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»O mein Gott!« flüsterte Weichsler.
Die dünne Kunststoffmembran zwischen den Lippen bewegte sich weiter, dann schlug das Material ein Stück höher Falten; die vermeintliche Tote versuchte die Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht.
»Warten Sie! « sagte Weichsler. »Strengen Sie sich nicht an! Ich … ich helfe Ihnen! « Diese Idioten! Diese verdammten Idioten hatten eine Lebende gefunden! Sie hatten eine Überlebende der Katastrophe gefunden – vielleicht die einzige Uberlebende! – und einfach zwischen all die Toten gelegt. Diese gottverdammten Idioten hatten sie wie ein Stück Abfall in eine Mülltüte gestopft und auf den Wagen geworfen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ihren Puls zu fühlen!
»Nur eine Sekunde noch! « stammelte er. »Ich helfe Ihnen! Warten Sie!« Diese verdammten Idioten! Diese verfluchten, hirnrissigen Idioten! Mit seiner blutverschmierten Hand hob er das Messer auf und führte einen geraden, erstaunlich sicheren Schnitt, der die Folie von der Hüfte bis über die Schulter der jungen Frau aufklaffen ließ. »Warten Sie! Wir haben es gleich! Noch eine Sekunde, und Sie können wieder atmen. Ich hole Sie raus! «
Das Mädchen arbeitete jetzt nach Kräften mit. Eine wachsbleiche, mit Blut und Schmutz verkrustete Hand erschien in dem Riß und verbreiterte ihn, dann eine zweite. Weichsler fiel auf, daß die meisten Fingernägel gesplittert und bis weit in das empfindliche Fleisch darunter abgebrochen waren. Und noch etwas fiel ihm auf: Dem Leichensack entströmte ein klebrigsüßer Geruch. Der gleiche Geruch, der permanent seit drei Tagen die gesamte Turnhalle ausfüllte, nur ungleich intensiver. Für das Mädchen war ein Alptraum wahr geworden; vielleicht der schlimmste aller vorstellbarenTräume. Sie war lebendig begraben worden und in der Welt derToten wieder erwacht.
»Mein Gott!« stammelte Weichsler, immer und immer wieder. »Mein Gott, mein Gott! « Seine Hände zerrten und rissen an der Folie, halfen dem Mädchen, den Riß weiter zu vergrößern. Seine Finger streiften die des Mädchens, und sein Schrecken wuchs weiter, als er spürte, daß sich selbst ihre Haut wie die einer Toten anfühlte, kalt und glitschig und zu weich; nicht wie lebendes Fleisch, sondern wie Schaumgummi. Diese Frau hatte mehr erlebt als die Hölle. Weichsler riß mit aller Gewalt an der Folie, die ihren Kopf bedeckte, so daß sie sich mit einem saugenden Geräusch von ihrem Gesicht löste. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb dessen Abdruck noch darin, es sah aus, als hätte er tatsächlich das Gesicht des Mädchens abgerissen.
Was darunter zum Vorschein kam, war auch nicht wirklich das Gesicht einer Lebenden.
Weichsler schrie. Diesmal war er nicht paralysiert, und diesmal war es kein halbersticktes Keuchen, das über seine Lippen kam, sondern ein gellender, spitzer Schrei, der als dünner Schmerz in seinem Kopf widerhallte. Das Gesicht des Mädchens war schlaff und grau, verschmiert mit eingetrocknetem Blut und Schleim.
Weichsler erinnerte sich schlagartig wieder daran, was er über die Wirkung des Kampfstoffes gehört hatte: Er tötete schnell und ausnahmslos, aber er beschränkte sich nicht darauf, das Nervensystem zu zerstören und den Kreislauf zusammenbrechen zu lassen. Seine tödliche Wirkung bestand darin, den betroffenen Organismus dazu anzuregen, ein gewisses Enzym zu produzieren, das der Natur zwar nicht unbekannt war, im Körper eines Säugetieres aber nichts zu suchen hatte, und es ähnelte vage dem Stoff, den Spinnen ihrer Beute injizieren, um das Fleisch zu verflüssigen. Die Wirkung
dieses Enzyms war nicht ganz so drastisch, aber ebenso tödlich: Das Fleisch des Be. troffenen verlor seinen inneren Halt. Es verflüssigte sich nicht, aber es wurde mürbe. Das war, was Weichsler über den Kampfstoff gehört hatte.
