122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 37

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Salid drehte sich nun doch vom Fenster herum und sah ihn direkt an. Er wiederholte seine Frage nicht, aber sein Blick war zwingender als alles, was er hätte sagen können. Brenner hielt diesem Blick nicht einmal eine Sekunde lang stand, ehe er wegsah und unbehaglich die Hände bewegte; vielleicht nur, um Zeit zu gewinnen.

»Ich glaube nicht an … so etwas«, sagte er schließlich. Salid legte fragend den Kopf auf die Seite.

»An den Teufel«, sagte Brenner widerwillig. Salids Blick wurde noch eine Spur härter, und fast gegen seinen Willen hörte Brenner sich hinzufügen: »Oder Gott.«

Das Eingeständnis fiel ihm erstaunlich schwer. Er hatte nie zu jenen aktiven Gegenchristen gehört, die ihren Standpunkt bei jeder sich bietenden Gelegenheit offenbarten und fast ebenso fanatisch verteidigten wie die, deren Glauben sie angeblich nicht teilten, den ihren. Er hatte irgendwann einmal, schon vor langer Zeit, darüber nachgedacht, ob es so etwas wie eine höhere Gerechtigkeit im Universum gab, und war zu dem Schluß gekommen, daß sie nicht existierte und das Schicksal nicht einmal willkürlich war, sondern nicht vorhanden: eine Aneinanderreihung von Zufällen und naturwissenschaftlich zwingenden Abläufen, die nichts mit einer göttlichen Gerechtigkeit oder gar einem lenkenden Willen zu tun hatte. Er behielt diesen Standpunkt zumeist für sich, aber es war ihm doch nie schwergefallen, ihn zu vertreten, geschweige denn, ihn laut auszusprechen. Jetzt fiel es ihm schwer, und er wußte auch, warum. Es war die Anwesenheit des Geistlichen. Für einen ganz kurzen Moment, in dieser Zeit aber sehr intensiv, haßte er Salid dafür, daß er ihn zwang, in Johannes' Gegenwart über sein Verhältnis zu Gott und dem Schicksal zu reden.

»Danach habe ich nicht gefragt«, sagte Salid.

»Aber das ist meine Antwort.« Brenner hörte selbst, daß er einfach nur trotzig klang. Trotzdem fuhr er fort: »Man kann schlecht an den Teufel glauben, wenn man nicht an Gott glaubt, oder?«

Er sah sich bei diesen Worten kurz nach Johannes um, fast, als erwarte er Beistand von ihm, aber alles, was er in den Augen des jungen Jesuitenpaters las, war ein schwaches Echo des Entsetzens von gerade und vielleicht ein Ausdruck, über den er lieber nicht nachdenken wollte. Wie oft mochte Johannes so etwas schon gehört haben? Sicher schon zu oft, um sich wirklich darüber zu empören, und wahrscheinlich auch zu oft, um noch immer mit missionarischem Eifer gegen diesen Standpunkt anzugehen. Mit großer Sicherheit hatte er hundert geschliffene Antworten darauf parat, von denen jede einzelne gut genug war, Ketzer wie Brenner zum Verstummen zu bringen; aber er lächelte nur kurz und traurig und starrte dann wieder auf einen imaginären Punkt irgendwo im Nichts vor sich.

Salid zog spöttisch die Augenbrauen hoch, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen das Fenster. »Wir haben einen Ketzer unter uns, Pater«, sagte er zwar eindeutig an Johannes' Adresse, aber ohne Brenner aus den Augen zu lassen.

