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Johannes lächelte. »Aspirin«, antwortete er. »Ehrenwort, sonst nichts. Ich dachte mir, Sie könnten sie vielleicht gebrauchen.«
Damit hatte er nur zu recht. Brenner hatte Kopfschmerzen;
nicht erst jetzt, sondern schon seit er erwacht war, aber sie bisher aus irgendeinem Grunde noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen. Johannes' Worte änderten das schlagartig. Er spürte nicht nur das dröhnende Hämmern hinter seiner Stirn, er erinnerte sich auch plötzlich daran, daß es die ganze Zeit über dagewesen war. Mit zitternden Fingern griff er nach den beiden Tabletten, legte sie auf seine Zunge und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser herunter. Die Tabletten waren geschmacklos, aber das Wasser schmeckte scheußlich: viel zu warm und nach den alten Bleirohren, durch die es geflossen war.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Johannes noch einmal, nachdem Brenner ihm das Glas zurückgegeben und er es achtlos neben sich auf den Boden gestellt hatte. »Was machen Ihre Augen?«
Im Moment schrien sie danach, zuzufallen. Er war immer noch müde, zugleich aber auch in einem so angespannten Zustand, daß er jetzt garantiert nicht einschlafen würde; selbst wenn er die Gelegenheit und Zeit dazu gehabt hätte.
»Es geht«, antwortete er. »Ich kann schon wieder fast normal sehen. Bei der Gelegenheit – wieso tragen Sie eine rote Perücke?«
Johannes sah ihn eine Sekunde lang verwirrt an, und er setzte tatsächlich dazu an, die Hand an den Kopf zu heben, dann lachte er. Allerdings klang es eher pflichtschuldig als überzeugt. Eigentlich hatte er recht, dachte Brenner – es war nicht unbedingt der passende Moment, um Witze zu machen.
»Es ist fast wieder normal«, sagte er nach einer weiteren Sekunde. »Was immer man mir gegeben hat, scheint nicht mehr zu wirken.«
Er hatte mit irgendeiner Antwort gerechnet – zumal Johannes ja eine entsprechende Frage gestellt hatte, aber weder der Geistliche noch Salid sagten etwas. Als Brenner aufsah, bemerkte er, daß sie einen raschen Blick miteinander tauschten; einen Blick einer ganz besonderen Art. Einer Art, die ihm nicht gefiel.
»Also gut«, sagte er. »Ich glaube, allmählich wäre mir einer von euch beiden eine Erklärung schuldig.«
Er sah erneut von Salid zu Johannes und wieder zurück, und wieder entdeckte er in ihren Blicken eine Gemeinsamkeit, die ihn nicht nur überraschte, sondern auch ein wenig besorgter werden ließ, als er es ohnehin schon war. Unbeschadet von allem, was er gerade selbst behauptet hatte, war er natürlich alles andere als in Ordnung. Ganz im Gegenteil, er fühlte sich vorsichtig ausgedrückt – beschissen. So ziemlich alles, was zu seinem Körper gehörte, tat auf die eine oder andere Weise weh, und über seinem Bewußtsein schien noch immer ein Schleier aus farbloser Watte zu liegen, der es ihm unmöglich machte, mehr als zwei zusammenhängende Gedanken zu denken. Aber so benommen, daß er nicht spürte, daß zwischen den beiden irgend etwas vorging, war er nun wieder nicht. Er hätte schon blind sein müssen, um das zu übersehen.
»Ich fürchte, dazu ist im Moment – «, begann Johannes, aber Salid unterbrach ihn.
