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»Kein Problem«, sagte der Fremde.
»Im voraus.« Charlotte legte die Hand auf die Klinke, aber sie drückte sie noch nicht herunter, sondern wartete, bis der Fremde in seine Jacke griff und seine Brieftasche hervorzog.
Die Bewegung schien ein Signal für seinen Begleiter zu sein, näher zu kommen. Als er sich bewegte, zerfiel der massige Schatten zu zwei schlankeren, eng aneinandergeschmiegten Umrissen, und Charlotte zog die Hand so hastig wieder zurück, als wäre der Türgriff plötzlich rotglühend. Es waren zwei Männer. Der eine stützte den anderen.
»He, was – «
»Es ist nicht das, was Sie glauben«, sagte der Ausländer, ruhig, aber so schnell, daß Charlotte ziemlich sicher war, daß es ganz genau das war, was sie glaubte. »Unserem Freund ist nicht gut. Er ist krank. Deshalb können wir heute nacht auch nicht weiter.«
»Krank?«
»Es ist nichts Ansteckendes, keine Sorge.« Der Fremde lächelte noch unechter, klappte seine Brieftasche auf und zog zwei zusammengefaltete Hunderter hervor. »Selbstverständlich zahlen wir mehr. Schließlich sind wir auch zu dritt.«
Charlotte zögerte, nach den beiden Banknoten zu greifen, die ihr der Fremde durch das Kolibri-Fenster hinhielt. Sie konnte das Geld gut gebrauchen, und die drei waren auch nicht das erste Schwulen Trio, das hierherkam und sich für ein paar Stunden einmietete. Aber da war etwas in der Stimme des
Fremden gewesen, was sie alarmierte, etwas wie eine Drohung. Nein, keine Drohung … Es klang verrückt, aber genau diesen Eindruck hatte sie: Seine Stimme klang, als wäre er es gewohnt, Drohungen auszustoßen, und bemühte sich nun mit aller Macht, es nicht zu tun. Irgend etwas sagte ihr, daß sie diese drei Fremden besser nicht aufnehmen sollte.
»Es … gibt ein Krankenhaus, nur zwei Blocks entfernt von hier«, sagte sie zögernd. »Wenn Ihr Freund so krank ist, ist er dort vielleicht besser aufgehoben. Und auch billiger.«
»Das ist nicht nötig.« Zwischen Zeige-und Mittelfinger des Ausländers erschien wie hingezaubert ein dritter Hunderter. »Wir wissen, was ihm fehlt. Er braucht nur ein paar Stunden Schlaf, das ist alles.«
Charlotte starrte das Geld an, dann noch einmal die beiden aneinandergeklammerten Gestalten hinter dem Ausländer, aber schließlich siegte ihre Gier. Sie nahm das Geld an sich, öffnete die Tür und trat einen Schritt zurück. Der Ausländer drehte sich herum, ging zu den beiden anderen zurück und legte sich den Arm der reglosen Gestalt über die Schultern. Zumindest in diesem Punkt hatte er nicht gelogen – der Bursche sah nicht nur krank aus, er war eindeutig bewußtlos. Selbst in der schlechten Beleuchtung konnte Charlotte erkennen, daß sein Gesicht kalkweiß war.
»Sind Sie sicher, daß Ihr Freund keinen Arzt braucht?« fragte sie.
»Ganz sicher. Ein paar Stunden Schlaf, und er ist wieder in Ordnung. « Der Ausländer schüttelte den Kopf und sah sie offen an, während sein Begleiter rasch den Blick senkte. Offenbar wollte er nicht erkannt werden. Aber Charlotte entging keineswegs, wie nervös er war. In der Ferne hörte sie wieder eine Polizeisirene. Sie fragte sich, ob das Auftauchen dieser drei sonderbaren Burschen etwas damit zu tun hatte. Wenn, war es nicht ihr Problem. Achselzuckend trat sie beiseite, um den Eingang freizugeben, und deutete zugleich hinter sich.
»Die erste Etage. Sie können sich ein Zimmer aussuchen. Die Türen sind offen.«
Wenn dem Ausländer dies sonderbar vorkam – was es ja schließlich auch war – , so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er nickte nur und ging so rasch an ihr vorbei, daß sein Begleiter Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten und den reglosen Burschen zwischen ihnen fast losgelassen hätte. Charlotte fiel erst jetzt auf, daß der Ausländer ein Jackett trug, das ihm um mindestens zwei Nummern zu klein war. Und der bewußtlose Typ sah auch so aus, als käme er aus der Kleiderkammer der Heilsarmee. Sie hatte einen Blick für so was.
