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Theoretisch. Praktisch verfügte der Fernseher über keinerlei sichtbare Bedienungselemente, an denen er auf einen anderen Kanal umschalten konnte, und die Fernbedienung fand er nicht. Wahrscheinlich hatte die Schwester sie mitgenommen, als sie ihren Posten verließ. Trotzdem, das war die Erklärung. Ein Film. Eine Fiktion, mehr nicht.
Brenner atmete erleichtert auf und trat einen halben Schritt von der Tischplatte zurück. Und hätte ihm jemand in diesem Moment einen Eimer mit eiskaltem Wasser ins Gesicht geschüttet, dann wäre er kaum schlimmer schockiert gewesen.
Eine der Gestalten, die die Wagenkolonne umringten, hatte sich herumgedreht und das Gesicht der Kamera zugewandt, aber das war nur das, wonach es aussah. In Wirklichkeit blickte sie nicht in die Kamera, sondern direkt in Brenners Augen.
Er wußte einfach, daß es so war, mit der gleichen, ebenso grundlosen wie unerschütterlichen Sicherheit, mit der er das Gesicht wiedererkannte.
Es war Astrid.
Brenner schwankte. Es war nicht einfach nur ein Erinnern. Der Name und die Erinnerung tauchten gleichzeitig in seinen Gedanken auf, und beides traf ihn mit der gleichen Wucht; ein geradezu körperlich fühlbarer Faustschlag, der ihn von innen zwischen die Augen traf.
Astrid. Das Mädchen aus seinem Traum. Das Mädchen, nach dem der Pater ihn gefragt hatte. Das Mädchen, das vor seinen Augen zu Asche verbrannt war. Es war unmöglich. Sie war
nur eine Gestalt aus einem Traum, und wenn nicht das, dann war sie tot; und doch stand sie da, und sie sah nicht einfach nur in die Kamera, sondern sah ihn an. Sie wußte ganz genau, daß er hier war, hier in diesem Zimmer, in diesem Krankenhaus, von dem er selbst nicht einmal genau wußte, wo es war, vor diesem einen bestimmten Bildschirm.
Brenner spürte, wie die Hysterie sich wie dünnflüssigeTinte in seinen Gedanken auszubreiten begann. Sein Herz raste plötzlich; von einer Sekunde zur anderen war er in Schweiß gebadet. Er wartete vergeblich darauf, daß sich das Bild abermals änderte; ein neues Zucken, ein weiteres Sich-neu-Ordnen, und aus dem Gesicht des totenTraum-Mädchens würde das Gesicht irgendeines Mädchens werden, das nur eine zufällige Ähnlichkeit mit der Anhalterin hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Astrids Gesicht blieb Astrids Gesicht, und ganz im Gegenteil, sie drehte sich in diesem Moment weiter herum, lächelte in die Kamera und winkte mit der linken Hand; für Millionen von Zuschauern nichts als ein Mädchen, das sich für zwei Sekunden als Fernsehstar fühlte und über das man die Stirn runzelte, lächelte oder das man auch insgeheim dafür verachtete, aber Brenner wußte es besser. Dieses Lächeln galt niemand anderem als ihm, und das Winken war kein Winken, sondern ein Zeichen, das nichts anderes sagte als: Ich bin real. Du täuschst dich nicht. Ich bin hier und warte auf dich.
Brenner schloß für einen Moment die Augen und preßte die Lider so fest zusammen, bis bunte Sterne auf seinen Netzhäuten zu tanzen begannen. Als er wieder hinsah, hatte sich das Bild nicht verändert. Es war immer noch da, und Astrids Lächeln war jetzt eindeutig spöttisch geworden. Sie hatte ihn gesehen und amüsierte sich über sein Erschrecken. Und warum auch nicht? Als wandelnde Ausgeburt eines Alptraums hatte man schließlich ein Recht, sich zu freuen, wenn es einem gelang, jemandem einen gehörigen Schrecken einzujagen.
