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ebenso ruckartig wieder. Während sie dies tat, redete sie sich mit aller Gewalt ein, daß es nichts als Einbildung gewesen sein konnte. Wenn sie die Lider wieder hob, war die Spinne verschwunden, ganz zweifellos durch die schnelle Bewegung aufgeschreckt und in die Flucht getrieben. Es konnte gar nicht anders sein.
Aber als sie es schließlich tat, war das Tier noch da. Und diesmal gab es gar keinen Zweifel: sie saß nicht einfach nur da, lauerte auf Beute oder tat, was Spinnen auch immer tun mögen, wenn sie manchmal stundenlang reglos auf der Stelle verharren. Sie saß ganz eindeutig da und starrte sie an. Der Blick ihrer winzigen Augen war direkt in den Charlottes gerichtet, und das war noch nicht einmal das Schlimmste. Schlimmer – geradezu grauenerregend – war das, was Charlotte in diesem halben Dutzend mikroskopischer Kristallsplitter sah. Erkennen. Begreifen. Ein Verstehen der Dinge, das vielleicht anders war als das Charlottes und das aller anderen Menschen, so radikal anders, daß es keinerlei Bezugspunkt zwischen ihnen geben konnte, aber trotzdem vorhanden. Dieses winzige Etwas war alles, nur kein vernunftloses Tier. Es lebte. Es dachte. Und im Moment dachte es ganz eindeutig über sie nach.
Die Erkenntnis sickerte nur ganz langsam in Charlottes Bewußtsein; wie ein zähflüssiges Gift, das sich seinen Weg mühsam durch einen trockenen Schwamm bahnen mußte, bevor es seine Wirkung entfalten konnte. Doch als es dies schließlich tat, geschah es mit fast explosiver Wucht.
Charlotte schrie auf und riß die Hand, deren Finger noch immer zehn Zentimeter über der Spinne verharrten, mit solcher Kraft zurück, daß sie sich allein dadurch selbst aus dem Gleichgewicht brachte. Diesmal gab es kein sekundenlanges Balancieren auf der Trittleiter, keinen armwedelnden Kampf um ihr Gleichgewicht, und nichts, woran sie sich hätte festhalten können. Sie fiel, sofort und so schwer, als wäre sie aus fünf Metern Höhe herabgestürzt, nicht aus fünfzig Zentimetern.
Der Aufprall war grauenhaft. Er kam viel schneller, als sie erwartet hatte, und er war grausam hart. Sie konnte hören, wie ihr linker Oberschenkel brach, und alles, was sie über Unfälle wie diese zu wissen geglaubt hatte, stellte sich als falsch heraus: Es war weder so, daß sie gar nicht verstand, was ihr widerfuhr, noch, daß sie keine Schmerzen gehabt hätte.
Sie begriff sehr wohl, daß diese winzige schwarze Spinne dort oben gekommen war, um sie für alles bezahlen zu lassen, was sie ihren Brüdern und Schwestern in den vergangenen Jahrzehnten angetan hatte, und daß es mit diesem Sturz keineswegs vorbei war. Und was den Schmerz anging: Charlotte hatte in ihrem Leben niemals schwere Unfälle oder Krankheiten erlitten, so daß größere Schmerzen ihr bisher erspart geblieben waren und ihr jede Vergleichsmöglichkeit fehlte. Aber sie glaubte nicht, daß es noch viel schlimmer werden konnte. Sie hätte geschrien, aber der Aufprall hatte ihr die Luft aus den Lungen gepreßt, und außer ihrem Oberschenkelknochen mußte wohl noch mehr zu Bruch gegangen sein, denn sie konnte kaum atmen. Sie bekam Luft, aber es war gerade genug, um am Leben und bei Bewußtsein zu bleiben, aber nicht, um zu schreien oder sich irgendwie zu rühren.
