte – die, in der sie sich vergebens fragte, wieso eigentlich noch nicht die ganze Welt gemerkt hatte, daß sie als einzige wußte, wie der Hase lief.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte er nach einer Weile. Sein Fuß tat weh. Er hatte keine Lust zu reden, und die Kälte hatte das Maß des Erträglichen längst überschritten und wurde immer quälender. Ohne den Pullover wäre er längst erfroren. Trotzdem fragte er sich immer mehr, warum er sie überhaupt mitgenommen hatte und ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war.
Astrid unterstrich diese Zweifel noch, indem sie fragte: »Hast du keine Karte?«
»Doch«, antwortete Brenner knurrig. »Sogar eine ganz besonders gute. Den ADAC-Straßenatlas, neueste Ausgabe.« »Im Handschuhfach?«
»In der Seitentasche«, gestand Brenner. »Griffbereit, auf der Fahrerseite.«
Astrid lachte, und obwohl er sich über ihre Frage – genauer gesagt: den Umstand, daß sie ihn nötigte, schon wieder einen Fehler zuzugeben – ärgerte, löste dieses Lachen die verbissene Spannung ein wenig, zumal es Astrid war, die plötzlich und unerwartet einlenkte: »Irgendwann muß ja schließlich eine Stadt kommen. Oder wenigstens ein Schild. Hast du eine ungefähre Ahnung, wo wir sind?«
»Nicht die geringste«, gestand Brenner. »Ich habe einfach die erstbeste Ausfahrt genommen.« Er zog eine Grimasse. »Irgend jemand hat mir mal erzählt, man bräuchte nur die Autobahn zu verlassen, um früher oder später zu einerTankstelle zu kommen.«
»Wohl eher später.« Astrid zündete sich eine neue Zigarette an, und diesmal lehnte er nicht ab, als sie ihm die Packung hinhielt. Sie gab ihm im Gehen Feuer. »Bist du blank?« fragte sie plötzlich.
Brenner hatte den Rucksack übernommen, dessen Gewicht sich mittlerweile unangenehm bemerkbar machte. Er wechselte ihn von der rechten auf die linke Schulter, ehe er zwischen zwei Zügen antwortete: »Wie kommst du darauf?«
»Ganz einfach: Indem ich mich frage, wieso einer mit fast leerem Tank von einer Raststätte wegfährt, an der man so viel Benzin kaufen kann, wie man will.«
Er erzählte ihr die Geschichte seines vergessenen Mantelsund der Lawine unangenehmer Überraschungen, die er ausgelöst hatte, und Astrid nickte mehrmals hintereinander und sehr heftig. »Scheiß-Plastik«, sagte sie inbrünstig. »Dieses Zeug wird uns noch alle ruinieren.«
»Was für ein interessanter Satz«, sagte Brenner. »Wo hast du ihn gelesen?« Astrid sah ihn verwirrt an, und Brenner fuhr fort: »Ich nehme an, du kannst mir erklären, wie du das meinst. Wieso uns das >Scheiß-Plastik< alle noch ruinieren wird.«
Astrids Augen funkelten. »Ach, leck mich doch.«
»Im Moment nicht«, antwortete Brenner. »Zu kalt. Außerdem könnte jemand vorbeikommen, und ich will dich nicht in eine peinliche Situation bringen.«
»Was bist du eigentlich?« fragte Astrid. Sie schien unsicher zu sein, ob sie nun wütend werden sollte oder nicht. »Ein beschissener Bänker oder so was?«
»Ich wollte, ich wäre es«, antwortete Brenner. »Leider. Ich bin nur ein kleiner Versicherungsvertreter, der versucht,
den Leuten überflüssige Policen anzudrehen.« Er lachte. »Unter anderem, um sich ein beschissenes Kapitalistenauto leisten zu können, mit dem er dann Anhalterinnen wie dich mitnimmt.«
»Deine Geschäfte müssen ziemlich mies gehen«, konterte Astrid. »Ansonsten hättest du noch ein paar Mark übrig behalten, um zu tanken.« Sie schnippte ihre Zigarette in den Schnee neben der Straße, griff sofort in die Tasche, um sich eine neue anzuzünden, und steckte die Packung dann mit einem Achselzucken wieder ein. »Bist du wirklich Klinkenputzer?« fragte sie.
»Aquisiteur«, verbesserte sie Brenner in ganz bewußt übertrieben beleidigtem Ton. »Genaugenommen bin ich Regionalinspektor der – «
»Schon gut, ich glaube dir.« Astrid zog eine Grimasse und strich sich mit einer unbewußten Geste eine Strähne ihres schwarzen, schulterlangen Haares aus dem Gesicht. Wenn dieses Haar etwas gepflegter gewesen wäre, überlegte er, und möglicherweise sogar zu einer modischen Frisur geschnitten und wenn sie sich zu einer modernen Brille anstelle dieses JohnLennon-Drahtgestells durchgerungen hätte, hätte sie richtig hübsch sein können. »So geschwollen können nur Klinkenputzer daherquatschen.«
»Warum tust du das?« fragte Brenner. »Was?«
»Dich so aufführen. Ich meine. Du bist sauer auf mich, weil ich dich in diese Lage gebracht habe, okay. Aber das ist nicht der Grund, nicht wahr? Du warst schon so, als du eingestiegen bist.«
»Und wenn?«
»Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich frage mich nur, warum ein Mädchen wie du mitten im Winter durch diese gottverlassene Gegend trampt und jeden anpflaumt, der sie mitnimmt. Schlechte Erfahrungen gemacht?«
»Vielleicht.« Sie wich seinem Blick aus, und der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich wieder; vermutlich, ohne daß sie es selbst merkte. »Willst du darüber reden?«
»Warum sollte ich?«
»Ganz einfach: weil wir Zeithaben«, antwortete Brenner. Er deutete nach vorne. Die Straße verlief jetzt wieder bergab und auf eine Strecke von mindestens drei oder vier Kilometern praktisch schnurgerade. Die Schneedecke war unversehrt, so weit sie sehen konnten. Es würde ein verdammt langer Spaziergang werden.