»Wir haben genug Zeit. Vielleicht für eine ganze Weile zum letztenmal. «
Johannes runzelte die Stirn, aber er widersprach nicht. Er sagte allerdings auch nichts mehr, sondern trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, was ihn trotz seiner Größe und seiner eigentlich stattlichen Erscheinung mehr als alles andere wie ein trotziges Kind erscheinen ließ. Zum erstenmal fiel Brenner auf, wie jung der Geistliche noch war; was vielleicht ganz einfach an dem banalen Grund lag, daß er ihn jetzt auch zum erstenmal wirklich sah, nicht nur als Schemen mit einem verschwommenen Fleck dort, wo sein Gesicht sein sollte. Er korrigierte seine bisherige Schätzung ein gutes Stück nach unten. Johannes war keinenTag älter als dreißig.
»Sie sind okay?« fragte Salid plötzlich.
Brenner sah ihn verständnislos an, aber Salid wiederholte seine Frage noch einmal und unterstrich sie mit einer entsprechenden Geste. »Es ist wichtig. Ich meine, Sie verstehen, was ich sage. Sie sind nicht mehr … betäubt oder so etwas?«
»Ich verstehe, daß ich offenbar mit zwei Verrückten zusammen bin«, antwortete Brenner verärgert. »Und ich verstehe auc h, daß ich gekidnappt worden bin – und wahrscheinlich eine ganze Hundertschaft Polizei nach mir sucht. Sehr viel mehr verstehe ich allerdings nicht. Sollte ich?«
Sein eigener aggressiver Ton überraschte ihn selbst, und er erschreckte ihn auch ein bißchen, denn Brenner erinnerte sich jäh daran, mit wem er da eigentlich sprach. Aber Salid reagierte ganz anders, als er erwartete. Er wurde weder zornig, noch lachte er oder verwies ihn sonstwie in seine Schranken, sondern maß ihn nur mit einem langen, abschätzenden Blick. Dann tat er etwas, das Brenner nicht verstand: Er griff in dieTasche, zog die Pistole heraus, die er dem Polizeibeamten abgenommen hatte, und entsicherte sie. Mit einer übertrieben deutlichen Bewegung legte er sie vor sich auf dieTischplatte.
»Was … soll das?« fragte Brenner. Sein Herz klopfte.
»Sie sollen sehen, daß ich es ehrlich mit Ihnen meine«, antwortete Salid. »Ich habe Pater Johannes hier das gleiche Angebot gemacht – fragen Sie ihn, wenn Sie wollen. «
»Was für ein Angebot?« fragte Brenner mißtrauisch.
»Sie können gehen«, antwortete Salid. Diesmal ließ er ganz bewußt eine Sekunde verstreichen, ehe er fortfuhr: »Ich meine es ernst. Sie können aufstehen und gehen, wenn Sie das wollen. Ich werde Sie nicht daran hindern. Ich verlange nichts von Ihnen, als daß Sie mir zuhören. Und wenn Sie nach dem, was ich Ihnen zu sagen habe, immer noch der Meinung sind, daß Sie nicht bleiben wollen, sind Sie frei. Nehmen Sie die Waffe, wenn Sie mir nicht glauben.«
Brenner rührte keinen Finger, um nach der Pistole zu greifen. Zum einen war Salids Angebot nicht nur theatralisch und vollkommen überflüssig – hatte er nicht vor ein paar Augenblicken erst mit Nachdruck verlangt, endlich zu erfahren, was hier gespielt wurde? – , und zum anderen machte es wahrscheinlich keinen großen Unterschied, wer von ihnen die Waffe in der Hand hatte oder nicht. Wenn Salid ihn daran hindern wollte, dieses Zimmer zu verlassen, dann würde er es tun, so oder so.
