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Ganz vorsichtig drehte er den Kopf und sah nach rechts. In dieser Richtung hörte seine Welt nach wie vor nach einem knappen Meter auf, aber sie verlor sich jetzt nicht mehr in grauem Nebel, in dem ein paar Lichter schwammen und manchmal verwaschene Umrisse, sondern endete vor einer mit weißer Rauhfaser tapezierten Wand, vor der ein verchromter Instrumentenwagen stand.
Dieser Anblick war ernüchternd. Das technische Aufgebot, das ihn überwachte, war nicht annähernd so gewaltig, wie er erwartet hatte. Auf dem Wagen standen drei schuhkartongroße Geräte, die mit einigen Kabeln untereinander und zwei oder drei weiteren Drähten mit ihm verbunden waren. Einer davon sah schon ein wenig schäbig aus. Brenner war fast ein wenig enttäuscht. Nach allem, was er durchgemacht hatte, hatte er eigentlich ein wenig mehr Aufwand verdient. Aber was erwartete er, dachte er spöttisch. Schließlich war er nur Kassenpatient.
Mutig geworden, stemmte er sich noch ein bißchen weiter hoch. Einer der verchromten Kästen reagierte mit einem ärgerlichen Fiepen darauf, und zwei oder drei rote Digitalanzeigen begannen hektisch zu flackern, aber der befürchtete Alarm blieb noch immer aus. Entweder waren die Dinger kaputt, oder er hatte sich in den letztenTagen eine ganze Menge eingebildet, nicht nur jede Menge Science-Fiction-Apparaturen neben seinem Bett, die es gar nicht gab. Er zog langsam die Beine an den Körper, setzte sich schließlich ganz auf und versuchte auch die Arme zu heben. Er löste damit keinen Alarm aus, aber es ging trotzdem nicht. Seine linke Schulter tat erbärmlich weh, und in seinem rechten Handrücken steckte eine Nadel, die jeden Versuch, die Hand zu bewegen, zu einem Abenteuer machte, das ihm die Tränen in die Augen steigen ließ. Er hatte noch nie Schmerzen ertragen können.
Trotzdem biß er die Zähne zusammen, ignorierte das Pochen und Brennen in seiner linken Schulter und versuchte sich die Nadel aus der Hand zu ziehen. Es blieb bei dem Versuch. Der Schmerz war so heftig, daß man kein bekennender Feigling wie er sein mußte, um sich darum zu drücken.
Er ließ die Nadel, wo sie war, zog aber nach einer Sekunde des Überlegens den dünnen Plastikschlauch ab, an dem sie saß.
Ein dünner Strom einer farblosen Flüssigkeit begann herauszutropfen und das Bettlaken dunkel zu färben. Brenner sah dem einen Moment lang zu, dann verknotete er den Schlauch aus einem absurden Ordnungsbedürfnis heraus, so daß das Tröpfeln aufhörte. Ein rascher Blick auf den Gerätewagen zeigte ihm, daß die Digitalziffern mittlerweile vor der elektronischen Variante einesTobsuchtsanfalles zu stehen schienen, aber der erwartete Alarm blieb immer noch aus. Vielleicht ertönte er in diesem Moment auch irgendwo in dem Bereitschaftszimmer auf der anderen Seite des Flures, aber niemand kam.
Brenner schlug vorsichtig die Decke zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und verzog das Gesicht, als seine bloßen Füße den eiskalten Kunststoffboden berührten. Seine Zehen begannen sich zu verkrampfen, so daß er die Füße anhob, bis er den Boden nur noch mit den Fersen berührte. Er wartete ein paar Sekunden, dann löste er mit der Linken ungeschickt die beiden Elektroden, die mit Heftpflaster über seinem Herzen und an der rechten Schläfe befestigt waren. Spätestens jetzt hätte eigentlich ein Notruf ausgelöst werden müssen, aber die verchromten Kästen neben seinem Bett zeigten noch immer keine Wirkung. Soweit die Segnungen derTechnik!
Ihm wurde ein wenig schwindlig, aber wem wäre es nicht schwindlig geworden, wenn er drei Tage reglos im Bett gelegen hätte und sich zum erstenmal aufsetzte? Brenner atmete zweimal tief ein und aus, dann senkte er tapfer beide Füße auf den eisigen Boden und belastete sie mit seinem Körpergewicht.