»Jemand, der glaubt, nicht zu glauben. Aber das glaube ich nicht.«

»Hören Sie mit dem Unsinn auf«, sagte Brenner verärgert. »Es gibt keinen Teufel mit Hörnern, Dreizack und Quastenschwanz – «

»– so wenig wie einen Gott mit weißem Haar und langem Bart, der auf einer Wolke sitzt und Engeln das Harfespielen beibringt«, fiel ihm Salid ins Wort. Er lächelte dabei, aber seine Worte klangen plötzlich hart und kalt wie das Glas, an dem er lehnte. »Davon rede ich auch nicht. Ich rede vom Bösen, ich rede von den Kräften der Zerstörung, dem Chaos, von der dunklen Seite, die in jedem von uns ist. Sie glauben nicht daran? Machen Sie sich nicht lächerlich! Sie wissen so gut wie ich, daß es sie gibt.«

Er hatte die Stimme nur ein ganz klein wenig gehoben, aber Brenner fühlte sich sofort wieder eingeschüchtert. Das Gespräch war in eine Richtung abgeglitten, die ihn fast hätte vergessen lassen, wer und was Salid war. Aber nur fast. Vielleicht hatten Salids Worte ihn im letzten Moment wieder daran erinnert, und vielleicht war es nicht besonders klug, sich mit einem möglicherweise geistesgestörten Massenmörder über Begriffe wie Gut und Böse, Teufel und Gott zu unterhalten. Brenner schwieg.

,>Und Sie, Pater? Glauben Sie auch nicht an denTeufel?« »Als Person?« Johannes verzog geringschätzig die Lippen. »Nein.«

»Dann glauben Sie also auch nicht an Gott als Person. Als was dann? Als Idee? Als Gedankenmodell? Als Prinzip?« »Vielleicht als Hoffnung«, antwortete Johannes.

»Ja – und vielleicht auch gar nicht.« Johannes fuhr auf. »Das ist – «

»Was?« unterbrach ihn Salid scharf, nur eine Spur lauter, aber dies auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die Johannes endgültig zum Verstummen brachte. »Die Wahrheit? Ihr düsteres Geheimnis, Pater? Die große Sünde in Ihrem Leben?« Johannes starrte ihn an. Seine Lippen zitterten und in sei

nen Augen erschien ein gequälter Ausdruck, aber er sagte nichts mehr. Plötzlich tat er Brenner unendlich leid. Plötzlich glaubte er zu begreifen, was Salids großes Geheimnis war, weshalb er so gefürchtet und in seinem blutigen Handwerk so erfolgreich war. Er hatte einen natürlichen Instinkt für Schwäche. Vielleicht mußte er sein Gegenüber nur ansehen, um dessen wunden Punkt zu erkennen, die Achillesferse, die jeder Mensch auf die eine oder andere Weise hatte.

Salid fuhr mit einem grimmigen Nicken fort: »Das ist es, nicht wahr? Sie sind ein Geistlicher. Sie haben Ihr Leben der Aufgabe gewidmet, Ihr Prinzip zu vertreten – aber tief in sich zweifeln Sie. Sie wissen nicht genau, ob es Ihren Gott gibt.«

»Hören Sie auf!« sagte Brenner scharf. »Lassen Sie ihn in Ruhe! «

Salid blinzelte. »Oh, was höre ich denn da? Haben Sie etwa Mitleid mit ihm? Wieso? Wenn es doch nichts gibt, woran Sie glauben, Brenner, und nichts, was Sie zu fürchten hätten – was interessiert Sie dann das Schicksal anderer?«

So formuliert, war die Frage durchaus berechtigt, aber die Formulierung an sich war schon falsch. Nicht an Gott oder irgendeine andere höhere Gerechtigkeit zu glauben bedeutete für Brenner nicht zwingend, keine Rücksicht mehr auf die Gefühle anderer nehmen zu müssen. »Lassen Sie ihn in Ruhe«, sagte er nur noch einmal.

Salid verzog abfällig die Lippen, aber zu Brenners Erstaunen ging er tatsächlich nicht weiter auf dieses Thema ein, auch wenn es gerade noch so ausgesehen hatte, als hätte er Spaß daran gefunden, den Pater zu quälen. »Entschuldigung«, sagte er. »Ich habe wohl ein wenig die Beherrschung verloren.«

Brenner begann sich allmählich zu fragen, ob Salid vielleicht nicht den Verstand verloren hatte, aber das behielt er vorsichtshalber für sich. Er sah den Palästinenser noch einen Moment lang durchdringend und abschätzend an, dann stemmte er sich behutsam in die Höhe und ging mit kleinen, vorsichtigen Schritten zum Waschbecken. Er hatte Durst und sein Gesicht fühlte sich heiß an, obwohl er kein Fieber hatte.