Wahrscheinlich war es dieser Gedanke, der Brenner schließlich in die Wirklichkeit zurückholte. Er war einfach einenTick zu albern, um aus irgend etwas anderem als purer Hysterie geboren zu sein. Er war hysterisch. EinTeil seines Bewußtseins hatte die Grenze zur Panik eindeutig überschritten, und er sah Dinge, die es nicht gab. Das Mädchen war nicht auf dem Bildschirm. Er sah sie noch immer, aber er wußte jetzt, warum: weil er sie sehen wollte. Vielleicht gab es diesen ganzen verrückten Film nicht, und wer weiß, vielleicht stand nicht einmal er wirklich hier, sondern lag in seinem Bett und phantasierte sich wirres Zeug zusammen.
Die Vorstellung half. Ob sie nun der Wahrheit entsprach oder nicht, Panik gehörte offensichtlich zu den Feinden, die heimtückisch waren, ihren Schrecken aber im gleichen Moment zu verlieren begannen, in dem man sich ihrer Gegenwart bewußt wurde. Es gab dieses Mädchen nicht. Es gab diesen Film nicht – nun gut, ihn vielleicht – , und es gab auch die Erinnerung an sie nicht.
Und wenn er noch lange hier herumstand und blödes Zeug dachte, dann würde es vielleicht auch ihn bald nicht mehr geben, und wenn, dann allenfalls als sabbernden Idioten in einer Gummizelle.
Astrids Gesicht war noch immer auf dem Bildschirm zu sehen, und hätte es noch eines zusätzlichen Beweises für seine Theorie bedurft, wäre es der Ausdruck darauf gewesen. Sie hatte aufgehört zu lächeln und wirkte ein bißchen verwirrt, aber auch verärgert. Eindeutig hatte sie seine Gedanken gelesen.
»Nein«, sagte Brenner. »So einfach mache ich es dir nicht.« Natürlich glaubte er nicht wirklich daran, daß sie die Worte verstand, aber er mußte einfach mit ihr reden, und sei es nur aus dem gleichen Grund, aus dem er als Kind ein Lied gepfiffen hatte, wenn er in den Keller ging. Und es half, zumindest teilweise. Ihr Gesicht verschwand immer noch nicht. Sie sah ihn immer noch vorwurfsvoll an, aber beides hatte nun seinen Schrecken verloren. Möglicherweise nicht auf Dauer, denn hinter dieser ersten, fast besiegten Angst lauerte eine zweite, die vielleicht noch schlimmer war: nämlich die, daß er vielleicht wirklich auf dem Wege war, den Verstand zu verlieren.
Aber er gestattete dieser Furcht nicht, Gestalt anzunehmen. Nicht jetzt. Nach einem letzten Blick auf den Bildschirm verließ er das Schwesternzimmer und tastete sich durch den verlassenen Korridor zu seinem Zimmer zurück.
Hatte er gerade geglaubt, seine Furcht im Zaum zu haben? Lächerlich. Sie war da, und sie flüsterte mittlerweile so laut, daß sie in seinen Ohren dröhnte. Er vermied es krampfhaft, durch die offenstehenden Türen der anderen Zimmer zu blicken, obwohl er wußte, daß dahinter nichts war. Aber er hätte dieses Nichts jetzt deutlicher gesehen, und vielleicht auch noch mehr. Wenn er Dinge sah, die nicht da waren, warum dann nicht umgekehrt Dinge nicht sehen, die da waren? Er hätte es nicht ertragen, in eines der Zimmer zu sehen und im Bett einen schlafenden Patienten vorzufinden.
Es waren nur wenige Schritte. Obwohl er sehr langsam ging, dauerte es bestenfalls eine Minute; aber sie kam ihm vor wie ein Jahr. Noch vor zehn Minuten hätte er es für unmöglich gehalten, aber jetzt war er erleichtert, wieder in dem Zimmer zu sein, das ihm in den letztenTagen wie ein Kerker vorgekommen war. Es war kein Kerker. Es war seine Zuflucht. Die Dunkelheit war nicht sein Feind, sondern ein Schutz vor dem Wahnsinn, der dahinter lauerte, die blinkenden Apparate neben seinem Bett waren seine Wächter, und die Nadel, die in seinem Handrücken steckte und sich jetzt mit pochenden Schmerzen wieder in Erinnerung brachte, war seine einzige Waffe. Er war hier nicht gefangen, sondern sicher. Er hätte niemals aufstehen und schon gar nicht sein Zimmer verlassen dürfen.
