122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 35

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»Woher wissen Sie von dem Mädchen?« fragte Brenner scharf. Er konnte nicht sagen, warum, aber es war ihm unangenehm, daß Salid von Astrid sprach. Er rührte damit an eine Erinnerung, die er lieber vergessen hätte.

»Ich weiß es«, sagte Salid. »Woher, spielt keine Rolle. Wieso waren Sie da?«

»Wenn Sie so gut informiert sind, sollten Sie das auch wissen«, antwortete Brenner feindselig. »Es gab keinen Grund. Es war ein Zufall.«

»Ich habe schon vor Jahren aufgehört, an Zufälle zu glauben.«

»Aber es war so«, verteidigte sich Brenner. »Wir wußten nicht einmal, daß dieser Ort existiert. Ich bin in der Nähe mit dem Wagen liegengeblieben, und wir sind losgelaufen, um irgendwo zu telefonieren. Das ist alles.«

»Und Sie?« Salid wandte sich mit einer ruckhaften Bewegung an Johannes, der ganz instinktiv eine leicht gespannte Verteidigungshaltung annahm. Etwas an ihrem Gespräch änderte sich, ganz plötzlich und so nachhaltig, daß weder Johannes noch er eine Chance hatten, darauf zu reagieren. Aus Salids Erklärung wurde jählings ein Verhör, bei dem sie antworteten, statt Antworten zu bekommen.

»Ich weiß noch viel weniger«, sagte er. »Ich habe erst aus den Nachrichten überhaupt von seiner Existenz erfahren.« »Das glaube ich Ihnen sogar«, sagte Salid. »Aber ich glaube Ihnen nicht, daß Sie weniger wissen als Brenner. Dieser andere Mann, mit dem Sie gesprochen haben – «

»Alexander?« fragte Johannes. »Den Sie umgebracht haben?«

Salid starrte ihn an. Er schwieg eine volle Sekunde, dann führte er den begonnenen Satz in unverändertem Tonfall weiter: »– wer war er? Er gehörte zum Kloster, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete Johannes. »Niemand von dort hat überlebt. «

»Erzählen Sie mir von diesem Alexander. Wer war er? Was war er?«

Johannes schwieg, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich abermals, und Brenner begriff, daß er nicht der einzige hier im Raum war, der Erinnerungen hatte, die ihm unangenehm waren.

»Ich werde es Ihnen leichter machen«, fuhr Salid fort. »Ich sage Ihnen einfach, was ich weiß, und Sie antworten mit ja oder nein, einverstanden?« Er nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette, sah sich vergeblich nach einem Aschenbecher um und drückte sie schließlich kurzerhand auf derTischplatte aus. Der Anzahl der Brandflecke nach zu schließen, war er nicht der erste, der das tat.

»Ich nehme an, es gibt eine Art … Geheimbund in Ihrer Kirche. Er nennt sich natürlich nicht so, aber es läuft darauf hinaus. Eine kleine Gruppe weißhaariger alter Männer, die ein gewaltiges Geheimnis hüten und über erstaunliche Macht verfügen. Richtig?«

»Woher wissen Sie das?« fragte Johannes verblüfft.

Salid lächelte. »Weil es so etwas überall gibt, in jeder Religion«, antwortete er. »Auch bei uns. Man weiß von ihnen, man redet hinter vorgehaltener Hand über sie und hütet sich, ihnen zu nahe zu kommen, aber im Grunde nimmt man sie nicht besonders ernst. Wie viele solcher Organisationen gibt es in Ihrer christlichen Kirche? Zwanzig? Fünfzig?«

»Wahrscheinlich mehr«, antwortete Johannes. »Aber Alexanders Leute – «

»– sind anders«, fiel ihm Salid ins Wort. »Irgend etwas unterscheidet sie von den anderen. Sie sind unauffälliger. Sie sind nicht wie die anderen, die ihr Geheimnis gerade weit genug lüften, um alle Welt wissen zu lassen, daß sie ein Geheimnis haben. Und es gibt sie schon sehr lange. Seit Jahrhunderten.« »Woher wissen Sie das?« fragte Johannes noch einmal. Brenner konnte sehen, wie langsam das Blut aus seinem Gesicht wich. Er verstand diesen Schrecken nicht wirklich. Was Salid erzählte, war nicht gerade sensationell.