Das Gehen fiel ihm viel leichter, als er zu hoffen gewagt hatte. Sein Körper erholte sich mit geradezu unheimlicher Schnelligkeit von der Wirkung der Medikamente, mit denen sie seinen Kreislauf drei Tage lang überflutet hatten. Wäre die Situation nur ein wenig anders gewesen, dann wäre vielleicht das Wort Wunder angebracht – aber das umging er nun selbst in Gedanken sehr sorgfältig.

Als er sich die zweite Hand voll eiskalten Wassers ins Gesicht schöpfte, drang ein dumpfes Poltern durch dieTür. Es war nicht besonders laut, und es war eigentlich auch mehr ein Schlag, das Geräusch, mit dem ein Zentnersack Mehl aus großer Höhe auf Beton oder Stein prallen mochte. Salid löste sich mit einer fließenden Bewegung von seinem Platz am Fenster, eilte zurTür und öffnete sie einen Spalt breit. Als Brenner eine entsprechende Frage stellen wollte, machte er eine herrische Geste mit der Linken und preßte gleichzeitig das Ohr gegen denTürspalt, um zu lauschen.

Auch Brenner hielt erschrocken den Atem an. Viel weniger als das Geräusch machte ihm Salids Reaktion klar, daß sie hier vielleicht doch nicht so sicher waren, wie der Palästinenser bisher behauptet hatte.

Das Poltern wiederholte sich nicht, aber nach einigen Sekunden konnten sie eine Stimme hören, die gedämpft aus dem Erdgeschoß heraufdrang. Salid lauschte ihr einige Augenblicke, dann schloß er beruhigt dieTür wieder und drehte sich zu ihnen herum. »Unsere Zimmerwirtin«, sagte er. »Wahrscheinlich hat sie Arger mit einem anderen Gast.«

Für Brenners Geschmack ging er ein wenig zu leichtfertig mit der Situation um, zumindest in Anbetracht der Kleinigkeit, daß wahrscheinlich jeder Polizeibeamte im Umkreis von dreihundert Kilometern nach ihnen suchte. Aber Salid gab ihm keine Gelegenheit, einen Einwand vorzubringen, sondern unterstrich seine Worte noch einmal mit einer abschließenden Geste und wies dann aus der gleichen Bewegung heraus auf Johannes.

»Erzählen Sie uns von dem Kloster«, sagte er.

»Ich weiß nichts darüber«, behauptete Johannes. Selbst Brenner begriff sofort, daß das nicht stimmte. Johannes war kein sehr talentierter Lügner. Salid lächelte auch nur, und so wie vorhin Brenner, brachte dieses Lächeln nun Johannes dazu, von sich aus weiterzureden. Er tat es, ohne sie anzusehen, aber sein Blick war auch nicht mehr auf den imaginären Punkt im Nichts gerichtet, den er bisher angestarrt hatte; vielmehr hatte Brenner das Gefühl, daß der andere tatsächlich etwas sah, wenn auch etwas, das nur für ihn sichtbar war.

»Ich weiß wirklich nicht viel darüber«, sagte Johannes. »Niemand weiß viel über dieses Kloster. Ich glaube, es gibt nur eine Handvoll Menschen, die überhaupt wissen, daß es existiert.«

»Aber Sie gehören dazu«, stellte Salid fest. »Warum?«

»Das tut nichts zur Sache«, sagte Johannes scharf, kehrte aber sofort wieder zu jenem nachdenklichen und leicht verschreckten Tonfall zurück, in dem er über das Kloster und sein Geheimnis gesprochen hatte. »Aber ich weiß, daß es schon sehr lange existiert. Die ältesten Dokumente, die ich gefunden habe, stammen aus dem elften Jahrhundert. Aber ich glaube, es war schon früher da, schon viel früher.«

»Aber niemand hat seine Existenz zur Kenntnis genommen«, vermutete Salid.