Brenner schloß sorgsam die Tür hinter sich, ging zu seinem Bett zurück und ließ sich behutsam auf die Kante nieder. Aber statt sich vollends zurückzulehnen und die Bettdecke wie in Kindertagen über den Kopf zu ziehen – und nach nichts anderem war ihm zumute – , saß er einfach da und starrte ins Leere. Er sah das Gesicht noch immer, und das Wissen, daß es nur Einbildung gewesen war, nutzte überhaupt nichts. Vielleicht, weil er sich in einem Dilemma befand, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Er konnte glauben, daß er das alles gerade wirklich erlebt hatte, aber das hätte bedeutet, daß er die Treppe weitaus mehr als fünfunddreißig Stufen hinuntergestürzt war, nämlich nicht nur bis auf den Kellerboden, sondern bis in eineTiefe, in der Begriffe wie Realität und Logik nicht mehr viel galten. Oder er konnte glauben, es sich wirklich nur eingebildet zu haben. Aber er wußte nicht, ob ihm diese Erklärung tatsächlich besser gefiel. Was war besser? In einem fremden Kontinuum gestrandet zu sein oder den Verstand verloren zu haben?
Er brauchte Gewißheit. Aber wie? Er wußte ja noch nicht einmal, ob es dieses Mädchen überhaupt gegeben hatte, und nicht nur sie, sondern diese ganze verrückte Geschichte, die beim Anblick ihres Gesichts wieder in seiner Erinnerung aufgetaucht war. Da war der Priester gewesen, der gesagt hatte, sie sei wichtig; aber vielleicht hatte er ja nur geblufft, um mehr aus ihm herauszukriegen? Ein Journalist, der sich als Jesuit ausgab und über ein Mädchen sprach, das er gar nicht kennen konnte – das klang nicht besonders überzeugend.
Frage: Wie konnte man entscheiden, was wirklich war und was nicht, wenn man keinerlei Vergleichsmöglichkeiten hatte?Antwort: Überhaupt nicht.
Der Gedanke war eher ernüchternd als erschreckend. Und so ganz nebenbei war er nicht richtig. Er hatte eine Möglichkeit. Sie gehörte zu all den Erinnerungen, die so plötzlich in seinem Gedächtnis aufgetaucht waren. Er war nur nicht ganz sicher, ob er sie nutzen wollte.
Trotzdem blieb er nur noch einen Moment reglos sitzen, dann stemmte er sich wieder hoch und ging mit schleppenden Schritten zur Tür und dem schmalen Einbauschrank in der Wand daneben. Seine Beine fühlten sich mit einem Male an wie mit Blei gefüllt. Seine gerade erst zurückgekehrten Kräfte ließen bereits wieder nach, aber nach dem Raubbau, den er damit betrieben hatte, war das wohl auch kein Wunder.
Mit zitternden Fingern öffnete er die Schranktür und gewann einige weitere Sekunden, indem er seine Kleider betrachtete. In jeder anderen Situation hätte er sich gefragt, warum man sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, sie aufzuhängen.
Es waren nur noch Fetzen. Hose und Jacke waren zerrissen und so verdreckt, daß ihr ursprüngliche Farbe kaum noch zu erkennen war, und in der Jacke – und auch dem Hemd, dessen angesengter Kragen darunter zum Vorschein kam – klaffte ein gewaltiges Loch mit verbrannten Rändern, wo ihn das MG-Geschoß gestreift hatte. Es war schwer vorstellbar, daß jemand, der in diesen Kleidern gesteckt hatte, noch am Leben sein sollte. Und noch schwerer vorstellbar, daß er dieser Jemand sein sollte. Außerdem gab es einen weiteren, beunruhigenden Aspekt an diesem Anblick: Er schien das, woran er sich erinnerte – nein, verdammt. zu erinnern glaubte! – , zu bestätigen.
