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Johannes offenbar nicht, denn er zögerte nur noch die eine Sekunde, die er seinem Stolz schuldig war, dann nickte er. »Also gut, ich beuge mich der Gewalt. Aber nur unter Protest. Ich betrachte Ihr Verhalten als Freiheitsberaubung! «
»Genaugenommen ist es Kidnapping«, antwortete Salid gelassen. »Aber darüber sollten wir später reden – es sei denn, Sie legen Wert darauf, auch noch eine ausgewachsene Schießerei zu erleben.« Er deutete mit der freien Hand zum Ausgang und legte den Kopf auf die Seite. »Hören Sie? Die Polizei kommt.«
Auch Brenner hörte in diesem Moment ein noch dünnes, aber rasch deutlicher werdendes Heulen: den unverwechselbarenTon einer Polizeisirene. Salid mußte über ein mindestens ebenso scharfes Gehör verfügen wie er. Obwohl er sehen konnte.
Salid wedelte ungeduldig mit der freien Hand und richtete gleichzeitig seine imaginäre Waffe auf Brenner. Er hatte keine Waffe. Er konnte keine Waffe haben. Andererseits … Salid war zwischenzeitlich allein gewesen; lange genug, um eine Waffe zu holen, die er irgendwo deponiert hatte? Kaum. Nicht einmal annähernd lange genug. Es gab nur eine winzige Chance, daß mehr in der Jackentasche war als eine leere Hand. Dummerweise war auch eine Ein-Prozent-Chance, zu sterben, möglicherweise tödlich. Und Salid machte nicht den Eindruck eines Mannes, der noch viel zu verlieren hatte.
Das Heulen der Polizeisirene wurde lauter, als sie die Klinik verließen und sich nach rechts wandten.
Zumindest seine innere Uhr schien wieder zu funktionieren, denn als Weichsler erwachte, spürte er genau, daß mindestens eine halbe Stunde vergangen war. Eine unheimliche Stille umgab ihn, so intensiv, daß er im allerersten Moment fürchtete, taub zu sein. Dann reagierte sein Körper auf das Erwachen. Er bewegte sich unbewußt, und Weichsler hörte die beinahe
unmerklichen Geräusche, die er dabei verursachte. Er öffnete die Augen, drehte sich auf die Seite und setzte sich umständlich auf.
Er sah nicht sehr viel. Das Licht war ausgegangen, und die einzige Helligkeit war ein mattgrauer Schein, der durch die zerbrochenen Fenster hereindrang und sich auf Glassplittern und kleinen Schneeverwehungen brach, die sich überall gebildet hatten. Der Sturm selbst hatte jedoch aufgehört. Durch die Fenster wirbelten keine Eiskristalle mehr herein, und das war auch der Grund für die unheimliche Stille, die er gespürt hatte. Es war gar nicht so ruhig, aber die letzte Erinnerung, die er mit in die Bewußtlosigkeit hinübergenommen hatte, war das Heulen des Orkans gewesen.
Weichsler vermied es, sich zum Fenster herumzudrehen; denn außer dem Sturm gab es noch eine Erinnerung: die an den toten Wachoffizier, der über der Fensterbrüstung hing. Er hatte das Gefühl, daß es nicht der einzige Tote sein würde, den er fand.
Weichsler ging mit staksigen Schritten zurTür und betätigte den Lichtschalter, aber die Lampen blieben tot. Vielleicht waren sie zerschossen, mit größerer Wahrscheinlichkeit aber war die Hauptsicherung herausgeflogen. Auch draußen auf dem Flur herrschte fast vollkommene Dunkelheit.
Er hatte Angst, in diese Schwärze hinauszutreten, und es zeigte sich, daß diese Angst berechtigt war. Der Schulkorridor war so still wie das Klassenzimmer und wahrscheinlich das gesamte Gebäude, aber Weichsler erkannte trotz des praktisch nicht vorhandenen Lichtes, daß er voller Toter war. Die erste Leiche lag nur wenige Schritte links neben der Tür, aber die zweite bereits unmittelbar auf der anderen Seite, und es wurden mehr, je weiter sich die schreckliche Spur der Treppe näherte. Die Stufen selbst waren übersät mit reglosen Körpern; zwanzig, dreißig, vielleicht noch viel mehr. Die Klassenräume dort oben waren zu Schlafsälen umfunktioniert worden, um die fünfzig Männer des Einsatzkommandos aufzunehmen, und auf dem Weg dorthin mußte eine regelrechte Schlacht getobt haben. Weichsler wollte es nicht. Im Gegenteil, er wehrte sich mit aller Kraft dagegen, aber seine Phantasie machte sich selbständig und zeigte ihm in Farbe und dreidimensional, was geschehen sein mußte: Die Schüsse und der Lärm aus dem Erdgeschoß hatten die Männer geweckt, und das erste, was sie gesehen hatten, als sie ebenso erschrocken wie schlaftrunken aus ihren Räumen torkelten, war eine Armee lebender Toter gewesen. Wahrscheinlich hatten sie sofort das Feuer eröffnet.