»Frühstück gibt es keines«, rief sie den dreien hinterher. »Aber auf dem Zimmer steht eine Kaffeemaschine. Und um elf fängt der nächste Tag an. Wenn Sie dann noch da sind, müssen Sie nachzahlen.«
»Das geht in Ordnung. So lange bleiben wir bestimmt nicht.«
Charlotte blickte den dreien nach, bis sie die Treppe erreicht hatten und aus ihrem Sichtfeld verschwanden. Sie war völlig verwirrt – und sie hatte Angst und wußte nicht einmal genau, wovor. Im Grunde nicht vor diesen drei Männern; obwohl der Ausländer in seinem viel zu kleinen Anzug und mit seiner seltsamen Art zu reden schon reichlich unheimlich war. Aber das war es nicht. Charlotte hatte Erfahrung mit unheimlichen Gästen. Diese drei waren seltsam, aber es waren längst nicht die schrägsten Vögel, die sie je aufgenommen hatte, und sicherlich auch nicht die gefährlichsten. Aber etwas an ihnen war anders. Anders als an allen anderen, die sie jemals aufgenommen hatte.
Sie schloß dieTür, ließ das Kolibri-Fenster aber geöffnet und blickte im Schein des hereinströmenden Mondlichtes auf die drei Banknoten, die sie noch immer in der rechten Hand hielt. Dreihundert – ein guter Preis für eine Nacht; zumal, wenn sie nur noch zwei oder drei Stunden lang war. Eigentlich zu viel, selbst für ein Schwulentrio, das eine verschwiegene Unterkunft suchte. Aber dafür hielt Charlotte die drei schon längst nicht mehr. Vielmehr fragte sie sich, ob jemand, der so viel Geld nur dafür bezahlte, hereingelassen zu werden und keine dummen Fragen beantworten zu müssen, nicht vielleicht auch bereit war, noch viel mehr zu bezahlen.
Vielleicht. Aber vielleicht war er auch bereit, noch ganz andere Dinge zu tun, um sein Inkognito zu wahren. Sie ließ den Gedanken, den dreien zu folgen und mehr zu verlangen, rasch wieder fallen und verstaute das Geld hastig in der Kitteltasche. Sie hatte gelernt, daß ihre Gäste ein gewisses Maß an Gier akzeptierten, ja, sogar erwarteten, es aber nicht gut war, den Bogen zu überspannen. Dieses gewisse Maß zu überschreiten konnte sogar ausgesprochen ungesund sein.
Außerdem konnte sie das Geld verdammt gut gebrauchen. Die Dreihundert würden sie für den Rest der Woche aller finanzieller Sorgen entheben, und das war schon mehr, als sie in den meisten Wochen behaupten konnte. Sie schloß die Fensterklappe und verriegelte sorgfältig die Tür. Es konnte ihr gleich sein, was diese drei dort oben taten und wer sie waren. Es hatte ihr gleich zu sein.
Aber tief in sich wußte sie, daß das nicht stimmte. Es hatte niemals gestimmt. Nur war es ihr noch niemals so klar gewesen wie heute.
Sie schüttelte unwillig den Kopf, zwang ein grimmiges Lächeln auf ihre Lippen und versuchte den Gedanken zu verscheuchen, wie sie es schon so oft getan hatte. Es ging nicht. Statt in das Gefängnis zurückzukehren, in das sie ihn und andere, ähnliche schon vor zehn oder vielleicht auch zwanzig Jahren eingesperrt hatte und an dessen Wänden sie seither unentwegt weitergemauert hatte, wurde er im Gegenteil eher stärker, und dann, ganz plötzlich, war es ihr, als hebe sich ein Schleier von ihren Augen, und zum erstenmal seit – seit Jahren? seit einem Jahrzehnt? überhaupt? – seit langer, langer Zeit sah sie ihre Umgebung so, wie sie wirklich war: Das Hotel war schon längst kein Hotel mehr, sondern eine heruntergekommene Absteige, in der die Gäste nach Stunden bezahlten und das nicht einmal mehr verblichenen Glanz zeigte, sondern einfach nur noch schäbig war.