Mühsam öffnete sie die Augen. Selbst diese kleine Anstrengung kostete sie bereits Kraft, und die Schmerzen in ihrem Bein wurden noch schlimmer, als hätte der Befehl an ihre Lider, sich zu heben, einen Impuls in ihrem gesamten Nervensystem ausgelöst, der in einer Explosion dicht unterhalb ihrer Hüfte endete. Diese neuerliche Welle der Pein ließ sie die Kontrolle über ihre Blase verlieren, und die klebrige Nässe des Blutes an ihrem Oberschenkel vermischte sich mit einer anderen Wärme, die aus ihrem Körper herausfloß. Charlotte wimmerte leise; nicht vor Schmerz, sondern aus einem anderen Gefühl heraus, das noch viel schlimmer als der körperliche Schmerz war. Scham, Erniedrigung und Ekel vor sich selbst.
Für eine geraume Weile lag sie mit wieder geschlossenen Augen so da, mit verdrehten Gliedern, in einer allmählich größer werdenden Lache aus Blut und Urin und leise winselnd. Der Gestank war überwältigend, und sie empfand ihn noch hundertmal intensiver, als er wirklich war. Sie betete darum, das Bewußtsein zu verlieren und lange genug ohnmächtig zu bleiben, um sich dabei halbwegs zu erholen, so daß sie sich zum Schrank schleppen und einen Aufnehmer herausholen konnte, um hinter sich sauberzumachen, ehe sie den Krankenwagen rief – oder zu sterben. Sie wollte nicht, daß man sie so fand. Nicht so hilflos und so schmutzig. Es war nicht ihre Schuld. Ein Unfall. Jeder würde ihr versichern, daß sie absolut keinen Grund hätte, sich zu schämen. Aber das stimmte nicht. Was immer man ihr vorwerfen wollte – sie hatte ihr ganzes Leben lang gegen Ungeziefer, Unrat und Schmutz gekämpft, und sie wollte nicht so schmutzig gefunden werden. Dann lieber tot.
Aber ihre Gebete wurden nicht erhört. Sie blieb bei Bewußtsein, aber die Kraft kehrte nicht in ihren Körper zurück, und auch die Schmerzen nahmen nicht ab. Und als sie endlich die Augen wieder öffnete, sah sie die Spinne.
Sie hockte zehn Zentimeter vor ihrem Gesicht auf dem Boden und starrte sie an, und in ihren Augen war noch immer dieses beunruhigende Erkennen, das weit über bloßes tierisches Verständnis hinausging und das Charlotte auf seine Art mehr angst machte als der Gedanke an ihr gebrochenes Bein oder die Schande, die es bedeuten würde, so gefunden zu werden. Da war etwas wie Triumph im Blick dieser winzigen Augen; nein, kein Triumph: die Zufriedenheit beim Anblick einer langen, schweren, aber bewältigten Arbeit. DiesesTier war gekommen, um sie zu töten, und es hatte sein Werk fast vollbracht.
»Verschwinde«, sagte sie. Sie sagte es nicht wirklich; was über ihre Lippen kam, war nur ein unartikuliertes Wimmern, aber sie formulierte das Wort in Gedanken, und sie bekam eine Antwort.
Warum tust du das?
Charlottes Augen quollen vor Entsetzen ein Stück weit aus ihren Höhlen, und ihr Herz schlug plötzlich so rasend schnell, daß sie regelrecht spüren konnte, wie das Blut in ihr Gehirn gepreßt wurde und dort ein leichtes Schwindelgefühl auslöste. Zugleich begann ihr Bein noch heftiger zu pochen, aber der Schmerz trat in den Hintergrund. Er war keinen Deut weniger schlimm als zuvor, aber plötzlich nicht mehr so präsent. Die Spinne hatte zu ihr gesprochen. Das war unmöglich, das begriff sie selbst in ihrem momentanen Zustand, es war unmöglich und total verrückt, aber sie hatte die Worte gehört.