»Weil ich ihr Geheimnis kenne«, antwortete Salid. »Und ich denke, Sie kennen es auch. Sie beide.«

Johannes schwieg verbissen, aber Brenner sagte voller ehrlicher Überzeugung: »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie überhaupt reden. Was … was soll denn dieser ganze Unsinn überhaupt? Haben Sie uns beide wirklich entführt, um uns … irgend etwas über Geheimbünde zu erzählen?«

»Ich rede von diesem Kloster, Brenner«, antwortete Salid ernst. »Und von dem, was darin gefangen war. Eine sehr, sehr lange Zeit.«

»Gefangen?« Brenner versuchte zu lachen. Es mißlang. »Da war nichts … gefangen.«

»Es war gefangen, und jetzt ist es frei«, sagte Salid ruhig. »Ich habe es gesehen.« Er antwortete in ihrer beider Richtung, aber er sah dabei fest Johannes an. Brenner folgte seinem Blick, und als er in Johannes Augen sah, lief ihm erneut ein eisiger Schauer über den Rücken.

Der Geistliche wirkte nicht überrascht oder verwirrt oder gar ungläubig. Alles, was Brenner in seinem Blick las, war ein so abgrundtiefes Entsetzen, daß Worte nicht ausreichten, es zu beschreiben. Es kostete Brenner unendliche Mühe, sich vom Anblick dieses vom Terror beherrschten Gesichtes zu lösen und sich wieder an Salid zu wenden. Er spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann.

»Wovon … reden Sie?« fragte er stockend.

»Schweigen Sie! « krächzte Johannes. »Reden Sie nicht weiter! Das ist … das ist Gotteslästerung! «

Salid sah ihn beinahe traurig an, und etwas Neues erschien in seinem Gesicht. Es war zumTeil eine Furcht, die ebenso tief und unbeschreiblich war wie die, die er in Johannes' Augen gelesen hatte, aber zu diesem Entsetzen gesellte sich auch noch etwas anderes: eine Entschlossenheit und Kraft, die mindestens ebenso groß war; und Brenner beinahe noch mehr erschreckte als das Grauen, das sich in Johannes' Blick spiegelte.

»Sie haben etwas dort gefangen gehalten, Brenner«, sagte er leise. »Ich habe es gesehen. Ich habe ihm gegenübergestanden.« Er griff wieder in die Jackentasche, und diesmal zog er wirklich die Pistole hervor. Brenner spürte aber auch instinktiv, daß in dieser Geste keine Drohung lag. Die Pistole war für ihn in diesem Moment keine Waffe, sondern etwas, woran er sich festklammern konnte, vielleicht das einzig Vertraute, was ihm in dieser Welt noch geblieben war. »Und ich bin hier, um es zu töten. Wir sind hier, um es töten. Sie, er und ich.«

»Was?« fragte Brenner. »Wovon … reden Sie?«

»Nein«, krächzte Johannes. »Hören Sie auf! Reden Sie nicht weiter. Ich verbiete es! «

»Es hat viele Namen«, sagte Salid leise und mit einem Ernst, der Brenner jede Möglichkeit nahm, seine Worte in diesem Moment anzuzweifeln. »Aber ich glaube, der bekannteste ist der, unter dem Sie ihn auch kennen:

Satan.«

Die Spinne saß immer noch dort, wo Charlotte sie das letzte Mal gesehen hatte, aber sie kam ihr kleiner vor und nicht mehr so abstoßend wie bisher. Das war natürlich der blanke Unsinn weder war das Tier in den vergangenen Minuten geschrumpft, noch hatte es in irgendeiner Weise an Attraktivität gewonnen – , aber im allerersten Moment war der Eindruck so intensiv, daß Charlotte verblüfft unter der Küchentür innehielt und den winzigen Fleck lebendigen Schmutzes über der Gardinenleiste anstarrte.

Dann überkam sie Zorn. Der Moment sonderbarer Klarsichtigkeit war vorüber, aber sie erinnerte sich sehr wohl daran, und auf einer tieferen, dem bewußten Zugriff ihres Denkens entzogenen Ebene begriff sie auch, daß ihr unheimliches Erlebnis tatsächlich etwas mit ihren nächtlichen Überraschungsgästen zu tun hatte, und sie fühlte sich angegriffen, auf eine unfaire, heimtückische Weise.