Wer hatte behauptet, daß es keine Wunder mehr gab? Er konnte nicht nur aus eigener Kraft stehen, die Krämpfe in seinen Zehen kamen auch nicht zurück, und er fühlte sich sogar kräftig genug für eine Expedition, die er auch unverzüglich in Angriff nahm. Das Ergebnis war verblüffend – er schaffte es nicht nur bis zum Fenster, er war auch hinterher keineswegs erschöpft, sondern fühlte sich im Gegenteil kräftiger als zuvor. Sein Körper kam ihm mit einem Mal vor wie eine Maschine, die bisher im Leerlauf vor sich hin getuckert hatte, aber nur einen kleinen Stups brauchte, um aufTouren zu kommen. Vielleicht, dichte er, war er hier einfach falsch. Statt in ein Krankenhaus Wäre er besser in eine Autowerkstatt gegangen, um das Standgas höher einstellen zu lassen.
Sein penken funktionierte noch immer auf diese seltsame, schizophrene Weise. Die aus Hysterie geborgene Albernheit überwog noch immer, aber darunter waren auch noch andere, viel ernstere Ebenen; es war, als hörte er verschiedene Stimmen, die in unterschiedlichenTonarten und über gänzlich verschiedene Dinge sprachen, und einige dieser Gespräche waren nicht besonders angenehm.
Da war eine Stimme, die ihm erklärte, daß er Blödsinn dachte und auf dem besten Wege war, sich noch ein paar Schrammen mehr einzuhandeln und seinen Krankenhausaufenthalt zu verlängern, und eine andere, die immer noch darauf beharrte, daß er hier gar nicht im Krankenhaus, sondern gefangen war; ohne ihm allerdings zu verraten, wo oder von wem. Oder gar warum.
Brenner zog eine Grimasse, erklärte dem durcheinanderplappernden Chor in seinem Kopf, er solle gefälligst die Klappe halten, utid wandte seine Konzentration wieder dem Fenster zu. Es war mit einem schwarzen Rollo verschlossen, das offenbar erst vor kurzer Zeit und in ziemlicher Hast angebracht worden war; eine billige Papierjalousette, die mittels einer einfachen Kordel hochgezogen werden konnte. Brenner versuchte es, aber mit nur einer Hand erwies sich das als gar nicht so einfach. Das Rollo verkantete sich, und er mußte zweimal von vorne beginnen, ehe er es weit genug aufbekam, um in gebückter Haltung aus dem Fenster sehen zu können.
Was er sah, war eine Enttäuschung. Es war wenig mehr als nichts – draußen herrschte noch immer winterliche Dunkelheit, in der selbst gesunde Augen nicht viel mehr als Schatten und gedrungene Umrisse erkannt hätten. Immerhin konnte er den Unterschied zwischen Himmel und Erde ausmachen: Die Dunkelheit über ihm war nicht ganz so intensiv wie die darunter, und et sah sogar ein paar Sterne; allerdings leuchteten sie nicht am Himmel, sondern unten. Straßenlaternen. Phantastisch. Noch gestern hätte er eine brennende Straßenlaterne wahrscheinlich nicht einmal dann gesehen, wenn er davorgelaufen wäre. Wie es aussah, blieben ihm Kosten für die Anschaffung eines Blindenhundes doch erspart.
Er stand eine ganze Weile so am Fenster und genoß einen Anblick, den er im Grunde gar nicht hatte, und während er es tat, konnte er spüren, wie seine Kräfte immer schneller zurückkehrten. Es hatte immer noch keinen Alarm gegeben, und weder die Schwester noch ein halbes Dutzend Pfleger mit weißen Turnschuhen und Zwangsjacken waren hereingekommen, um ihn ins Bett zurückzuschleifen. Vielleicht war der Diagnosecomputer – oder was immer das Ding neben seinem Bett sein mochte – tatsächlich ausgefallen.
Und vielleicht war das der Grund, weshalb er sich besser fühlte.
Der Gedanke störte ihn. Er konnte nicht genau lokalisieren, welche der verschiedenen Stimmen in seinem Kopf ihn ausgesprochen hatte, aber er hatte eindeutig etwas Lästerliches. Krankenhäuser machten Menschen gesund, nicht krank. Auch wenn einTeil seiner Phantasie offensichtlich beschlossen hatte, einen Ausflug ins frühkindliche Stadium zu machen, sollte er das wissen.