Seine Hände begannen stärker zu zittern. Noch vor einer Sekunde hatte er geglaubt, die Ungewißheit nicht ertragen zu können. Jetzt war er nicht mehr sicher, ob er die Gewißheit ertragen konnte. Warum nicht wieder ins Bett gehen, die Augen schließen und darauf hoffen, sich nur an einen weiteren, völlig abgedrehtenTraum zu erinnern, wenn er sie wieder aufmachte; wenn er wirklich verrückt war, spielte es letztendlich keine Rolle, ob er den Beweis dafür eine Stunde früher oder später bekam.
Aber er konnte auch genausogut seine Brieftasche herausnehmen und nach diesem Beweis suchen.
Sie befand sich in einem kaum besseren Zustand als der Rest seiner Kleidung. Das Leder war angesengt und offenbar naß geworden, denn es fühlte sich brüchig und stumpf an, und ihr Inhalt war zum Großteil zu einer formlosen grauen Masse zusammengepappt. Der einzig relativ unbeschadete Teil war der blanke Hohn: die goldene Eurocard, die die ganze Katastrophe letztendlich ausgelöst hatte. Wer hatte je behauptet, daß das Schicksal keinen Sinn für Humor hätte? Es hatte einen, aber er war ziemlich schwarz.
Brenner biß die Zähne zusammen und versuchte die aufgeklappte Brieftasche mit der rechten Hand zu halten, ohne die Nadel dabei noch tiefer in sein Fleisch zu treiben, während er mit der linken die zusammengeklebten Papiere auseinanderzog. Nichts davon war noch zu gebrauchen, aber den Verlust würdeer verschmerzen. einige Quittungen, ein paar Notizzettel, eine Tankquittung …
… und beinahe als letztes den abgelaufenen Parkschein, auf dessen Rückseite er die Telefonnummer von Astrids Eltern notiert hatte.
Er war ebenso aufgeweicht wie alles andere, was sich in seiner Brieftasche befunden hatte, aber es gab einen Unterschied. Die Feuchtigkeit hatte weder vor Tinte noch vor Kugelschreiber, Bleistift oder Druckerschwärze Halt gemacht und alles Geschriebene zu einem einzigen Brei verwischt. Nur die mit vor Kälte krakeliger Schrift hingekritzelte Telefonnummer war so deutlich zu lesen, als wäre sie vor einer Minute geschrieben worden. Sie war weder verlaufen noch unleserlich, sondern schien ihn höhnisch anzugrinsen.
Brenner starrte die zehnstellige Ziffernkombination an, und er wußte, was geschehen würde, aber er konnte nichts dagegen tun. In seinem Kopf begann sich etwas zu drehen, und nur einen Moment später kippte das Zimmer vor seinen Augen zuerst nach rechts, dann sehr viel weiter nach links und erlosch schließlich. Letztendlich hatte das Schicksal wohl doch noch eine Spur von Mitleid und ließ ihn in Ohnmacht fallen.
Beinahe wäre er ein Opfer seiner eigenen Vorsicht geworden. Etwas stimmte in diesem Krankenhaus nicht, und man mußte kein gesuchter Berufsterrorist sein, um das zu begreifen. Schon auf dem Weg nach oben war ihm die Stille aufgefallen. Krankenhäuser – zumal morgens um vier – gehörten zwar nicht unbedingt zu den Orten, an denen es lautstark wie auf dem Fischmarkt zuging, aber zumindest hier in der dritten Etage, in die er dem Eindringling gefolgt war, war es einfach zu still.