Ebenso verrückt war es, daß sie antwortete, aber sie tat es trotzdem. »Was … was willst du von mir?« stammelte sie. »Geh … geh weg! Laß mich! Geh!! «
Die Spinne kam im Gegenteil ein kleines Stückchen näher, blieb aber außer Reichweite ihrer Hände. Außerdem waren ihre Bewegungen jetzt so schnell, daß Charlotte sie vermutlich ohnehin nicht zu fassen bekommen hätte, selbst wenn sie sich hätte rühren können. Was sie nicht konnte. Sie war vor Schmerz immer noch wie paralysiert, und in ihren Armen und Händen war überhaupt kein Gefühl mehr.
Warum tust du uns das an? fragte das Tier noch einmal. So viele Jahre. So viele, die du von uns getötet hast. Aber du meinst gar nicht uns.
»Nein! « wimmerte Charlotte. »Geh weg! So … so geh doch weg! Bitte! «
Sie sah jetzt, daß das Tier gar nicht wirklich sprach. Seine winzigen Freßwerkzeuge bewegten sich, unablässig, schnell und einem nicht durchschaubaren, aber vorhandenen Muster folgend, aber die Stimme kam nicht dorther, und als sie dies begriff, begriff sie auch, daß die Stimme gar nicht von der Spinne kam. Es war nicht wirklich dasTier, das zu ihr sprach.
Etwas war hier. Etwas Fremdes. Eine Wahrhaftigkeit, die mit den drei Besuchern gekommen war und unerwünschten Einzug in dieses Haus gehalten hatte. Sie hatte ihre Berührung vorhin draußen im Flur gespürt, und sie fühlte sie jetzt. Die Worte übertrugen sich nur auf dieses winzige achtbeinige Insekt, aber sie hätten ebensogut aus demTischbein kommen können, aus dem Boden oder auch aus der leeren Luft, und wahrscheinlich stammten sie ohnehin nirgendwoanders her als aus ihr selbst. Trotzdem war es weiter die Spinne, die zu ihr sprach, und Charlotte antwortete auch weiter dem Tier, keinem imaginären Punkt irgendwo im Nichts.
Du hastTausende von uns getötet. Aber du hast dich gemeint. Du kämpfst gegen uns, weil du es nicht wagst, dich dir selbst zu stellen. »Nein! « wimmerte Charlotte. »Das ist nicht wahr. Ich habe euch nichts getan. Ihr habt mir nichts vorzuwerfen! Ich habe nur mein Haus verteidigt! «
Aber du hast diesen Kampf doch schon längst verloren. Schon vor zwanzig Jahren.
»Nein!« keuchte Charlotte. »Hör auf! Das ist nicht wahr! Mein Haus ist sauber! «
Erinnerst du dich? An jenen Tag, an dem dieses junge Paar kam? Du hattest Sorgen. Die Bank machte dir Arger, und das Hotel warf schon lange nicht mehr genug ab, um davon zu leben. Du hattest Angst, es verkaufen zu müssen.
»Hör auf! « keuchte Charlotte. Sie erinnerte sich. Es war gar nicht nötig, sich zu erinnern. Sie hatte es niemals vergessen; sie hatte sich nur eingeredet, den Moment vergessen zu haben, an dem es begonnen hatte.
Damals war es noch nicht wie heute. Da konnte nicht jeder mit jedem ins Hotel gehen und tun, was er wollte. Du hattest deine Verantwortung. Es war deine Aufgabe, darauf zu achten, daß dein Haus sauber bleibt. Die beiden waren sehr jung.
Und sie hatte das Geld gebraucht, jeden Pfennig davon. Die beiden waren sehr jung. Zu jung. Er vielleicht zwanzig, sie allerhöchstens sechzehn, und das schlechte Gewissen und die Nervosität standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie hätte sie nicht hereinlassen dürfen. Sie waren Kinder, die hier nichts zu suchen hatten. Aber sie hatte das Geld gebraucht, jeden Pfennig davon. Und das war der Moment gewesen, in dem sie die Weichen gestellt hatte. Eine Kleinigkeit, nur eine winzige Kleinigkeit. Aber auch ein winziger Schritt in die falsche Richtung war ein Schritt in die falsche Richtung. Und diesem ersten war ein zweiter gefolgt und ein dritter und dann immer mehr.