Jetzt sah er seine Wirkung.
Ein gut fünfmarkstückgroßes Stück aus der linken Wange des Mädchens war an der Innenseite der Folie klebengeblieben und einfach abgerissen; darunter kam weißer Knochen und ein Teil der Muskelmechanik zum Vorschein, die das Gesicht bewegt hatte, als es noch lebte. Der Mund der Toten stand immer noch offen, und das Fleisch darin hatte nicht mehr die Kraft, die Zähne zu halten; sie ragten krumm und schief hervor. Das Allerschrecklichste aber waren die Augen. Weichsler hätte es vielleicht noch ertragen, sie als ausgelaufene Höhlen zu erblicken, denen alles Menschliche fehlte; aber es waren Augen, groß und fast unversehrt, die ihn anstarrten. Was nicht stimmte, war die Farbe. Sie schienen nur noch aus Pupillen zu bestehen und hatten einen milchig-blauvioletten Ton, die Augen einerToten. Und trotzdem war Leben darin, oder wenigstens etwas wie Leben; etwas, das vor drei Tagen daraus gewichen und nun wieder hineingezwungen worden war, gegen seinen Willen, gegen alle Gesetze der Natur – und Gottes? und gegen alles, was recht war.
Weichsler erwachte endgültig aus seiner Lähmung, kippte mit wild rudernden Armen nach hinten und versuchte rücklings von dem Etwas davonzukriechen, das sich da vor ihm aus seinem schwarzen Kokon schälte. Er stieß dabei gegen eine weitere Liege und riß sie um, aber das registrierte er gar nicht. Wimmernd vor Angst kroch er weiter, stieß gegen eine weitere Liege und noch eine, bis die Wand ihn schließlich stoppte.
Mittlerweile hatte sich die Tote ihrer schrecklichen Hülle zum größtenTeil entledigt und versuchte auf die Beine zu kommen. Ihre Glieder schienen ihr nicht mehr richtig zu gehorchen, als hätten drei Tage schon ausgereicht, um zu vergessen, was sie in zwanzig Jahren gelernt hatten. Ihr Blick blieb weiter auf Weichsler gerichtet, und wieder spürte er, daß da irgend etwas in ihren Augen war; etwas, was ihn zutiefst erschreckte. Es war etwas wie ein Flehen, keine Drohung, sondern ein stummer Schrei nach Hilfe.
Möglicherweise hätte Weichsler sogar begriffen, was dieser Blick bedeutete, doch in diesem Moment geschah das, was auch noch den letzten Funken von klarem Denken in ihm hinwegfegte wie eine Sturmböe ein welkes Blatt.
Nicht nur diese eine Tote bewegte sich. Was gerade geschehen war, wiederholte sich, und nicht nur bei dem Toten neben dem Mädchen, sondern vor ihr, neben ihr, hinter ihr … Es war, als hätte man einen Stein in einen Teersee geworfen, der nun eine kreisförmige Welle über seine gesamte Oberflächezog. Überall knisterte und raschelte es; schleifende, nasse, kriechende, reißende Laute, die sich in das Heulen des Schneesturmes mischten und es schon nach Sekunden übertönten. Einer nach dem anderen, ausgehend von einem imaginären Zentrum, das sich nicht einmal weit von Weichsler entfernt befand, begannen sich sämtliche Toten aus ihren Hüllen zu befreien und aufzustehen!