Johannes nickte. »Jedenfalls wurde sie sorgfältig vertuscht, und das über lange Zeit. Ich habe zehn Jahre lang in Stadtarchiven und Kirchenbüchern gesucht, und ich habe nicht mehr als eine Handvoll Beweise für die Existenz dieses Klosters gefunden. Und selbst die waren so vage, daß ich nicht einmal wußte, wo es gena u lag. «

»Zehn Jahre?« Brenner sah ihn zweifelnd an. »Dann müssen Sie noch ein halbes Kind gewesen sein, als Sie mit Ihrer Suche angefangen haben.«

Johannes ignorierte seine Frage. Er wollte nicht über den Grund sprechen, aus dem er sich für dieses Kloster und sein Geheimnis interessiert hatte, und wahrscheinlich war es besser, wenn sie das zumindest im Moment akzeptierten. »Ich weiß nicht, wer diese Leute sind, aber ich glaube, der Orden ist so alt wie die katholische Kirche, vielleicht sogar älter.«

Vielleicht wurde ihm selbst in diesem Moment klar, welche Wirkung seine Worte auf Salid und Brenner haben mußten, denn er schrak sichtbar zusammen, löste seinen Blick von jenem imaginären Punkt im Nichts oder der Vergangenheit und sah Salid herausfordernd an. »Es gibt ein Geheimnis dort, aber ich weigere mich zu glauben, daß sie denTeufel dort eingesperrt haben.«

»Warum sind Sie dann hier?« fragte Salid.

»Weil Sie mich dazu gezwungen haben«, antwortete Johannes. Salid machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu reagieren. Johannes schien einen Moment lang regelrecht auf Widerspruch zu warten, doch als er merkte, daß nichts kam, fuhr er in ruhigeremTon fort: »Ich kenne das Geheimnis nicht wirklich. Ich nehme an, daß es außerhalb der Mauern dieses Klosters nur zwei oder drei Menschen gibt, die es kennen. Vielleicht gab es nur einen einzigen – und den haben Sie getötet.«

» Es war ein Unfall«, sagte Salid. »Ich wollte das nicht. Und ich bedaure es.«

Der Einwurf überraschte Brenner. Nach allem, was er über Salid gehört hatte, schien er ein Mann zu sein, der zahllose Menschen getötet hatte und dem ein Leben nichts galt. Auf jeden Fall ein Mensch, zu dem es nicht paßte, sich auf diese Weise zu verteidigen.

Wenn Johannes den Einwurf überhaupt gehört hatte, so ignorierte er ihn. »Ich kenne ihr Geheimnis nicht«, sagte er noch einmal. »Aber ich glaube, ich weiß, womit es zu tun hat. Ich weiß, worauf sie sich vorbereiten.«

»Worauf?« wollte Brenner wissen.

Johannes sah ihn offen an, und die latente Furcht in seinen Augen war nun zu einer sichtbaren Glut geworden; ein Schwelbrand, der nicht erlosch, sondern kurz davorstand, in Flammen auszubrechen.

»Auch wenn Sie behaupten, kein Christ zu sein«, sagte er. »Kennen Sie die Bibel? Die Offenbarungen des Johannes?«

Brenner mußte in der Tat einen Moment überlegen, aber nicht sehr lange. »Johannes?« fragte er. »Sie meinen, das Jüngste Gericht? Den Weltuntergang und all das?«

»Die Apokalypse«, bestätigte Johannes ernst.

Brenner blickte ihn zwei, drei Sekunden lang fassungslos an, dann begann er schrill und unecht zu lachen. »Das wird ja immer verrückter! « sagte er. Er deutete auf Salid und dann auf Johannes. »Zuerst behauptet er, daß in diesem Kloster der Satan persönlich gefangengehalten worden wäre, und jetzt wollen Sie mir erzählen, der Weltuntergang stünde bevor?«

»Nein«, sagte Johannes ruhig. »Er steht nicht bevor. Er hat bereits begonnen.«