Ein bitterer Geschmack breitete sich auf Weichslers Zunge aus, während er langsam die Treppe hinaufstieg, wobei er manchmal im wahrsten Sinne des Wortes über die Toten hinwegklettern mußte, um überhaupt noch von der Stelle zu kommen. Er korrigierte seine Schätzung noch einmal nach oben, als er den ersten Stock erreichte, denn auch der Korridor hier oben war voller Leichen. Einige von ihnen trugen gefleckte Uniformen oder zumindest Teile davon, und manche umklammerten noch im Tode die Waffen, mit denen sie sich gewehrt hatten – gegen einen Feind, der nichts von ihnen gewollt hatte. Weichsler blieb neben jedem seiner toten Kameraden stehen und untersuchte ihn, und er fand genau das, was er erwartet hatte: Die Männer waren ausnahmslos erschossen worden, und die tödlichen Kugeln hatten die meisten in den Rücken getroffen. Nicht die Toten hatten den Tod gebracht, sondern die Lebenden. Aber war das nicht eigentlich immer so?
Weichsler durchsuchte das Obergeschoß der Schule von einem Ende zum anderen. Es war in allen fünf Klassenräumen das gleiche: DieTüren standen offen, und auch die Räume dahinter waren voller Toter. Die meisten Fenster waren eingeschlagen. Wahrscheinlich hatten sie es am Schluß aufgegeben, sich ihren Weg nach draußen freischießen zu wollen, und waren durch die Fenster geflohen.
Es war so sinnlos. Schlimmer. Es war nicht sinnlos, es war ein Verbrechen: Sie waren Zeuge eines Wunders geworden, vielleicht des ersten wirklichen Wunders in der aufgezeichneten Geschichte der Menschheit. Die Toten waren auferstanden. Und die Soldaten hatten darauf reagiert, wie Menschen überall und zu allen Zeiten auf das reagierten, was sie nicht verstanden.
Weichsler versuchte, die Anzahl derToten zu schätzen, aber er kam zu keinem Ergebnis – vielleicht, weil er Angst davor hatte, vielleicht auch, weil eine so logische Tätigkeit nicht mehr auf die dunklen Pfade paßte, auf denen seine Gedanken wandelten. Tief in sich war er gewiß, daß keiner von denen, die aus derTurnhalle herübergekommen waren, noch lebte, aber er hatte Angst davor, aus dieser Gewißheit Wissen zu machen. Aber zugleich betete er auch fast, daß dem so war. Er ertrug weder den Gedanken, daß sie dieses Wunder zerstört hatten, noch den, daß dieToten tatsächlich zurückgekehrt waren. Vielleicht war dies eine von den Situationen, von denen er bisher nur gelesen hatte, ohne wirklich daran zu glauben, daß es sie gab: Jeder mögliche Ausgang war falsch.
Am Ende des letzten Zimmers angekommen, trat er ans Fenster und sah auf den Hof hinaus. Der Sturm war so spurlos verschwunden, als hätte es ihn niemals gegeben, und die Temperaturen schienen ebenso schlagartig wieder gestiegen zu sein, wie sie vorhin ins Bodenlose gefallen waren. Der Asphalt glänzte feucht, aber er sah nirgendwo Schnee. Fünf Meter unter ihm lag eine reglose Gestalt in geflecktenTarnhosen und mit nacktem Oberkörper; ansonsten war der Hof leer.
Weichsler wandte sich vom Fenster ab und ging, noch immer von dem gleichen leeren Gefühl erfüllt, zurTür zurück – im Grunde, ohne zu wissen, warum. Ein sonderbares Gefühl von Endgültigkeit hatte ihn erfaßt. Er hatte keine Angst mehr, und selbst das Entsetzen war einem dumpfen Druck gewichen, der nach den Erlebnissen der vergangenen Stunden fast wie eine Erleichterung war; aber er konnte sich einfach nicht vorstellen,daß er als einziger Überlebender einfach hier weggehen konnte, und noch viel weniger, daß er sein Leben so weiterführen würde, als wäre nichts geschehen.