Charlotte blinzelte. Sie fühlte sich … fremd, und das auf eine unheimliche, kaum in Worte zu fassende Weise. Sie lebte seit annähernd vierzig Jahren in diesem Haus, aber sie hatte es niemals zuvor mit einer solchen Klarheit gesehen wie jetzt: eine Blinde, der plötzlich das Augenlicht zurückgegeben worden war, so daß sie sich in ihrer ein Leben lang vertraut geglaubten Umgebung nicht mehr zurechtfand. Alles hier war schäbig. Es war billig, und es war vor allem eines: verlogen.
Das war nicht immer so gewesen, aber sie konnte sich einfach nicht daran erinnern, wann dieses Haus aufgehört hatte, ein Haus zu sein, und zum Grab ihrerTräume und dem Kerker ihres Gewissens zu werden begann. Vor zehn Jahren? Vor zwanzig? Oder schon damals, als sie dieses Haus übernommen hatte, selbst noch fast ein Kind, das am Grab seiner Eltern ein Geschenk entgegennahm, ohne zu ahnen, was es sich selbst und seiner Seele damit antat?
Charlotte machte einen Schritt, blieb wieder stehen und sah sich aus weit aufgerissenen Augen um, deren Ausdruck, hätte sie ihn sehen können, sie selbst mehr als alles andere erschreckt hätte. Zumindest hier unten und in den drei kleinen Räumen, die sie selbst bewohnte, blitzte alles vor Sauberkeit, aber das änderte nichts daran, daß sie plötzlich das Gefühl hatte, im Schmutz zu ersticken. Wann hatte es angefangen? Wann, um Gottes willen, hatte sie aufgehört, sich um Dinge zu kümmern, die sie nichts angingen, und wann hatte sie angefangen, tatsächlich an all die Lügen zu glauben, mit denen sie seither lebte?
Sie wußte es nicht, und vielleicht war das das Schlimmste überhaupt. Sie konnte nicht einmal mehr sagen, wann sie sich selbst verraten hatte. Sie
Der Vorhang wurde so abrupt wieder zugezogen, wie er sich gehoben hatte, und von einer Sekunde auf die andere erschienen ihr ihre Gedanken ebenso bizarr und dumm, wie sie der Anblick ihres eigenen Hauses erschreckt hatte.
Was für ein Unsinn!
Sie schüttelte übertrieben heftig den Kopf, lächelte nervös und warf noch einmal einen Blick in die Richtung, in der das sonderbareTrio verschwunden war. Was war los mit ihr? Wurde sie allmählich senil, oder hatten die drei sie nur in einem ungünstigen Moment erwischt? Es konnte ihr nicht nur egal sein, was diese drei dort oben trieben, es war ihr egal, verdammt noch mal, sogar scheißegal. Es ging sie nichts an. Jeder hatte das Recht, sein eigenes Leben zu leben und zu tun und zu lassen, was immer er wollte. Wenn sie ihnen das Zimmer nicht vermietete, würden sie es eben auf dem Rücksitz eines Autos treiben oder in irgendeinem Park. Es änderte nichts. Und es ging sie nichts an.
Charlotte straffte die mageren Schultern, drehte sich endgültig herum und machte sich auf den Rückweg in die Küche. Dort gab es Ungeziefer, das sie wirklich beseitigen sollte.
Gegen jede Erwartung war er noch im Wagen wieder eingeschlafen. Vielleicht war es nichts als eine verspätete Reaktion auf irgendeine der Drogen, mit denen er noch immer bis zum Stehkragen vollgestopft war, vielleicht auch eine ganz natürliche Abwehrreaktion seines Körpers, mit dem dieser auf den Streß und die Angst reagierte; möglicherweise war es auch nur seine Art, wie eine hysterische Jungfer in Ohnmacht zu fallen – so oder so, als Brenner erwachte, konnte er sich weder erinnern, wo er war, noch, wie er hierhergekommen war. Er lag wieder einmal auf einem Bett, er hatte wieder einmal Kopfschmerzen, und er erwachte wieder einmal mit der quälenden Erinnerung an einen völlig konfusen Alptraum.
Aber damit hörte jede Ähnlichkeit mit den vergangenen dreiTagen auch schlagartig auf.