Und ein sehr kalter.
Unter normalen Umständen gab es, abgesehen von einem gutgezielten Schwinger oder vergleichbaren Attacken, nicht viel, was McCormacks Magen in Aufruhr versetzen konnte. Aber zusammen mit Styper in irgendein Fahrzeug zu steigen, das sich mit Motorkraft bewegte, das war per se schon ein wagemutiger Akt. Zusammen mit ihm in irgend etwas zu sitzen, das flog, grenzte anTollkühnheit. Und neben Styper in einem Apache zu sitzen, nun, das waren Umstände, die ganz und gar nicht mehr normal waren.
McCormacks Magen hatte gerade aufgehört zu revoltieren, als Styper den Helikopter warnungslos in die nächste siebeneinhalbfach gedrehte Korkenzieherspirale warf – das war seine Version einer Rechtskurve – und dabei ein Indianergeheul anstimmte, das selbst Sitting Bull vor Neid hätte erblassen lassen. McCormack keuchte vor Schrecken, als er in die Sitzgurte geworfen wurde, und sein Magen sprang mit einem Satz bis in die Kehle hinauf und klopfte von innen gegen seine zusammengebissenen Zähne.
»Styper! « keuchte er. »Sind Sie wahnsinnig geworden?« »Captain?« Styper grinste so breit, daß seine Mundwinkel fast unter dem futuristisch anmutenden Helm verschwanden. Der Helikopter kippte zur anderen Seite und vollführte ein Manöver, das McCormack vorkam wie eine dreifach ineinandergeknotete Moebius-Schleife.
»Leutnant Styper! Hören Sie sofort mit dem Unsinn auf! « stöhnte McCormack. Er hätte Styper liebend gerne angeschrien, aber er wagte es nicht, aus Angst, bei dem bloßen Versuch sein Frühstück über das Instrumentenbord zu
verteilen. »Halten Sie die Maschine an! «
»Zu Befehl – Sir! «
McCormack begriff zu spät, daß er schon wieder einen Fehler gemacht hatte. Noch vor fünf Minuten hätte er seine rechte Hand darauf verwettet, daß das Äquivalent einer Gewaltbremsung mit kreischenden Reifen bei einem Fahrzeug, das sich an die universellen Regeln der Aerodynamik zu halten hatte, gar nicht möglich wäre. Styper bewies ihm das Gegenteil.
Der Motor des Apache-Helikopters heulte auf, sein kantiges Vorderteil senkte sich, bis die Maschine für eine endlos scheinende Sekunde nahezu senkrecht in der Luft stand, um dann – gerade, als McCormack felsenfest davon überzeugt war, daß sie im nächsten Sekundenbruchteil wie ein Stein zu stürzen beginnen würde – mit einem knirschenden Schlag wieder in die Waagerechte zurückzukippen. »Befehl ausgeführt, Sir«, grinste Styper. »Maschine angehalten.«
McCormack griff sich stöhnend an den Helm und schluckte ein paarmal, doch der saure Geschmack in seinem Mund wollte nicht weichen. Er beherrschte seinen Zorn. Schließlich hatte man ihn gewarnt. Und wenn schon nicht auf diese Warnungen, so hätte er spätestens auf die mitleidigen Blicke reagieren müssen, die die anderen Offiziere am Morgen ausgetauscht hatten, als sie sich zur Befehlsausgabe versammelten. Styper war dafür bekannt, total verrückt zu sein – um es vorsichtig auszudrücken. Die Liste der Beschwerden, die in den letzten beiden Jahren beim Militärkommandanten von Ramstein eingegangen waren und auf denen sein Name stand, war nicht sehr viel kürzer als das Telefonbuch von New York. Wäre er nicht zufällig auch noch einer der besten Hubschrauberpiloten gewesen, die die US-Air-Force jemals hervorgebracht hatte, wäre er vermutlich schon längst gefeuert, verhaftet und in die geschlossene Abteilung der nächsten Klapsmühle eingeliefert worden; in dieser Reihenfolge. Nirgendwo anders gehörte der Kerl hin, McCormacks Meinung nach.
»Eine phantastische Maschine, Sir«, fuhr Styper fort, als McCormack nicht antwortete. »Ich bin schon alle möglichen Typen geflogen, aber dieses Baby ist und bleibt mein Lieblingsspielzeug.« Seine Augen leuchteten wie die eines Kindes, das von der neuen Eisenbahn schwärmt. Was man über ihn sagte, war wahr, dachte McCormack. Der Kerl war total plemplem.
»Darf ich Sie daran erinnern, Leutnant«, sagte er scharf, »daß dieses Spielzeug Eigentum der Vereinigten Staaten von Amerika ist und einen Wert von gut und gerne zwanzig Millionen US-Dollar – «