Weichsler sprang in die Höhe. Etwas berührte sein Bein und versuchte sich daran festzuklammern. Weichsler brüllte wie unter Schmerzen, versuchte seinen Fuß zu befreien und spürte, wie irgend etwas zerriß, ehe er mit einem Ruck freikam und taumelnd sein Gleichgewicht wiederfand. Er nahm nicht mehr in Einzelheiten wahr, was rings um ihn herum vorging. Alles wurde unwirklich, bizarr und zugleich hyperrealistisch, wie in einem mittelalterlichen Höllengemälde. Gestalten richteten sich auf. Hände tasteten in seine Richtung. Blaugelierte, leere Augen starrten ihn an, und Weichsler riß die MN von der Schulter und drückte ab.
Das Hämmern der Maschinenpistole hätte in Weichslers Ohren überlaut sein müssen, aber irgendwie war seine Wahrnehmung gespalten. Das Rattern war nicht lauter als der Aufprall weicher Wattebälle auf einer Glasplatte, doch dafür hörte er mit gräßlicher Klarheit das Geräusch, mit dem die Geschosse das Ziel trafen: spritzende, weiche Laute, nicht der Aufschlag von Blei auf Fleisch und Knochen, sondern das Geräusch einer Eisenkugel, die in zähem Morast versinkt.
Weichsler hielt den Auslöser der Waffe niedergedrückt, während er durch die Halle stürmte. Die Geschosse heulten als Querschläger von den Wänden davon, zertrümmerten Glas und Holz, ließen ein halbes Dutzend Liegen zusammenbrechen und schleuderten zahllose Gestalten zu Boden. Aber sie blieben nicht liegen, sondern versuchten sofort, wieder in die Höhe zu kommen. Der Tod hatte seine Macht über diese Ziele verloren. Weichsler feuerte das Magazin leer, aber er hielt den Abzug trotzdem weiter durchgezogen, selbst als die Waffe längst aufgehört hatte, orangerote Flammen und Blei zu spucken.
Er mußte die Turnhalle in ihrer gesamten Länge durchqueren, um die Tür zu erreichen. Seine Munition war verbraucht, noch ehe er die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, aber die Salve hatte ihm trotzdem Luft verschafft. Nur einer einzigen der Zombie-Gestalten gelang es, ihm den Weg zu vertreten und die Arme nach ihm auszustrecken. Weichsler versuchte der Berührung auszuweichen, aber es gelang ihm nicht mehr. Sein eigener Schwung ließ ihn gegen den Toten prallen und riß sie beide von den Füßen. Die Hände des toten Mannes glitten über sein Gesicht und krallten sich darin fest.
Es tat nicht einmal besonders weh, aber es war das Fürchterlichste, was er jemals erlebt hatte. Die schartig gebrochenen Fingernägel rissen seine Haut auf und hinterließen blutige Kratzer, und irgend etwas Kaltes, Zähflüssiges, vermischte sich mit seinem eigenen Blut. Ein, zwei Sekunden lang lag Weichsler einfach hysterisch kreischend auf dem Boden, strampelte mit den Beinen und schlug blind um sich; dann gelang es ihm irgendwie, die entsetzlichen Totenhände abzustreifen und deren Besitzer von sich zu stoßen. Er schrie nicht mehr, denn dazu reichte sein Atem nicht mehr aus, aber während er in die Höhe sprang und weiter zur Tür taumelte, wimmerte er wie ein verängstigtes Kind. Tränen liefen über sein Gesicht, und er prallte so heftig gegen die Wand neben der Tür, daß er sich eine weitere blutende Wunde an der Stirn zuzog. Mit fahrigen Bewegungen tastete er nach der Klinke, riß die Tür auf und taumelte hinaus in die Nacht.