Vorsichtig – die linke Hand auf dem Fensterbrett, um sicheren Halt zu haben, sollten ihn so überraschend die Kräfte verlassen – drehte er sich wieder zu seinem Bett herum und machte ein paar Schritte darauf zu. Aber seine Kräfte ließen nicht nach, sondern kehrten im Gegenteil jetzt immer rascher zurück, und so machte er auf halbem Wege einen Neunzig-GradSchwenk nach links und steuerte die Tür an. Was er erlebte, mußte wohl so eine Art kleines Wunder sein. Kurz bevor er das letzte Mal die Augen geschlossen hatte, hatte er sich beinahe zu schwach gefühlt, um auch nur einen Arm zu heben; jetzt glaubte er sich durchaus in der Lage, sein Zimmer zu verlassen und der Nachtschwester einen Überraschungsbesuch abzustatten. Sie würde Augen machen!
Um ein Haar wäre seine Expedition an der Tür allerdings
schon zu Ende gewesen. Sie war nicht verschlossen, aber so schwergängig, daß seine Kraft beinahe nicht reichte – allzu weit schien es damit also doch noch nicht her zu sein. Aber der unerwartete Widerstand weckte auch seinen Trotz; Brenner stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, schob sie auf und trat auf den Korridor hinaus.
Er war leer und so dunkel, daß Brenner im ersten Moment glaubte, in einen finsterenTunnel geraten zu sein, ehe ihm klar wurde, daß ihm seine Augen erneut einen Streich spielten. Offensichtlich brannte nur die Nachtbeleuchtung: Vor ihm war nichts als Schwärze, in der ein halbes Dutzend zerfaserter Lichtinseln schwammen. Brenner zögerte ein paar Sekunden. Wahrscheinlich wäre es klüger, nicht weiter zu gehen. Ganz davon abgesehen, daß ihn seine auf so wundersame Weise zurückgekehrten Kräfte auch ebenso plötzlich wieder verlassen konnten, lief er ernsthaft Gefahr, sich zu verletzen, wenn er gegen ein Hindernis lief. Die plötzlichen Fortschritte, die seine Genesung machte, verführten ihn dazu, sich zu überschätzen.
Aber er war nicht in der Stimmung, vernünftig zu sein. Brenner lauschte. Für ein Krankenhaus erschien es ihm hier fast zu still, selbst in Anbetracht der frühen Morgenstunde. Alles, was er hörte, waren seine eigenen Atemzüge und leise Stimmen, deren blecherner Klang ihm verriet, daß sie aus einem Radio stammten; einem jener Radios, die hier nicht erlaubt waren, vermutete er. Brenner ließ die Türklinke los, überlegte noch einen Moment und wandte sich dann nach links. Einer der Lichtflecke war ein wenig größer als die anderen das Bereitschaftszimmer, in dem die Nachtschwester Wache hielt. Außerdem kamen die Stimmen von dort.
Vorsichtig tastete er sich darauf zu, wobei er die linke Hand mit gespreizten Fingern an der Wand entlangschleifen ließ und die rechte ein wenig vorstreckte, um nicht unversehens gegen ein Hindernis zu laufen. Trotzdem wäre er beinahe gestürzt. Seine Hand griff plötzlich ins Leere, und er machte einen ungeschickten Ausfallschritt nach links, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, wodurch er vollends in das Zimmer hineintrat, dessen Tür so unerwartet offen stand. Sein Fuß stieß gegen ein Hindernis, das mit einem lautstarken Scheppern davonrollte. Brenner setzte automatisch zu einer Entschuldigung an, aber noch bevor er das erste Wort aussprechen konnte, begriff er, daß es nichts zu entschuldigen gab. Das Zimmer war leer. Er konnte zwar außer dem hellen Rechteck des Fensters und einiger verschwommener Umrisse nichts erkennen, aber in den letztenTagen war sein Gehör sehr viel schärfer geworden, und vor ihm rührte sich nichts. Er hatte niemanden gestört, weil er in ein leerstehendes Zimmer gestolpert war.
Brenner tastete sich wieder auf den Flur hinaus und war diesmal aufmerksamer. Auch die nächste Tür stand offen, und diesmal spürte er schon, bevor er es betrat, daß das dahinterliegende Zimmer leer war. Das dritte danach übrigens auch. Das Krankenhaus war ganz offensichtlich nicht besonders gut belegt. Aus einem ihm selbst im ersten Moment nicht ganz verständlichen Grund beunruhigte ihn dieser Gedanke.