Als er den Klassenraum verlassen wollte, fiel sein Blick in das Gesicht einer toten Frau, die quer vor der Tür lag. Vorhin war er einfach über sie hinweggestiegen, fast ohne sie zur Kenntnis zu nehmen, nur eine weitere Leiche unter vielen. Jetzt sah er ihr Gesicht, und er erkannte es wieder.
Eigentlich hätte er es nicht erkennen dürfen, denn es hatte sich radikal verändert. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Gesicht entstellt gewesen, grau und schaumgummiartig, beherrscht von zwei blauvioletten toten Augen, die ihn voller verzweifeltem Flehen anblickten. Wenn das Schicksal tatsächlich mehr war als ein abstrakter Begriff, sondern eine lenkende Macht, dann mußte es über einen wahrlich rabenschwarzen Humor verfügen. Es war das Mädchen, das unter seinen Händen aufgewacht war. Aber nun war ihr Antlitz unversehrt.
Weichsler stand minutenlang einfach da und starrte auf das Mädchen hinab, und er brauchte all diese Zeit, um einen einzigen Gedanken zu denken. Er war nicht klar formuliert, denn dazu war er zu schrecklich, und er lief auf eine Erkenntnis hinaus, die noch entsetzlicher war; so schlimm, daß er dieses Begreifen nur ganz langsam in sein Bewußtsein tröpfeln lassen konnte. DieToten waren nicht einfach aufgestanden. Sie waren geheilt. Was aus derTurnhalle herausgekommen war, das waren nicht George Romeros Zombies gewesen, sondern Brüder und Schwestern des Lazarus. Das Wunder, das das Leben zu ihnen zurückgebracht hatte, hatte auch die Spuren des Giftes getilgt.
Weichsler ließ sich neben dem toten Mädchen zu Boden sinken und streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, aber er wagte es nicht, sie zu berühren. Vorhin war ihr Gesicht nichts als eine Zombie-Fratze gewesen. Jetzt war es wunderschön, erfüllt von einem Zauber, den die geringste Berührung zerstören würde. Statt dessen ließ er seine Fingerspitzen einen Zentimeter über ihrer Haut entlangwandern und zeichnete so die Konturen ihres Gesichtes nach, dann auch die ihres Körpers. Über den beiden großen Blutflecken in ihrem Leib stockte er. Der zweite Tod war endgültiger gewesen als der erste, aber vielleicht auch gnädiger; auf jeden Fall aber schneller. Er hatte sich geirrt, als er vorhin geglaubt hatte, nur seine eigenen Kameraden wären Opfer der modernen Vernichtungsmaschinen geworden. Er hatte sich auch geirrt, was die Zerstörungskraft der Waffen anging, an denen er und seine Kameraden jahrelang ausgebildet worden waren. Daß sie Leben auslöschen konnten, hatte er gewußt.
Daß sie sich am Ende selbst mächtiger als die Kraft eines Wunders erweisen konnten, nicht. Der Gedanke erschreckte ihn nicht einmal, aber er überraschte ihn.
Er stand auf und untersuchte noch zwei oder drei weitere Tote, aber es blieb dabei: Die einzigen Verletzungen, die sie hatten, waren die tödlichen Schußwunden großkalibriger automatischer Waffen.
Weichsler ging in den Klassenraum zurück, trat ans Fenster und sah die Gestalt auf der anderen Seite des Schulhofes. Sie stand reglos da und sah zu ihm hinauf, und obwohl sie viel zu weit entfernt war, um ein Gesicht zu haben, spürte Weichsler den Blick ihrer dunklen Augen wie die Berührung einer warmen, sehr starken Hand. Das Gefühl war ungleich intensiver als zuvor in der Halle, obwohl er den Augen da viel näher gewesen war, aber es war keine Drohung darin, kein Zorn, nicht einmal ein Vorwurf. Aber vielleicht so etwas wie ein Urteil, das noch nicht gefällt, geschweige denn ausgesprochen war. Nur der Weg dorthin war bereits vorgezeichnet.