Die Decke über seinem Kopf war nicht weiß, sondern hatte eine undefinierbare, schmuddelige Färbung und ein unregelmäßiges Muster aus Wasserflecken. Sie schien einmal einen Stuckrand gehabt zu haben, der jetzt aber fast bis zur Unkenntlichkeit weggebrochen war. In der Luft lag ein leichter, aber sehr unangenehmer Geruch: eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, zu lange nicht gewechselter Bettwäsche, verschiedenen Essensdünsten. Und das Bett, auf dem er lag, war hart. Er spürte die Federn der durchgelegenen Matratze schmerzhaft irn Rücken. Außerdem war es kalt.
Und er war nicht allein. Statt des leisen Summens seiner elektronischen Wachhunde hörte er Stimmen, die zwar kaum lauter – und übrigens auch kaum besser verständlich – waren, aber es waren menschliche Stimmen, die sich unterhielten, und er mußte wohl trotz allem zumindest unbewußt einen Teil der Worte identifiziert haben, denn er begriff immerhin, daß es sich bei dieser Unterhaltung um ihn drehte.
Langsam wandte er den Kopf, wobei der Anblick der schmuddeligen Zimmerdecke über ihm in einer allmählichen Drehbewegung dem einer kaum besser erhaltenen Wand mit billigen Tapeten und einem lieblos gerahmten Kaufhausgemälde wich, bis er die beiden Männer sah, die auf der anderen Seite des Zimmers an einem kleinenTisch saßen und leise, aber trotzdem sehr heftig miteinander diskutierten. Ihre Worte wollten noch immer keinen Sinn ergeben, aber die sie begleitende Gestik tat es sehr wohl. Er wurde Zeuge von etwas, das vielleicht noch nicht ganz ein Streit war, es aber bald werden würde.
Erst dann wurde ihm klar, wie ungewöhnlich diese Beobachtung war. Nicht was er sah, sondern daß er es sah. Vor seinen Augen war kein grauer Nebel mehr. Er bemerkte noch einige wenige trübe Flecken, die aber nach und nach verschwanden und vielleicht nur Reste der Müdigkeit waren, die er noch nicht ganz abgeschüttelt hatte, aber er konnte sehen. Fast hundertprozentig.
Seine Bewegung war den beiden Männern am Tisch nicht entgangen. Sie unterbrachen ihr Gespräch und drehten sich in seine Richtung, und als Brenner in ihre Gesichter sah, erinnerte er sich zuerst an ihre Namen und dann, schlagartig, an alles andere.
Nicht, daß er besonders wild auf diese Erinnerung gewesen wäre …
»Sie sind wach«, sagte Salid. »Das ist gut.« Johannes fügte hinzu: »Wie fühlen Sie sich?«
»Hm«, antwortete Brenner – was seiner Meinung nach eine durchaus angemessene Antwort auf beides darstellte. Er war auch nicht ganz sicher, ob es wirklich gut war, wach zu sein. Und wie er sich fühlte.
»Was ist passiert?« fragte er. »Wo sind wir?«
» In Sicherheit«, antwortete Salid. »Aber ich fürchte, nicht für sehr lange.«
Johannes stand wortlos auf und durchquerte mit wenigen Schritten das kleine Zimmer, um zu einem Waschbecken neben derTür zu treten. Brenner konnte hören, wie er ein Glas Wasser einlaufen ließ, und allein das Geräusch weckte seinen Durst. Zumindest wußte er jetzt, wo sie waren: ein billiges Bett, ein ebenso einfacher Schrank, seit einem Jahrzehnt nicht mehr gestrichene Tapeten und das obligate Waschbecken an der Wand neben der Tür: Brenner kannte Zimmer wie diese zur Genüge. In den letzten Jahren hatte er es vermeiden können, in Hotels dieser Kategorie zu nächtigen, aber er kannte sie.
»Halten Sie das für klug?« fragte er, während er sich vorsichtig aufsetzte und auf den gewohnten Schwindelanfall wartete. Er kam nicht.
»Was?« fragte Salid.
»Das hier ist ein Hotel, nicht?« Brenner machte eine ausholende Handbewegung und fuhr fort, ohne Salids Antwort abzuwarten. »Hier werden sie uns wahrscheinlich zuallererst suchen. « Gleichzeitig fragte er sich, warum um alles in der Welt er das eigentlich sagte. Das einzige, was ihn interessieren sollte war, daß sie sie fanden – wer immer sie sein mochten.
Johannes kam zurück und reichte ihm mit der einen Hand ein Glas Wasser, mit der anderen zwei kleine, in der Mitte eingekerbte Tabletten. Brenner griff dankbar nach dem Glas, zögerte aber spürbar, nach den Pillen zu greifen.