Die Spinne bewegte sich wieder ein paar winzige trippelnde Schritte weit, und als sich Charlottes Blick von ihr löste, erkannte sie eine zweite, etwas größere Spinne von anderem Körperbau und hellerer Farbe, die mit fast gemächlichen
Schritten in ihr Gesichtsfeld hineinmarschierte. Sie konnte den Kopf keinen Millimeter bewegen, aber sie glaubte, daß diese beiden Tiere nicht einmal die einzigen waren. Da war eine Bewegung in ihren Augenwinkeln, und irgend etwas berührte ihren unverletzten, wenn auch gelähmten Fuß.
Damals hast du dich selbst verraten, fuhr die Spinne fort. Du hast gesündigt. Gegen alles, woran du je geglaubt hast. Du tötest uns, aber du meinst dich.
»Das ist nicht wahr! « stöhnte Charlotte. Trotz allem kam es ihr noch immer absurd vor, daß sie hier auf dem Boden lag und mit einer Spinne diskutierte, die nicht größer als ein Fingernagel war, aber sie begriff auch zugleich, daß sie in Wahrheit mit sich selbst sprach; mit jenem Teil von sich, den sie die letzten zwanzig Jahre hinweg sorgsam im tiefsten Kerker ihrer Seele eingesperrt hatte. Sie hatte geglaubt, den Schlüssel weggeworfen zu haben, aber irgendwie war dieTür zu seinem Verließ doch aufgestoßen worden.
»Das ist nicht wahr!« sagte sie noch einmal, »Ich achte auf Sauberkeit, das ist alles. Ich kann kein Ungeziefer hier dulden. Und keinen Schmutz. Alles andere geht mich nichts an.«
Hinter den beiden Spinnen erschien ein weiteres Geschöpf. Es war nicht größer, sah aber vollkommen anders aus: die vielbeinige, fühlerbewehrte Ausgabe eines Gürteltieres, dessen Panzer die Farbe von zerschrammtem Kupfer hatte. Eine Kakerlake.
Das stimmt nicht, sagte die Spinne. Es geht dich etwas an. Du weißt, was sie dort oben in den Zimmern tun. Du stellst es dir vor. In jeder Sekunde. In jedem Augenblick. Du weißt, was sie dort treiben. Die Schwulen. Die Perversen. Die Ehebrecher. Du weißt es, und du leidest darunter. Es geht dich sehr wohl etwas an. Weil du es nicht erträgst. Der Schmutz und Abschaum, gegen den du kämpfst, das Ungeziefer-du lebst von ihm.
Zu der ersten Kakerlake gesellte sich eine zweite, dritte, und dann waren es plötzlich so viele, daß Charlotte sie nicht mehr zählen konnte. Die Tiere rückten in einer fast militärisch anmutenden Kolonne näher und hielten schließlich inne; eine Armee winziger gepanzerter Monstren, die vor ihr Aufstellung nahm und auf das Angriffssignal wartete.
Du hast Tausende von uns getötet, aber die Sauberkeit, die du wolltest, hast du damit nicht erreicht. Du hast Leben vernichtet, um deine Lüge zu zementieren. Aber nicht einmal das ist dir gelungen.
Und das war die Wahrheit. Wenn es in ihrem Leben jemals etwas gegeben hatte, woran sie glaubte, so waren es Werte wie Ehre, Anstand, Sitte und Moral gewesen. Werte, die vielleicht heute ein wenig aus der Mode gekommen waren, und vielleicht sogar zu Recht, aber für sie waren sie wichtig gewesen. Es ging sie vielleicht tatsächlich nichts an, was andere taten, wer mit wem, wann und wie, aber es ging sie sehr wohl etwas an, wenn dies unter ihrem Dach geschah. Sie hatte ihr Haus zu dem werden lassen, was sie auf der ganzen Welt am meisten verabscheute, und sie hatte es nicht nur zugelassen, sie hatte davon profitiert.