Der Sturm war zu einem Orkan geworden, der ihn ansprang wie ein Ungeheuer aus Lärm und Kälte und Millionen unsichtbarer schneidender Messer. Unter normalen Umständen hätte ihn bereits die erste Böe von den Füßen gerissen oder zumindest gegen die Wand gedrückt, aber die Panik und der Wahnsinn, die längst von seinem Denken Besitz ergriffen hatten, verliehen ihm zugleich auch fast übermenschliche Kräfte. Rings um ihn herum tobte eine Hölle aus Lärm und rasiermesserscharfen wirbelnden Kristallen, aber irgendwo dahinter war das Schulgebäude, waren Licht und Wärme und die anderen, war Sicherheit. Er lief los.
Hinter ihm ergriff der Sturm mit einem wütenden Heulen die Tür und riß sie endgültig aus den Angeln. Doch so unvorstellbar seine Gewalt auch sein mochte – es gab etwas, das nicht einmal er in derTurnhalle halten konnte.
Diesmal hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, das Ende des Infusionsschlauches zu verknoten, nachdem er es von der Nadel in seiner Hand gelöst hatte, so daß sich auf seinem Bett ein dunkler, rasch größer werdender Fleck zu bilden begann. Es tat ihm nicht leid; ganz im Gegenteil erfüllte ihn der Anblick mit einer gewissen Befriedigung. Es war keine große, es war nicht einmal eine kleine Rache. Aber es war eine Rache.
Nebenbei: Es war der Beweis, der aus seiner Vermutung endgültig verifizierte Sicherheit machte. Die kleine Anstrengung, den Plastikschlauch von der Kanüle zu lösen, hatte fast seine Kräfte überstiegen, aber er konnte regelrecht spüren, wie sie zurückkehrten, nachdem das Teufelszeug nunmehr in die Bettdecke tropfte und nicht mehr in seinen Kreislauf.
Was weitaus langsamer zurückkehrte als seine körperlichen Kräfte, war Brenners Vermögen, logisch zu denken oder gar etwas so Kompliziertes wie Kausalität zu erkennen. Sein Denken hatte noch in Schneiders Gegenwart wieder begonnen, sich leicht zu verwirren. In den fünf Minuten, die er als Sicherheitsspanne nach dem Weggang des Arztes hatte verstreichen las. sen, war aus dem Drei-Bier-Gefühl von leichtem Benebeltsein ein Vollrausch geworden, in dem nichts mehr Bestand hatte außer dem Wunsch, sich fallen zu lassen und die warme Umarmung zu genießen.
Und dem Gedanken, die Nadel aus seiner Hand zu ziehen. Brenner konnte selbst jetzt noch nicht sagen, wieso ausgerechnet dieser Gedanke dem großen Schwamm widerstanden hatte, mit dem etwas die Schiefertafel in seinem Kopf leerzuwischen begann, aber er war dagewesen, so klar und leuchtend wie ein Feuer in schwärzester Nacht: Er mußte die Nadel loswerden. Es war ihm nicht gelunge n. Er hatte es versucht, aber der Schmerz, die Nadel mit seinen ungelenken Fingern aus seinem Fleisch zu ziehen, war zu groß gewesen, so daß er schließlich nur den Schlauch abgezogen hatte. Unmittelbar darauf begann er sich besser zu fühlen. Körperlich.
Trotzdem vergingen noch gute zehn Minuten, bis sich der graue Nebel in seinem Kopf halbwegs lichtete, wenigstens so weit, daß er überhaupt begriff, was er getan hatte. Auch dann konnte er noch nicht wirklich klar denken, aber in dem undurchdringlichen Nebel zwischen seinen Schläfen erschienen nach und nach weitere Leuchtfeuer. Er war ein Gefangener. Die, die sich als seine Freunde ausgaben, waren seine Feinde. Er mußte weg. Das tote Mädchen finden. Jeder dieser Gedanken schien vollkommen isoliert für sich zu stehen, und obwohl sie hintereinandergereiht durchaus eine Geschichte erzählten, fehlte doch die Geschichte dahinter, so daß ihnen eigentlich jede Glaubwürdigkeit abging. Trotzdem hatte jedes dieser Leuchtfeuer ein Gewicht, das die Frage nach seinem Wieso erst gar nicht aufkommen ließ. Er war ein Gefangener. Alle, die sich für seine Freunde ausgaben, waren seine Feinde. Er mußte hier weg, und er mußte das Mädchen finden. So einfach war das und wichtiger als sein Leben.