Er ging weiter und sparte es sich, auch die beiden übrigen Zimmer auf dieser Seite des Korridors zu inspizieren. Die Radiostimmen wurden lauter, und er sah jetzt ein bläuliches Flackern, das sich in das verwaschene Weiß der Lichtinsel vor ihm mischte. Ein Fernseher. Hatte die Schwester nicht behauptet, daß Fernsehempfänger in dieser Klinik nicht erlaubt seien? »Hallo?«
Seine eigene Stimme erschreckte ihn. Sie klang hier draußen vollkommen anders als drinnen in seinem Zimmer. Wie in einem vollkommen leeren Korridor? Vielleicht einem, der zu einem vollkommen leeren Krankenhaus gehörte?
Unsinn!
Um sich selbst zu beweisen, daß er einfach nur hysterisch war, rief er noch einmal und dann noch ein drittes Mal, aber er bekam keine Antwort. Wenn der helle Bereich hinter der Glasscheibe, die seine tastenden Finger berührten, tatsächlich das Schwesternzimmer war, dann war es leer.
Für einen Moment bewegten sich graue Nebelschwaden vor seinen Augen, und für einen noch kürzeren Moment flackerte Furcht in ihm hoch. Bevor sie sich zu einer ausgewachsenen Panik entwickeln konnte, trieben die Nebelfetzen jedoch schon wieder auseinander, und er konnte nicht nur ebenso gut, sondern weitaus besser sehen als noch vor einer Sekunde. Offensichtlich kehrte sein Sehvermögen nicht nur allmählich, sondern auch in Schüben zurück.
Es war das Schwesternzimmer. Hinter der Glassche ibe stand ein Schreibtisch, der bis auf einen tragbaren Fernseher, eine Kaffeetasse nebst der dazugehörigen Thermoskanne und einen überquellenden Aschenbecher so leer war, daß es schwerfiel, sich vorzustellen, daß jemals jemand daran gearbeitet hatte. Die Nachtschwester war nicht da. Die Stimmen, die er gehört hatte, kamen aus dem Fernseher.
Brenner spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, seine Erkundung fortzusetzen – ein rascher Blick über die Schulter zurück zeigte ihm nicht nur, daß er den Korridor jetzt fast bis zum anderen Ende erkennen konnte, sondern auch, daß seine Befürchtungen übertrieben gewesen waren. Es gab absolut nichts, worüber er hätte stolpern können. Der Korridor war so leer, wie man es von einem Krankenhausflur erwarten sollte, aber selten sah; keine Krankenbetten, keine Rollstühle, gar nichts. Auf der anderen Seite endete der Gang nach wenigen Schritten vor eine zweiflügeligen Milchglastür, auf der in Spiegelschrift: INTENSIVSTATION, ZUTRITT NUR FOR KRANKENHAUSPERSONAL zu lesen war.
Vermutlich war es keine gute Idee, weiterzugehen. Er war wohl gut beraten, wenn er den Bogen nicht überspannte. Aber er ging auch nicht in sein Zimmer zurück, sondern betrat nach kurzem Zögern den Bereitschaftsraum und ging um den Schreibtisch herum, um einen Blick auf den Fernsehschirm zu werfen.
Es war eine Enttäuschung, jedenfalls zuerst. Er konnte zwar jetzt besser sehen, aber auf dem Dreißig-Zentimeter-Monitor erkannte er trotzdem nichts als flimmernden Schnee, in dem sich formlose Schemen bewegten. Brenner wollte sich schon enttäuscht abwenden, aber dann erregte doch etwas daran seine Aufmerksamkeit. Nicht das Bild, das er sowieso nicht sehen konnte, aber das, was der ebenfalls unsichtbare Kommentator dazu sagte.
» … die Anzahl der Opfer mittlerweile auf dreihundertundzwölf angestiegen. Jedenfalls ist das die Zahl, die von offiziellen Stellen angegeben wird. Inoffizielle Stimmen reden jedoch von einer weitaus höheren Anzahl von Todesopfern und Vermißten. «
Dreihundert Todesopfer? Wie es schien, war das Leben draußen in der Welt in den dreiTagen, die er hier war, nicht stehengeblieben, für einige aber ziemlich abrupt zu Ende gegangen. Brenner war alles andere als ein sensationslüsterner Mensch; er verabscheute es normalerweise, sich am Unglück anderer zu ergötzen. Aber nach dreiTagen Einzelhaft, in der die Alpträume und seine Blindheit die einzige Abwechslung gewesen waren, war er regelrecht ausgehungert nach Neuigkeiten.