Da er nicht antwortete, schien Salid sein Schweigen als Zustimmung zu deuten – und so ganz nebenbei hatte er wohl auch Brenners Gedanken erraten oder sie in seinen Augen gelesen, denn er griff wieder nach der Waffe, sicherte sie und ließ sie in die Jackentasche gleiten. Während er dies tat, fragte er wie beiläufig: »Glauben Sie an Ihren Gott?«
So sehr Brenner auch die Frage – ausgerechnet diese Frage in diesem Moment verblüffte, fiel ihm doch die außergewöhnliche Formulierung auf. Er ging nicht darauf ein, aber er war trotzdem sehr sicher, daß es nicht daran lag, daß sich Salid nicht in seiner Muttersprache ausdrückte. »Wieso?«
»Beantworten Sie meine Frage«, verlangte Salid. »Ehrlich.« Das war das Problem. Eigentlich konnte Brenner das nicht. »Nein«, sagte er. Dann zuckte er mit den Schultern, warf Johannes einen beinahe hilfesuchenden Blick zu – den dieser allerdings ignorierte – und relativierte seine Antwort selbst. »Vielleicht. Ich … ich weiß es nicht.«
Was, zum Teufel, sollte das? Welche Rolle spielte es verdammt noch mal, ob er ein gläubiger Mensch war oder nicht? »Sie haben noch nie wirklich darüber nachgedacht, nicht wahr?« vermutete Salid.
»Und wenn?« fragte Brenner. »Welche Rolle spielt – ?« »Jede«, unterbrach ihn Salid. »Die einzige überhaupt. Oder vielleicht auch keine – ich weiß es nicht. Es würde es leichter machen, denke ich. Wenigstens für mich.«
»Aha«, sagte Brenner. Was ungefähr genau das ausdrückte, was er im Augenblick empfand. Das Gespräch begann allmählich nicht nur bizarr, sondern schon surrealistisch zu werden. Er konnte nicht sagen, was er eigentlich erwartet hatte
–wahrscheinlich nichts, denn seit Salids Auftauchen in seinem Krankenzimmer hatten sich die Dinge derart überschlagen, daß er kaum zum Denken gekommen war – , aber das auf jeden Fall nicht. Er wußte nicht viel über Salid, aber immerhin so viel, daß dieser mit großer Wahrscheinlichkeit für den Tod etlicher unschuldiger Menschen verantwortlich war, daß es sich bei ihm um einen der meistgesuchtenTerroristen der Welt handelte und daß er mit noch größerer Wahrscheinlichkeit ziemlich verrückt war. Was er nicht erwartet hatte, war, auf einen religiösen Fanatiker zu treffen – dabei lag der Gedanke eigentlich nahe. Gerade bei einem Mann wie Salid.
Salid lächelte schmerzlich. »Ich verstehe, daß Sie mich jetzt für verrückt halten«, sagte er. »Ich wünschte mir fast, ich wäre es. Aber ich fürchte, so leicht ist es nicht. Noch vor ein paarTagen … « Er verlor für einen Moment den Faden und zugleich auch irgendwie die Kontrolle über seinen Blick. Er irrte hierhin und dorthin, glitt hilfesuchend über Brenners Gesicht und weiter, ein seltenesTier, das dasTageslicht scheute und verzweifelt nach einem Versteck suchte.
Etwas Sonderbares geschah. Brenner sollte alles mögliche für diesen Mann empfinden – Abscheu, Haß, Furcht, Ekel – , aber alles, was er für einen kurzen Moment spürte, war Mitleid. Mörder oder nicht, vor ihm saß ein Mensch, der Höllenqualen litt. »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte er.
»Wenn ich das wüßte«, murmelte Salid. »Alles ist plötzlich so … anders. Vor ein paarTagen hätte ich Ihnen diese Frage beantworten können, aber jetzt … «
»Sie meinen, Sie wissen nicht, warum Sie mich entführt haben?« fragte Brenner, zögerte einen Moment und fügte mit einer Kopfbewegung auf Johannes hinzu: »Und ihn?« Sein Zögern hatte einen Grund. Er war mittlerweile nicht mehr sicher, ob Salid Johannes tatsächlich entführt hatte.