Zum drittenmal in dieser Nacht hatte Weichsler jenes seltsame Gefühl von Endgültigkeit, aber nun wußte er, was es bedeutete. Er trat vom Fenster zurück und sah noch einmal zu dem toten Mädchen an derTür. Dann zog er seine Pistole und schoß sich eine Kugel in den Kopf.
Das Heulen der Polizeisirene war lauter geworden, kaum daß sie die Klinik verlassen hatten, und sie waren noch keine zehn Meter weit gekommen, da gesellte sich ein zweiter, gleichartiger Ton hinzu, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Brenner erwartete spätestens jetzt, daß Salid anfangen würde zu laufen, aber der Palästinenser tat nichts dergleichen, sondern machte im Gegenteil eine knappe, aber äußerst bestimmte Geste, als Johannes zusammenfuhr und sich erschrocken umsehen wollte.
»Ganz ruhig«, sagte er. »Gehen Sie ganz ruhig weiter. Keine Panik. «
Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen – Brenner konnte ihn mittlerweile tatsächlich sehen, obwohl es hier draußen weitaus dunkler war als in der hellerleuchteten Eingangshalle der Klinik – , war er längst in Panik, aber er gehorchte trotzdem. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Angst vor Salid – obwohl Brenner sich dies im Grunde gar nicht vorstellen konnte. Im nächsten Moment schon fragte er sich, wieso eigentlich. Daß Johannes Geistlicher war, bedeutete schließlich noch lange nicht, daß er nicht das Recht hatte, um sein Leben zu fürchten. Brenner selbst widerstand der Versuchung zwar, sich immer wieder nervös umzusehen, aber das lag wohl mehr daran, daß er sowieso nicht viel gesehen hätte.
Sie gingen in raschem Tempo weiter, allerdings nicht so schnell, daß sie Aufsehen erregt hätten, hätte sie jemand beobachtet, obwohl das Heulen der aus entgegengesetzten Richtungen näherkommenden Sirenen immer rascher anzuschwellen schien. Brenner begann sich zu fragen, ob Salid tatsächlich so gute Nerven hatte, wie es schien – oder vielleicht einfach nur lebensmüde war. Irgend etwas im Klang der Sirene hinter ihnen änderte sich. Sie wurde nicht wirklich lauter, aber sie klang jetzt irgendwie präsenter. Der Wagen war in die Straße eingebogen und näherte sich ihnen nun in direkter Linie. Spätestens jetzt, dachte Brenner, wäre eigentlich der Zeitpunkt gekommen, zu rennen.
Statt dessen blieb Salid stehen, warf einen raschen Blick nach rechts und links und deutete dann auf die Ecke des Klinikgebäudes, von der sie noch fünf oder sechs Meter entfernt waren. Die Klinik grenzte nicht unmittelbar an ein weiteres Gebäude, sondern an einen kleinen Park, der von einer gut zwei Meter hohen, weißgestrichenen Mauer umgeben war.
»Können Sie klettern?«
Die Frage galt Brenner, der sie mit einem energischen Kopfschütteln beantwortete. Die anstrengendste Sportart, zu der er sich in den letzten fünf oder sechs Jahren durchgerungen hatte, war Computerschach. Unter normalen Umständen hätte er sich vielleicht trotzdem zugetraut, das Hindernis zu überwinden, aber das hier war schließlich nicht normal: Er war noch immer halb blind und – da machte er sich nichts vor – am Ende seiner Kräfte. Im Augenblick war er schon heilfroh, wenn er ohne fremde Hilfe eineTürschwelle überwinden konnte.
»Dann wird es Zeit, daß Sie es lernen«, antwortete Salid. »Aber – «
Salid nahm seinen Protest nicht einmal zur Kenntnis, sondern versetzte ihm einen Stoß, der ihn gegen seinen Willen auf die Mauer zustolpern ließ, so daß er ganz instinktiv die Arme ausstreckte, um irgendwo Halt zu finden. Seine rechte Hand protestierte mit wütend pochenden Schmerzen, als sie unsanft über den weißgestrichenen Zement schrammte, aber Salid war bereits neben ihm, umschlang mit erstaunlicher Kraft seine Hüften und hob ihn einfach in die Höhe. Brenner griff ganz instinktiv nach der Oberkante der Mauer, und Salid machte das Kunststück komplett, indem er ihm einen weiteren Stoß versetzte, der ihn regelrecht über das Hindernis hinwegkatapultierte. Vermutlich war alles, was ihn vor einer ernsthaften Verletzung rettete, der weiche Grasboden auf der anderen Seite. Nur einen Augenblick später folgte ihm Johannes – auf weit elegantere Weise, aber offensichtlich auch nicht ganz aus freien Stücken – , und praktisch im gleichen Moment landete Salid mit einem federnden Satz zwischen ihnen. Wortlos beugte er sich zu Brenner herab und zog ihn auf die Füße.