Salid hörte absolut nichts. Der Eindringling – es war ein relativ junger, hellhäutiger Mann mit kurzgeschnittenem blondem Haar und für die Witterung viel zu dünner Kleidung hatte darauf verzichtet, den Aufzug zu benutzen, sondern war die Treppe hinaufgegangen. Um sich nicht zu verraten, hatte Salid ihm einen gewissen Vorsprung gelassen – und wäre um
Haaresbreite selbst entdeckt worden. Es war das alte Spiel vom verfolgten Verfolger, aber die Schraube hatte sich heute noch einmal weitergedreht: Während der Fremde offenbar dem Pförtner folgte – möglicherweise nur, um von ihm nicht entdeckt zu werden – , folgte Salid ihm und begriff fast zu spät, daß es noch eine weitere Partei in diesem Spiel gab. Er hatte die Tür des Treppenhauses kaum geschlossen, als er Schritte hinter sich hörte und einen Schatten hinter dem geriffelten Milchglas sah. Hastig wandte er sich nach rechts, huschte ein paar Stufen weit die Treppe hinunter und preßte sich mit angehaltenem Atem gegen die Wand.
Praktisch im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet, und zwei Gestalten betraten das Treppenhaus. In dem blassen Schein, der vom Korridor hereinfiel, erkannte Salid, daß sie weiße Hosen und helle, kurzärmelige Jacken trugen. Ärzte oder Pfleger, auf jeden Fall Krankenhausangestellte, die, aus welchem Grund auch immer, beschlossen hatten, die Treppe zu nehmen statt den viel bequemeren Aufzug gleich nebenan.
Salid fluchte lautlos in sich hinein. Sobald sie das Licht einschalteten, mußten sie ihn einfach sehen, und dann hatte er ein Problem. Er zweifelte nicht daran, daß er nur Sekunden brauchen würde, um sie zu überwältigen – aber damit war es nicht getan. Er würde sie töten müssen, um ganz sicher zu gehen, daß sie ihn nicht verrieten, und das war sein Problem. Er war nicht sicher, ob er es noch konnte. Sein Herz begann schneller zu klopfen, während er sich instinktiv spannte und aus weit aufgerissenen Augen die beiden schwarzen Umrisse in der Dunkelheit zwei Meter über sich musterte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Die Männer machten kein Licht. Einer von ihnen schob die Tür sehr leise ins Schloß, während der andere reglos und mit schräggehaltenem Kopf dastand und nach oben lauschte. Sie benutzten die Treppe nicht aus Gesundheitsbewußtsein oder um nicht auf den Lift warten zu müssen, sondern aus dem gleichen Grund wie er.
Salids Erleichterung hielt jedoch nur eine Sekunde vor, ehe er begriff, daß er überhaupt keinen Grund dazu hatte. Er war offensichtlich nicht der einzige, der mitbekommen hatte, daß es einen ungebetenen Gast in dieser Klinik gab – aber wer sagte ihm eigentlich, daß sie den anderen suchten und nicht ihn? Sie waren praktisch beide gleichzeitig in das Gebäude eingedrungen; woher nahm er die Überzeugung, daß der andere entdeckt worden war und nicht er oder gar beide? Möglicherweise war der hinkende Pförtner auch nicht leichtsinnig gewesen, sondern hatte ganz gena u gewußt, was er tat, und ihnen eine Falle gestellt, in die sie blind hineingetappt waren.
Salids Professionalität hinderte ihn daran, kostbare Zeit damit zu verschwenden, indem er sich über dieseTatsache ärgerte. Vorerst würde es reichen, seiner Gewohnheit zu folgen und die schlimmstmögliche Alternative zugleich auch als die wahrscheinlichste anzunehmen, solange das Gegenteil nicht bewiesen war. Trotzdem legte er die Erkenntnis, daß er offensichtlich begann, nachlässig zu werden, sorgsam in seinem Gedächtnis ab, um zu einem späteren Zeitpunkt darüber nachzudenken.
Die beiden Pfleger eilten mit den sicheren Schritten von Männern die Treppe hinauf, die ihre Umgebung gut genug kannten, um kein Licht zu benötigen. Sie sprachen kein Wort, aber Salid hörte, daß sie einen Moment zögerten, ehe sie dieTür eine Etage höher öffneten, und es auch dann nur sehr behutsam taten. Sie waren auf der Jagd.