»Wissen?« Salid lächelte erneut dieses sonderbar schmerzliche Lächeln, das Brenner jetzt aber eindeutig unheimlich vorkam. Vielleicht war es gar das Lächeln eines Wahnsinnigen. »Was heißt schon wissen? Die meisten Menschen verwechseln wissen mit glauben, ist Ihnen das eigentlich klar?« Er deutete auf Johannes, dann auf sich. »Sehen Sie ihn an und mich. Vor ein paarTagen noch hätte ich diesen Mann für meinen Erzfeind gehalten. Die Inkarnation von allem, was ich hasse und verabscheue. Ein Christ.«
»Dabei beten wir beide zu dem gleichen Gott«, sagte Johannes.
»Und allein für diese Bemerkung hätte ich Sie wahrscheinlich getötet«, fügte Salid hinzu.
»Sie sprechen sehr viel vomTöten«, sagte Johannes. Er gab sich Mühe, ruhig zu klingen, aber es gelang ihm nicht völlig. »Es ist alles, was ich kann«, antwortete Salid leise. »Der Grund, aus dem wir hier sind. «
Brenner fuhr ein ganz kleines bißchen zusammen, und er sah aus den Augenwinkeln, daß auch Johannes' zur Schau getragene Selbstbeherrschung ein wenig mehr abbröckelte. Welches Angebot Salid Johannes auch immer gemacht zu haben behauptete – sie hatten offensichtlich nicht über alles gesprochen. Und ebenso offensichtlich kam jetzt der unangenehme Teil. Seine Hände wurden feucht.
Zwei, drei Sekunden verstrichen, dann ging abermals eine deutliche Veränderung mit Salid vonstatten, diesmal aber in umgekehrter Richtung. Brenner konnte regelrecht sehen, wie der Palästinenser die Kontrolle über seine Gefühle zurückerlangte. Die erschreckende Kraft, die für ein paar Sekunden aus seinem Blick gewichen war, kehrte wieder zurück, und er straffte sich auch körperlich. Mit einem Ausdruck deutlicher Verblüffung sah er Johannes und ihn an, als würde ihm erst in diesem Moment klar, wie seine Worte auf die beiden wirken mußten.
»O nein«, sagte er, »Sie täuschen sich. Ich bin nicht hier, um Sie zu töten. Im Gegenteil.«
Er setzte sich weiter auf und griff in die Jackentasche – nach Brenners fester Überzeugung aus keinem anderen Grund als dem, die Pistole hervorzuziehen und dieser Farce endlich ein Ende zu machen. Statt dessen zog er nur eine Packung Zigaretten hervor und riß ein Streichholz an. Seine Hände zitterten noch immer leicht.
Brenner und Johannes tauschten einen raschen Blick. Vielleicht hatte sich Brenner in dem Geistlichen doch getäuscht, zumindest was sein Verhältnis zu Salid anging. Er sah nicht die Spur von Verstehen in seinen Augen; nur Verwirrung und eine tief eingegrabene, bohrende Furcht, die einen vollkommen an deren Grund zu haben schien als die, die Brenner selbst verspürte.
»Warum erzählen Sie uns nicht einfach, warum wir hier sind?« fragte Johannes.
Salid stieß eine Rauchwolke durch die Nase aus, wedelte mit der flachen Hand vor dem Gesicht und sagte: »Weil ich Ihre Hilfe brauche.«
Der einzige Grund, aus dem Brenner dieses Eingeständnis nicht überraschte, war vermutlich der, daß ihn gar nichts mehr überraschen konnte, was Salid sagte oder tat. Wenigstens redete er sich das ein. »Wobei?«
»Bei dem einzigen, was ich kann«, antwortete Salid. »Ich muß jemanden töten.«
»Und dazu brauchen Sie unsere Hilfe?« Brenner riß ungläubig die Augen auf. »Wie kommen Sie auf die Idee, daß wir das könnten? Oder es gar wollten? «
»Es hat mit dem Kloster zu tun«, antwortete Salid. »Mit dem, was ich darin entdeckt habe. Ich erkläre es Ihnen, aber zuerst möchte ich, daß Sie mir ein paar Fragen beantworten. Was wollten Sie dort? Wieso waren Sie und das Mädchen da?«