»Miststück!« murmelte sie, aber sie war nicht einmal ganz sicher, wen sie damit eigentlich meinte. Wahrscheinlich nicht den fingernagelgroßen Arachniden, der zwei Meter über ihr auf der Gardinenleiste hockte und sie aus glitzernden Augen anstarrte.

Mit einer entschlossenen Bewegung langte sie nach der Trittleiter, die noch immer am Türrahmen lehnte, klappte sie auf und trug sie mit zwei energischen schnellen Schritten zum Fenster, ohne das kleine Scheusal dort oben auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Plötzlich konzentrierte sich ihr ganzer Zorn auf dieses winzige Geschöpf, nicht einmal, weil es häßlich und schmutzig gewesen wäre – das war es, aber wer zumTeufel war sie eigentlich, darüber richten zu wollen? – , sondern weil es ein Eindringling war, gegen den sie sich verteidigen mußte – und vor allem konnte.

Ächzend stieg sie die drei Stufen der Trittleiter hinauf, balancierte eine halbe Sekunde auf der geriffelten Metallfläche an ihrem oberen Ende und streckte dann die Hand nach der Spinne aus. Das leichte Ekelgefühl, das sie bei dem Gedanken überkam, die Spinne mit bloßen Fingern packen und zerquetschen zu wollen, ignorierte sie. Normalerweise hätte sie ein Papiertaschentuch oder ein anderes geeignetes Hilfsmittel dazu genommen, aber dazu reichte die Zeit nicht. Es war mit

einem Male ungeheuer wichtig, den Eindringling zu vernichten. Und es schnell zu tun.

Draußen heulte eine Polizeisirene auf, so warnungslos und nahe, daß Charlotte erschrocken zusammenfuhr und statt nach der Spinne hastig nach den Stores griff, um ihr Gleichgewicht zu halten. Eine einzelne, aber schreckerfüllte Sekunde lang balancierte sie mit verzweifelter Anstrengung auf der Trittleiter, und für eine noch kürzere Zeitspanne war sie vollkommen davon überzeugt, den Kampf zu verlieren und einen halben Meter in dieTiefe zu stürzen; eine lächerliche Distanz, aber für ihre altersschwachen Knochen vielleicht schon genug, um wie Glas zu zersplittern. Doch sie gewann den Kampf. Der altersschwache Stoff ächzte unter der Belastung, aber er hielt, und schon im nächsten Moment hatte sie ihr Gleichgewicht endgültig wiedergefunden und atmete erleichtert auf.

Das Heulen der Polizeisirene draußen war lauter geworden, und durch den Spalt, den sie selbst gerade die Gardine aufgezogen hatte, konnte sie das Blinken des dazugehörigen Blaulichtes erkennen. Neugierig beugte sie sich ein Stück zur Seite, um auf die Straße hinauszublicken. Der Polizeiwagen kam in scharfem Tempo herangefahren und bremste plötzlich ab. Eine Sekunde lang sah es fast so aus, als würde er unmittelbar vor dem Haus anhalten, dann gab der Fahrer jäh wieder Gas, und der Wagen raste mit durchdrehenden Reifen davon. Nicht einmal sehr weit entfernt hörte sie noch mehr Sirenen heulen.

Charlotte blickte noch einige Sekunden lang weiter auf die Straße hinaus, auch als der Streifenwagen längst verschwunden war und es eigentlich nichts mehr zu sehen gab, und gerade als sie die Gardine wieder zuziehen wollte, sah sie erneut eine Bewegung draußen auf demTrottoir.

Diesmal war es kein Polizeiwagen. Es war eine schattenhafte Gestalt, die im bleichen Licht der Nacht tatsächlich ein bißchen wie ein Gespenst aussah und langsam auf das Haus zukam. Ein weiterer nächtlicher Gast? Nach allem, was bisher geschehen war, hätte Charlotte das kaum mehr überrascht, und für einige Sekunden sah es tatsächlich so aus, als bewege sich die Gestalt direkt auf sie zu. Unheimlicher noch: Für einen ganz kurzen Moment hatte sie das Gefühl, angestarrt zu werden. Das Empfinden war sehr unangenehm und so intensiv, daß sie fast meinte, die Blicke dieses Fremden wie die Berührung einer Hand zu fühlen. Dann war er verschwunden, von einer Sekunde auf die andere und so lautlos, wie er gekommen war.