Salid wartete, bis die Tür über ihm wieder ins Schloß gefallen war, ließ eine weitere Sekunde verstreichen und huschte dann schnell und fast lautlos die Treppe hinauf. Sein Pulsschlag hatte sich wieder beruhigt. Was immer an jenem Morgen im Wald mit ihm geschehen war, hatte ihn vielleicht grundlegend verändert, ihn aber nicht seiner alten Instinkte und Reflexe beraubt. Als er die Tür im nächsten Stockwerk erreichte und das Ohr gegen das kalte Glas preßte, um zu lauschen, war er wenig mehr als eine Kampfmaschine. Hätte in diesem Moment jemand dieTür von der anderen Seite geöffnet, hätte diese Begegnung mit ziemlicher Sicherheit tödlich für ihn geendet.
Aber er hörte nichts. Obwohl die beiden Männer einen Vorsprung von allerhöchstens zehn Sekunden hatten, waren ihre Schritte nicht mehr zu orten. Sie bewegten sich entweder sehr schnell oder sehr leise.
Salid drückte die Klinke herunter, preßte die linke Handfläche mit großer Kraft gegen das Glas, um jedes Geräusch zu unterdrücken, und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Der Korridor, der dahinter lag, war ebenso leer wie der ein Stockwerk tiefer, aber hell erleuchtet. Die beiden Männer waren nicht mehr zu sehen, doch als Salid die Tür ganz öffnete und hindurchtrat, wußte er sofort, wohin sie verschwunden waren: Nur ein paar Schritte weiter machte der Flur auf der linken Seite einen scharfen Knick, während er sich zur Rechten sicherlich zwanzig oder fünfundzwanzig Meter weit dahinzog. Salid wandte sich nach links, ging mit schnellen Schritten bis zur Ecke
»Sie da! Bleiben Sie stehen! «
Salid fuhr mit einer blitzartigen Bewegung herum und hob die Arme. Seine linke Hand deckte die Kehle, während die andere weiter erhoben und zu einer Kralle geöffnet war, um in Augen, Kehlkopf oder Weichteile zu stoßen. Aber hinter ihm war niemand. Die Stimme war aus der anderen Richtung gekommen. Verdammt! Er war sehr viel angespannter, als er sich selbst gegenüber eingestehen wollte. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Möglichkeit, Fehler zu begehen …
»Bleiben Sie stehen! Das hat doch keinen Zweck! « DerTon dieser Worte war schon schärfer, und gleichzeitig hörte er trappelnde Schritte und dann etwas, das wie ein Kampf klang; oder auch ein kurzes Gerangel. Salid spähte vorsichtig um die Ecke. Was er sah, das war so grotesk, daß er beinahe laut aufgelacht hätte. Der junge Mann, dem er gefolgt war, rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn von rechts nach links und wieder zurück über den Krankenhausflur, verfolgt von einem humpelnden Greis in einem grauen Hausmeisterkittel, der vergeblich versuchte, ihn am Jackenärmel zu erwischen.
Trotzdem war seine Flucht ziemlich aussichtslos – nach hinten endete der Gang nach wenigen Schritten vor einer geschlossenen Doppeltür aus Drahtglas, und die andere Richtung blockierten die beiden Pfleger, die Salid beinahe überrascht hätten. Ganz offensichtlich fanden sie Gefallen an der Szene; denn sie machten keine Anstalten, dem Mann im blauen Kittel bei seiner Verfolgungsjagd zu helfen.
»Jetzt bleiben Sie doch endlich stehen. Das hat doch keinen Sinn mehr! « keuchte der Hausmeister. Er bewegte sich zwar nicht wesentlich schneller als ein durchschnittlicher Fußgänger, keuchte aber, als hätte er einen Hundert-Meter-Sprint hinter sich, und seine Wangen hatten eine hektische rote Färbung angenommen. »Verdammt, wollen Sie, daß ich … daß ich einen Herzinfarkt bekomme?«