Überall rings um sie herum raschelte und trippelte es jetzt; ein Geräusch wie Popcorn, das in einem Nebenzimmer auf den Boden fällt. Die sanfte Berührung an ihrem Fuß war längst nicht mehr die einzige. Sie konnte spüren, wie unzählige winzige Beinchen über ihren Körper huschten, Antennen über ihre Haut tasteten und glattes Chitin sich an ihren Kleidern rieb. Das ganze Zimmer schien lebendig geworden zu sein. Sie waren alle gekommen. Jedes einzelne Ungeziefer, das sie vernichtet hatte. Seltsamerweise blieb der Schrecken aus, den sie bei dieser Erkenntnis verspüren sollte. Vielleicht, weil sie tief in sich drin jetzt wußte, daß all dies nicht wirklich geschah. Die Spinnen, Kakerlaken, Schaben, Wanzen, Käfer und Flöhe waren nicht wirklich da.
Sie mußte aus diesem Alptraum erwachen. Sie durfte sich nicht unterkriegen lassen. Jeder mußte für sich selbst entscheiden, was er tat, und niemand hatte das Recht, sich in diese Entscheidung einzumischen. Wenn ihr Krieg gegen den Schmutz und die Schädlinge nichts als ein Krieg gegen sich selbst gewesen war, dann war das ihre Sache. Und sie würde diesen Krieg weiterführen, gleich morgen, wenn sie wieder auf den Beinen war.
Doch zuerst mußte sie hier raus.
»Es … es tut mir so leid«, log sie. »Ich werde dafür büßen.« O ja, antwortete die Spinne mit einem Seufzen, in dem zugleich eine tiefeTraurigkeit und eine chitinklare Härte lag. Das wirst du.
Sie machte einen Satz und sprang Charlotte ins Gesicht, und mit einer Verzögerung von vielleicht einer halben Sekunde rückte die gesamte restliche Insektenarmee näher, und Charlotte begriff zu spät, daß sie sich getäuscht hatte. Es war keine Halluzination. Die Kreaturen waren da. Sie waren gekommen, um sie für alles bezahlen zu lassen, was sie ihnen angetan hatte. Sie krochen in ihre Haare, ihre Ohren, den Mund und die Nase, sie huschten über ihre Haut und suchten sich ihren Weg unter ihre Kleider, stechend, beißend, kratzend. Einige wenige dieser Stiche und Bisse taten spürbar weh, die meisten aber vermochten sie nicht wirklich zu verletzten. Es war allenfalls wie das Scheuern von feinem Sandpapier auf der Haut, das im ersten Moment nicht einmal wirklich unangenehm, geschweige denn schmerzhaft war.
Aber nur im ersten Moment. Zwanzig Jahre waren lang. Sie hatte viele unschuldige Leben ausgelöscht in dieser Zeit, und sie waren alle gekommen.
Ausnahmslos.
»Das ist … lächerlich«, sagte Johannes. Er sagte es ohnesonderliche Überzeugung und auch nicht besonders laut, dafür aber mit um so größerer Nervosität. Sein Blick war scheinbar auf Salids Gesicht gerichtet, aber das stimmte nicht. In Wahrheit starrte er einen Punkt fünf Zentimeter vor Salids Augen an.