»Das gesamte Gebiet ist weiterhin weitläufig abgesperrt, so daß wir Ihnen leider immer noch keine Bilder vom Schauplatz der Katastrophe bieten können«, fuhr die Stimme aus dem Fernseher fort. »Wir sind jedoch mit einem Kamerateam vor Ort gewesen und haben versucht, einige Originaltöne von Mitgliedern der Rettungsmannschaften einzufangen, die heute morgen aus dem Sperrgebiet gekommen sind. «
Was mochte geschehen sein? dachte Brenner. Ein Flugzeugabsturz? Er war ein wenig beunruhigt. Er konnte immer noch nichts sehen, aber allein der Tenor der Worte, die er hörte, weckte in ihm den Verdacht, daß es sich diesmal nicht um einen Chemieunfall in Bangladesch oder an irgendeinem anderen weit entfernten Ende der Welt zu handeln schien, sondern um etwas, das näher lag. Er beugte sich weiter vor, blinzelte angestrengt
– und die flimmernden weißen und schwarzen Punkte auf dem Fernsehschirm gerannen zu einem Bild. Es war zu blaß und hatte zum Ausgleich dazu viel zu starke Konturen, was es zugleich unnatürlich wie auch sonderbar plastisch erscheinen ließ, aber es war eindeutig ein Bild, das er sehen konnte und das ihm etwas sagte.
Zum Beispiel, daß er denTenor der Nachrichten ganz richtig gedeutet hatte. Diesmal waren es nicht irgendwelche armen Hunde in Mexiko oder den Hochanden gewesen, die es erwischt hatte. Was er auf dem Monitor erkannte, das war ein Durcheinander von Menschen, Autos und Gebäuden, das im allerersten Moment aus reiner Bewegung zu bestehen schien, die sich weigerte, Form anzunehmen. Aber er sah sofort, daß die Aufnahme nicht via Satellit von den Kaiman-Inseln kam, sondern aus einer Entfernung von allerhöchstens wenigen hundert Kilometern, und möglicherweise nicht einmal das. Die Autos hatten deutsche Kennzeichen. Die Menschen wenigstens die meisten – waren so gekleidet wie die, die er vor ein paarTagen noch getroffen hatte, und die Stimmen, die er hörte, sprachen kein Kauderwelsch, sondern Hochdeutsch und Hessisch. Was immer passiert war, es war hier passiert. Kein Wunder, dachte er, daß die Journalisten den Sturm auf sein Krankenzimmer abgeblasen hatten. Sie hatten etwas viel Besseres als einen Mann, der einenTreppensturz überlebt hatte.
Und einen MG-Treffer in die Schulter, die Explosion eines kompletten Klosters, ein Hubschrauberduell und den Beschuß mit Bordraketen.
Der Gedanke blitzte so deutlich in seinem Kopf auf, daß er fast die Qualität einer Erinnerung hatte. Wäre er nicht einerseits so phantastisch und Brenner andererseits so von dem gebannt gewesen, was er auf dem Fernsehschirm sah, hätte er vielleicht sogar begriffen, daß er genau das war. So aber gestattete er ihm nicht, Realität zu werden, sondern konzentrierte sich ganz auf das, was ihm der Fernseher zeigte.
Das Kamerateam war nicht das einzige, das sich auf der überfüllten Straße drängte. Brenner identifizierte die Embleme von zwei, drei Privatsendern auf hochgehaltenen Kameras und Mikrophonen und fast am Rande des Aufnahmebereichs einen klobigen Übertragungswagen des ZDF. Die Menschen drängten sich auf dem Bürgersteig und in Hauseingängen, und sie wären wahrscheinlich auch auf die Straße selbst hinausgelaufen, hätten sie es gekonnt. Was sie daran hinderte, das war eine dicht geschlossene Reihe von Männern in grünen Uniformen, die er nicht genau identifizieren konnte, von denen er aber annahm, daß es sich um Einsatzkräfte der Polizei handelte.
Der Kommentator fuhr fort, von einer Katastrophe zu berichten, die er jedoch niemals beim Namen nannte. Wahrscheinlich, dachte Brenner säuerlich, beherrschte das Thema seit Stunden sämtliche Medien, und er war möglicherweise der einzige Mensch in diesem ganzen Land, der nicht wußte, was geschehen war. Immerhin bekam er mit, daß wohl nicht nur ein kleines Gebiet, sondern zwei komplette Ortschaften mit sämtlichen dazugehörigen Straßen und Feldwegen von Polizei-und Grenzschutzkräften abgeriegelt worden waren. Wenn es sich tatsächlich um einen Flugzeugabsturz handelte – wie er immer noch ganz instinktiv annahm – , was um alles in der Welt hatten sie dann an Bord gehabt? Eine scharfe Atombombe?