Charlotte zog die Gardine endgültig zu. Sie war plötzlich sehr nachdenklich. Da draußen war etwas passiert, das war klar, und es war ganz bestimmt kein Verkehrsunfall gewesen. Sie hätte die drei nicht hereinlassen sollen. Sie würde Schwierigkeiten bekommen, wenn sie tatsächlich etwas mit der Aufregung dort draußen zu tun hatten, große Schwierigkeiten sogar. Charlotte lebte seit einem halben Menschenalter in einer Art Waffenstillstand mit den Ordnungsbehörden, die ihr privates Stundenhotel duldeten, solange sie darauf achtete, daß sich keine Drogendealer oder anderes zwielichtiges Gesindel darin einnisteten, aber sie wußte auch, wie brüchig solche niemals besiegelten Absprachen sein konnten. Wenn ihre nächtlichen Gäste kein Schwulentrio waren, sondern tatsächlich etwas mit dem da draußen zu tun hatten, dann tat sie verdammt besser daran, die Polizei zu benachrichtigen, bevor diese von selbst kam und anfing, ihr Hotel auseinanderzunehmen.

Die Entscheidung war nicht leicht. Vielleicht war es die schwerste, die Charlotte seit einem Jahrzehnt hatte fällen müssen. Es war sicherlich klüger, jetzt von dieser Leiter herunterzusteigen und die iio zu wählen, auch wenn es vielleicht unnötig war. Was konnte ihr passieren? Schlimmstenfalls würde ihr ein leicht genervter Polizeibeamter erklären, daß es einen schlimmen Unfall irgendwo in der Nähe gegeben hätte und sie besseres zu tun hatten, als sich um die Gäste ihres Etablissements zu kümmern. Und wenn es tatsächlich anders war, wenn sie sich tatsächlich mit drei gesuchten Mördern oder Schlimmeren unter einem Dach aufhielt, ohne es zu wissen, dann war sie auf jeden Fall besser beraten, die Polizei zu rufen. Logisch war die Entscheidung klar, die sie treffen mußte.

Trotzdem, sie zögerte. Jetzt von der Leiter herunterzusteigen und anzurufen bedeutete nicht nur, das Richtige zu tun, sondern auch, mit ihrer eisernen und vielleicht einzigen Regel zu brechen, und davor hatte sie beinahe noch mehr Angst als vor dem Ausländer und den beiden anderen Mördern.

Natürlich würde sie es trotzdem tun. Sobald sie die Spinne erledigt hatte. Unvorstellbar, wenn hier gleich ein ganzes Polizeiaufgebot hereinstürmte und das Ungeziefer sah, von dem ihr Haus befallen war! Man konnte ihr nachsagen, was man wollte, aber ihr Haus war sauber, und das würde es bleiben, Mörder hin oder her. Die wenigen Augenblicke machten keinen Unterschied. Entschlossen richtete sie sich wieder auf und streckte zum zweitenmal die Hand nach der Spinne aus.

Das Tier folgte jeder ihrer Bewegungen aufmerksam – sie war ihm jetzt tatsächlich nahe genug, um seine Augen erkennen zu können, mikroskopisch feine Kristallsplitter in einem schwarzen Pelz – , rührte sich aber immer noch nicht. Wenn es überhaupt verstand, daß etwas sich ihm näherte, reichte dieses Verstehen auf jeden Fall nicht aus, um einen Fluchtreflex auszulösen.

Und dann, ganz plötzlich, begriff Charlotte, daß es gar nicht fliehen wollte.

Es war, als hätte sie etwas Unsichtbares, sehr Kaltes berührt. Ihre Fingerspitzen verharrten zehn Zentimeter vor demTier in der Luft, und die Kälte war immer noch da. Sie spürte, wie sie langsam ihre Hand hinaufkroch, sich in ihrem Unterarm ausbreitete und kurz darauf die Schulter erreichte. Was geschah mit ihr? Was, um Gottes willen, geschah mit ihr?

Charlotte sah jetzt, daß die Spinne gar nicht so reglos dahockte, wie sie bisher angenommen hatte. Sie bewegte sich, allerdings nicht oft und nur ganz sacht: Von Zeit zu Zeit hob sie ein Bein, streckte es aus und zog es wieder zurück; fast wie ein Mensch, der zu lange reglos in einer Haltung ausgeharrt hatte und nun seine Glieder streckte, damit sie nicht einschliefen.