Es dauerte lange, aber irgendwann fand er die Kraft, sich in seinem Bett aufzusetzen und den Kopf nach rechts zu drehen. Sein Sehvermögen hatte wieder nachgelassen, aber das überraschte ihn nicht; sonderbarerweise erschreckte es ihn auch nicht. Ohne daß er sagen konnte, warum, wußte er, daß er genau das erwartet hatte – er hatte sogar das absurde Gefühl, daß er enttäuscht gewesen wäre, hätte er mehr gesehen als grauen Nebel mit verschwommenen Konturen. Aber er mußte auch nichts sehen, um zu wissen, daß der elektronische Verräter auf dem kleineTischchen neben seinem Bett stand. Er wußte sogar, wie er ihn überlisten konnte. Sein erster Impuls war gewesen, die Kontakte zu lösen, die an seinem Brustkorb und den Schläfen befestigt waren, doch das hätte irgendwo zwei oder drei Zimmer entfernt sofort Alarm ausgelöst.
Statt dessen verlagerte er sein Gewicht behutsam auf den rechten Ellbogen, biß die Zähne zusammen und streckte die Hand nach dem Gerät aus. Seine Finger tasteten über lackiertes Metall, folgten dem Verlauf der Kante und fanden das Netzkabel. Es tat weh. Er konnte das Kabel nicht richtig fassen, weil sich die Nadel zwischen Zeige-und Mittelfinger bei jeder Bewegung tiefer in sein Fleisch bohrte, so daß er es schließlich zwischen Ring– und kleinem Finger einklemmte, um es aus der Steckdose zu ziehen. Es gelang ihm erst beim dritten oder vierten Versuch, und hinterher standen ihm Tränen in den Augen, aber er hatte Erfolg, und der wurde zumindest nicht unmittelbar geahndet.
Brenner setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und ließ weitere zwei, drei Minuten verstreichen, ehe er den nächsten und entscheidenden Teil seiner Revolution in Angriff nahm. Nicht nur, weil er den Schmerz fürchtete. Die Nadel aus seiner Hand zu ziehen würde eine ekelhafte Angelegenheit werden, aber weit bedeutsamer als der Schmerz war das, was diese Handlung signalisierte. Wenn er Schneider oder der Schwester das nächste Mal gegenüberstand, konnte er sich nicht mehr auf ein Versehen hinausreden, sondern würde zu seinem Aufbegehren stehen müssen.
Der Schmerz war viel schlimmer als erwartet. Seine Hand blutete heftig, und er spürte die Nadel noch lange, nachdem er sie längst zu Boden geworfen hatte.
Die nächste Etappe war weit weniger schmerzhaft, aber sehr viel mühsamer. Brenner tastete sich, halb blind und noch immer benommen, zum Schrank und versuchte seine Kleider anzuziehen, aber diesmal blieb es bei dem Versuch. Seine Kräfte reichten aus, die Schranktür zu öffnen, aber nicht mehr, um die Kleider vom Bügel zu nehmen. Und ihm blieb keine Zeit mehr, Energien für einen zweiten Anlauf zu sammeln. Die Tür ging auf, und jemand betrat das Zimmer.
Brenner drehte sich mühsam herum und versuchte den grauen Nebel vor seinen Augen zu durchdringen. Sein Sehvermögen schien nicht nur auf das Maß von gestern nacht zurückgefallen zu sein, sondern hatte sich radikal verschlechtert. Er sah nur, daß jemand unter derTür stand, nicht einmal, wer. »Brenner?«
Es war eine fremde Stimme, nicht der Arzt, die Schwester oder ein anderer Angestellter des Krankenhauses. Im allerersten Moment dachte er, es wäre vielleicht Johannes, der zurückgekehrt war.