Er wollte sich schon abwenden, um entweder in sein Zimmer zurückzugehen oder die Intensivstation doch zu verlassen ganz sicher war er noch nicht – , als in das ohnehin unruhige Bild auf dem Monitor noch mehr Bewegung kam. Im allerersten Moment sah er praktisch nichts, nur ein allgemeines, quirlendes Gewusel, aus dem sein lädiertes Sehvermögen keine klaren Informationen herauszufiltern imstande war. Aber dann geschah dasselbe wie vorhin schon einmal, und diesmal war es beinahe unheimlich, vielleicht, weil er jetzt nicht mehr einfach zu überrascht war, um wirklich zu begreifen, was geschah: Von einer Sekunde auf die andere fügten sich die Informationsfetzen vor seinen Augen zu Bildern zusammen, so schnell und präzise, als hätte jemand einen Schalter in seinem Kopf umgelegt oder mit geübten Bewegungen eine letzte Feinjustierung vorgenommen. Das Unheimlichste war, daß der Effekt nur den Bildschirm betraf. Seine Augen fokussierten sich auf den Fernseher; alles, was ringsum war, blieb verschwommen und nebelhaft.
Die Absperrkette auf der Straße teilte sich, um einem kleinen Lastwagenkonvoi Platz zu machen. Zwei, drei, schließlich vier NATO-oliv lackierte klobige LKWs rumpelten zwischen den Männern hindurch. Ihre Ladeflächen waren unter gefleckten Planen verborgen, aber die des letzten war nicht ganz geschlossen, so daß die Kamera einen kurzen Blick darunter erhaschte. Die Männer, die darauf saßen, trugen keine Uniformen, wie er erwartet hatte. Sie sahen aus, als kämen sie direkt aus der Requisitenkammer von Industrial Light & Magic. Sie trugen weiße, den ganzen Körper umhüllende Anzüge, die nahtlos in Handschuhe, Stiefel und einen klobigen Helm übergingen. Ihre Gesichter verbargen sich hinter dunklen Scheiben. Die Männer trugen ABC-Schutzanzüge.
Sein eigener Gedanke von gerade schoß ihm noch einmal durch den Kopf, und plötzlich fand er ihn gar nicht mehr lustig. Mit ziemlicher Sicherheit befand sich in dem Gebiet, aus dem die Männer kamen, keine Atombombe, aber es mußte wohl etwas in dieser Preisklasse sein; vielleicht nicht ganz so groß, aber für die, die es betraf, von ebenso dramatischer Wirkung.
Die Bilder schlugen Brenner so sehr in ihren Bann, daß er die Stimme des Kommentators kaum noch hörte. Hin und her gerissen zwischen Furcht und einer nie gekannten, morbiden Faszination sah er zu, wie sich die kleine Kolonne im Schritttempo ihren Weg durch die Menschenmenge bahnte, wobei sie nicht besonders gut voran kam und zwei-oder dreimal sogar anhalten mußte, bis die Polizeibeamten die Menge wieder einigermaßen zurückgetrieben hatte. Er versuchte vergeblich, das zu deuten, was er sah. Die Menschenmenge am Straßenrand wirkte aufgebracht, aber nicht wirklich zornig. Irgend etwas sehr Beunruhigendes ging dort vor. Etwas, das
– vielleicht gar nicht real war.
Brenner blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und sah noch einmal auf den Monitor, auf dem die LKW-Kolonne mittlerweile vollends zum Stillstand gekommen war, belagert von Dutzenden von Männern und Frauen, die den Fahrern und den Männern auf den Ladeflächen etwas zuriefen. Einen Augenblick lang fragte er sich allen Ernstes, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte. Die Bilder waren faszinierend, und sie wirkten auf eine schwer greifbare Weise echt und bedrohlich, aber gerade das hätte ihn eigentlich warnen sollen.
Sie wirkten ein bißchen zu bedrohlich und fast ein bißchen zu echt. Die Wirklichkeit gehorchte selten der Dramaturgie eines Spielfilms – aber diese Bilder hier taten es.