»Geht es noch?«
Brenner nickte benommen mit dem Kopf – obwohl er in Wahrheit nicht einmal sicher war, auch nur noch einen einzigen weiteren Schritt tun zu können. Salid hätte sowieso keine Rücksicht darauf genommen.
»Sie müssen verrückt sein, wenn Sie glauben, daß die tatsächlich darauf hereinfallen«, sagte Johannes. »Jedes Kind kann sich denken, was Sie vorhaben. Ihr Fluchtwagen steht auf der anderen Seite der Klinik, stimmt's?«
»Wahrscheinlich haben sie uns sogar dabei beobachtet, wie wir über die Mauer gestiegen sind«, sagte Salid fröhlich. »Und was den Fluchtwagen angeht … ich hoffe doch, daß er bald kommt.« Er deutete nach rechts.
»Weiter.«
Brenner versuchte erst gar nicht, den Sinn dieser Worte zu
verstehen. Er hatte längst begriffen, daß Salid sicherlich
hochintelligent und in noch größerem Maße gefährlich war,
zugleich aber auch vollkommen verrückt.
Salid trieb sie unerbittlich weiter. So schnell, wie Brenner gerade noch konnte, entfernten sie sich vom Klinikgebäude, hielten sich aber nahe der Mauer. Brenner schätzte, daß sie allerhöchstens zwanzig Meter zurückgelegt hatten, als vor ihnen ein zuckender blauer Lichtblitz aufflammte und dann wieder erlosch: das Blaulicht eines der beiden Streifenwagen, das unweit vor ihnen durch die Gitterstäbe einesTores fiel. Das Heulen der Sirenen war mittlerweile so nahe gekommen, daß die beiden Laute ineinander übergingen und er sie nicht mehr richtig orten konnte. Auf der Mauerkrone tanzte ein blauer Schimmer entlang und verlor sich hinter ihnen wieder.
Salid deutete auf dasTor, legte selbst einen kurzen Sprint ein und blieb unmittelbar vor dem Gittertor stehen. Brenner konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber das Schloß hielt seinen Manipulationen nicht einmal so lange stand, wie Johannes und er brauchten, um Salid zu erreichen.
»Sehen Sie.« Salid deutete durch die Gitterstäbe auf die Straße hinaus. »Da kommt unser Fluchtfahrzeug.«
Johannes riß ungläubig die Augen auf. »Sind Sie verrückt?« »Komplett«, bestätigte Salid. »Das ist mein Erfolgsrezept. Der Grund, weshalb ich noch am Leben bin.« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Sie warten hier, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe. Wenn Sie zu fliehen versuchen, töte ich Sie.«
Für jemanden, der angeblich auf ihrer Seite stand, drohte er ziemlich oft damit, einen von ihnen umzubringen, fand Brenner. Er glaubte auch nicht, daß diese Drohung ernst gemeint war, aber seltsamerweise nutzte ihm diese Überzeugung nichts. Sie machte es nicht besser. Vielleicht war der Grund, aus dem er selbst Salid ebenso widerspruchslos gehorchte wie Johannes, weniger die Angst vor dem, was er ihnen androhte, als vielmehr davor, wozu er imstande war.
Und es kam noch etwas dazu: Im Grunde wußte er es schon die ganze Zeit über, aber er hatte es sich bisher noch nicht eingestanden, und er schrak auch jetzt noch vor dem Gedanken zurück – aber die Wahrheit war, daß Salid ihn faszinierte. Was er tat – nein, nicht was er tat, sondern weit mehr der Umstand, daß er all diese Dinge tat, daß er den Mut, die Kraft oder auch nur die Gewissenlosigkeit besaß, all diese Dinge zu tun, das berührte etwas tief in Brenner. Nicht den Abscheu, die Furcht und die gerechte Empörung, die er Menschen wie ihm gegenüber empfand, sondern etwas ganz anderes, etwas Dunkles und Uraltes, das in jedem Menschen schlummerte und das in Salid einen Bruder erkannte; die Bestie in ihm, welche die Bestie, die Salid vielleicht war, willkommen hieß.