»Sie sind Brenner, richtig?«
Es war nicht Johannes. Die Stimme sprach akzentfrei, aber man spürte trotzdem, daß ihr Besitzer nicht in seiner Muttersprache redete.
»Wer ist da?« fragte Brenner. »Was … wollen Sie?«
Die Gestalt kam näher. Es war ein Fremder. Er trug keine Krankenhauskleidung, sondern einen altmodischen Bademantel aus blauem Frotteestoff, der ihm noch dazu zu klein war, und sein Gesicht bewies das, was seine Stimme vermuten ließ. Soweit Brenner dies mit seinem eingeschränkten Gesichtssinn erkennen konnte, hatte es einen dunklen Teint und südländischen, vielleicht arabischen Schnitt. Etwas an dieser Erkenntnis erschien Brenner ungemein wichtig, aber er konnte noch nicht sagen, was. Nur, daß es kein gutes Wissen war.
»Sie sind Brenner.« Der Mann im blauen Morgenmantel trat weiter auf ihn zu und ergriff Brenner so energisch am Ellbogen, daß es weh tat. »Wie geht es Ihnen? Können Sie laufen?« Brenner versuchte seinen Arm loszureißen, aber es blieb bei dem Versuch, obwohl der Fremde seinen Griff nicht verstärkte. Vielmehr schien er Brenners Gegenwehr nicht einmal zu bemerken.
»Was wollen Sie?« fragte Brenner. Plötzlich hatte er Angst. Und ebenso plötzlich wußte er, wem er gegenüberstand.
»Sie … Sie sind dieserTerrorist!« keuchte er. »Großer Gott, Sie sind dieser Salim! Sie haben das Kloster in die Luft gesprengt! Was wollen Sie von mir?«
»Mein Name ist Salid«, antwortete der andere. Er gab sichMühe, seine Überraschung zu verbergen, aber Brenner spürte genau, daß er auf gar keinen Fall darauf vorbereitet gewesen war, von Brenner erkannt zu werden. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber ich beschwöre Sie, mir zu vertrauen. Ich bin nicht hier, weil ich Ihnen etwas antun will.«
Brenner wunderte sich ein wenig, daß er nicht in Panik geriet oder vor Angst einfach wie gelähmt war – immerhin stand er einem leibhaftigenTerroristen gegenüber, einem Mann, dessen Beruf es war, Menschen zu töten. Aber vielleicht war das, was er spürte, ja Panik. Seine Stimme klang jedenfalls ganz danach, als er antwortete.
»Was wollen Sie von mir? Weshalb sind Sie hier?«
»Ich will Sie hier herausholen, Brenner«, antwortete Salid. Er ließ endlich Brenners Arm los. »Ich weiß, daß es sich phantastisch anhört, aber Sie sind hier nicht als normaler Patient. Man hält Sie hier gefangen.« Er schwieg eine oder zwei Sekunden, in denen er Brenner abermals und mit veränderter Aufmerksamkeit musterte. Seine nächsten Worte bewiesen Brenner, über welch scharfe Beobachtungsgabe der Palästinenser verfügte. »Aber ich glaube beinahe, das haben Sie selbst schon gemerkt. Ich schaffe Sie hier raus.«
»Wozu?« fragte Brenner. »Um mich umzubringen?«
»Wenn ich das wollte, wären Sie bereits tot«, antwortete Salid auf so rasche und beiläufige Weise, daß die Worte viel mehr Gewicht bekamen, als jede Drohung ihnen geben konnte. »Ich fürchte, Sie werden im Gegenteil nicht mehr lange leben, wenn Sie hierbleiben. Keiner von uns, möglicherweise.«
»Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, daß ich mit Ihnen gehe!« Brenner versuchte einen Schritt zurückzuweichen und wäre beinahe gestürzt.