Und Brenner … empfand eigentlich gar nichts. Salids Behauptung war einfach grotesk. Lächerlich. Völlig verrückt. Aber er war weder überrascht noch erstaunt oder gar amüsiert. Er kam sich vor wie der Zuschauer in einem Film, der von seinem bequemen Kinosessel aus die Handlung oben auf der Leinwand verfolgte, ohne wirklich daran beteiligt zu sein; im Grunde auch ohne, daß sie ihn wirklich interessierte. Abwechselnd betrachtete er Salids und Johannes' Gesicht, und ihm fiel zum erstenmal auf, wie unnatürlich ihr Mienenspiel wirkte: Sie beide kämpften offenbar mit aller Kraft um ihre Fassung, und bei beiden schien nicht sicher, daß sie diesen Kampf gewinnen würden.
Draußen, weit entfernt, heulte eine Polizeisirene, und das Geräusch ließ den Hauch von Irrealität verschwinden, der sich wie ein unsichtbarer Nebel im Raum ausgebreitet hatte. Obwohl Salid noch vor einigen Augenblicken behauptet hatte, daß sie hier vollkommen sicher wären, fuhr er doch hoch und stand auf und ging mit schnellen Schritten zum Fenster. Mit Daumen und Zeigefinger zog er die Gardinen einen Spalt breit auseinander und blickte auf die Straße hinab. Das Geräusch der Polizeisirene kam näher und veränderte zugleich seineTonlage; der Wagen wurde langsamer. Ein vertikaler Streifen flackernder blauer Helligkeit erschien auf Salids Gesicht und spaltete es in zwei ungleiche Hälften, von denen die eine immer, die andere in regelmäßigem, schnellem Wechsel im Dunkel lag und wieder daraus auftauchte. Trotzdem blieb es vollkommen unbewegt. Das Mienenspiel, das Brenner zu beobachten glaubte, war nur eine Illusion aus Licht und Schatten. Salid wirkte angespannt und sehr aufmerksam; obwohl das enervierende Heulen und das flackernde blaue Licht das Gegenteil zu beweisen schienen, fühlte er sich offenbar sehr sicher. Auf welchen Schutz vertraute er, dachte Brenner.
Das Geräusch der Sirene wurde allmählich wieder leiser, und lange, bevor es endgültig verklang, erlosch das blaue Flackern auf Salids Gesicht. Trotzdem blieb er am Fenster stehen und blickte weiter auf die Straße hinab, und auch der Ausdruck auf seinen Zügen änderte sich nicht. Vielleicht konnte er das gar nicht mehr, überlegte Brenner. Er kannte diesen Mann kaum, aber nach allem, was er über ihn gehört hatte, mußte er die letzten zehn Jahre seines Lebens wie ein gejagtes Tier verbracht haben: ununterbrochen auf der Flucht, unentwegt auf der Hut, immer angespannt, jederzeit bereit, zuzuschlagen oder davonzulaufen. Vielleicht konnte er schon gar nicht mehr an ders. Brenner fragte sich, ob dieser Mann überhaupt noch wußte, was das Wort Sicherheit bedeutete, was es hieß, keine Angst zu haben, und er kam zu dem Schluß, daß dem wahrscheinlich nicht so war.
»Finden Sie es auch lächerlich?« fragte Salid nach einer Weile und ohne den Blick vom Fenster zu wenden, so daß Brenner fast eine Sekunde benötigte, um überhaupt zu begreifen, daß die Worte ihm galten.
Brenner wollte antworten, aber er konnte es gar nicht. Salids direkte Frage machte ihm klar, daß er sich bisher mit Erfolg darum herumgemogelt hatte, tatsächlich über das nachzudenken, was der Palästinenser gesagt hatte. Er fühlte sich hilflos. Das überzeugte »Natürlich! «, das die logische Antwort – die einzige Antwort – gewesen wäre, wollte nicht kommen. Er hatte sich etwas vorgemacht, als er glaubte, bei Salids Worten nichts zu empfinden. Die Stumpfheit in ihm war keine Leere. Sie war etwas Fremdes und Erschreckendes, das von den natürlichen Schutzmechanismen seines Bewußtseins nur zur Leere deklariert worden war, damit er sich nicht mit dem Problem auseinandersetzen mußte.