122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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Der zweite hatte sich nicht einmal gerührt, sondern starrte die beiden Eindringlinge mit einer Mischung aus Haß und kalter Verachtung an. Er war ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren, mit schütter gewordenem, grauem Haar, in der Uniform und mit den Rangabzeichen eines Navy-Generals. An der Wand hinter ihm hing ein aufgespanntes Sternenbanner. Er wirkte hilflos, aber keineswegs verängstigt.

»Gut, daß Sie keinen Widerstand leisten, General«, sagte Salid. Sein Englisch hatte einen sonderbar harten Akzent, der sich so anhörte, als wäre er sorgsam und über Jahre hinweg kultiviert worden. »Ich würde Sie und Ihren Freund da ungern erschießen.«

Die Augen des Generals wurden schmal. »Was wollen Sie?« antwortete er in der gleichen Sprache. »Sie müssen verrückt geworden sein, wenn Sie glauben, hier irgend etwas erreichen zu können. In spätestens zehn Minuten sind Sie tot.«

Salid lächelte kalt. »Möglich. Ein Grund mehr, keine Zeit zu verlieren, nicht wahr?« Seine Waffe deutete auf die Stahltür neben dem Sternenbanner. »Wir interessieren uns für den Inhalt ihres Safes, General. Wären Sie bitte so freundlich, die Tür zu öffnen?«

»Fuck yourself «, sagte der Offizier ruhig. Salid erschoß ihn.

Seine Waffe stieß ein kurzes, gedämpftes Bellen aus, und auf der Brust der blauen Uniform erschien eine schnurgerade Reihe kleiner schwarzer Löcher, die sich langsam mit dunklem Rot füllten. Eine halbe Sekunde lang starrte der Mann seinen Mörder aus weit aufgerissenen Augen an, dann kippte er nach vorne. Sein Kopf schlug mit dumpfem Geräusch auf der

Schreibtischplatte auf, deren grünes Leder plötzlich mit einer Anzahl häßlicher roter Flecke gesprenkelt war.

»Nun, mein Freund?« Salids Stimme klang fast amüsiert, während er die Waffe auf den jungen Soldaten richtete. »Vielleicht machst du uns die Freude, dieTür zu öffnen?«

Der Soldat zögerte. Seine Rechte umklammerte noch immer den Revolver, den er gezogen hatte, als die beiden Männer hereinstürmten, und Salid konnte seine Gedanken so deutlich auf seinem Gesicht lesen, als hätte er sie laut ausgesprochen. Er wußte, daß er keine Chance hatte, die Waffe zu heben. Angst spiegelte sich auf seinen Zügen.

Dann erschien so etwas wie ein trotziger Ausdruck auf seinem Gesicht. »Erschießt mich doch«, sagte er. Seine Stimme zitterte. »Raus kommt ihr hier jedenfalls nicht mehr.«

Salid musterte ihn einen Moment lang wortlos, dann trat er mit raschen Schritten um den Schreibtisch herum. Er packte den Mann, zerrte ihn von seinem Stuhl und stieß ihn gegen die Wand. »Mach auf! « befahl er.

Der Soldat schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Nur der Gen–«

Das G3 machte Plopp. Der Soldat schrie, brach zusammen und umklammerte mit beiden Händen seine zerschossene Kniescheibe.

Salid lächelte kalt, drehte den Mann mit dem Fuß auf den Rücken und setzte die Mündung seines Gewehrs auf das andere Knie des Verletzten. »Nun, mein Freund?« fragte er. »Soll ich abdrücken?«

»Don't, please«, stöhnte der Mann. Sein Gesicht war grau vor Schmerzen. Er wimmerte. »Please … «

»Dann mach auf! « Salid hielt sein Gewehr mit einer Hand. Mit der anderen packte er den Verletzten am Uniformaufschlag und riß ihn roh in die Höhe. Der Mann schrie vor Schmerz, als ihn ein brutaler Stoß gegen die Tür des Wandsafes prallen ließ. Aber er hob gehorsam die Hände und begann mit zitternden Fingern die Kombination des Zahlenschlosses einzustellen. Mit einem leisen Klicken schwang die Stahltür auf.

»Siehst du«, sagte Salid freundlich. »Es zahlt sich doch aus, vernünftig zu sein.«

In den Ausdruck schier unerträglicher Pein in den Augen des jungen Soldaten mischte sich eine verzweifelte Hoffnung. Salid ließ dieser Hoffnung gerade lange genug Zeit, von einem Funken zu einer lodernden Flamme zu werden, ehe er abdrückte.

Achtlos ließ er den Soldaten fallen. »Tut mir leid, Kleiner«, sagte er spöttisch. »Aber du bist einfach zu vertrauensselig.« Salid registrierte aus den Augenwinkeln den verwunderten Blick, den ihm sein Begleiter bei diesen Worten zuwarf, und auch wenn er sich flüchtig darüber ärgerte, er verstand ihn. Geschmacklose Sprüche wie diese waren normalerweise gar nicht seine Art. Einer der Gründe – wenn nicht der Grund für den Erfolg, den Salid in seinem blutigen Handwerk hatte, war, daß er seine Aufträge mit der Präzision, aber auch der Kälte einer Maschine ausführte, die tötete, weil es ihre Aufgabe war, nicht weil sie Vergnügen oder Widerwillen oder überhaupt etwas dabei empfand. Außerdem verabscheute er Dummheit in jeder Form, und Sprüche wie diese waren dumm. Sie gehörten in schlechte Kriminalromane und noch schlechtere Filme, aber nicht hierher.

Salid wunderte sich über sich selbst. Und er war alarmiert. So unwichtig dieser Ausrutscher seinem Begleiter vorkommen mochte – er war nicht normal, und Dinge, die nicht normal waren, machten ihn prinzipiell nervös.

Ein weiterer Fehler: Salid registrierte, daß er seit gut fünf Sekunden vor dem offenen Safe stand und hineinsah, ohne seinen Inhalt wirklich zu sehen. Was war nur mit ihm los? Verdammt!

Salid schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf den Inhalt des kleinen Wandtresors. Er enthielt das, was man in einem Safe wie diesem und an einem Ort wie diesem erwartete: zwei schmale Aktenordner, die Salid ignorierte, eine kleine Summe Bargeld – Salid rührte auch sie nicht an – und eine in weinrotes Leder gebundene Mappe, die der Terrorist rasch an sich nahm und durchblätterte. Sie enthielt vier eng maschinenbeschriebene Seiten, sorgsam in Klarsichthüllen eingeschweißt und mit dem blaßroten Aufdruck TOP SECRET, der sich quer über jedes einzelne Blatt zog.

Salid klappte die Mappe zu, warf einen weiteren Blick in den Safe und zog eine Video-8-Cassette sowie einen kleinen, überraschend schweren Behälter aus verchromtem Metall hervor, die er beide achtlos in derTasche verschwinden ließ. Aus einem absurden Ordnungsbedürfnis heraus schloß er die Safetür wieder, ehe er sich umwandte. »Gehen wir.«

»War das … alles?« fragte sein Begleiter.

Wieder tat Salid etwas, das eigentlich nicht seinem normalen Verhalten entsprach. Statt die Frage zu ignorieren, beantwortete er sie. »Was hast du erwartet, Bruder?« fragte er spöttisch. »Eine Atombombe?«

Der andere fuhr unmerklich zusammen. Wahrscheinlich hielt er den ungewohnten Spott in Salids Stimme für ein Zeichen von Arger. Er sagte nichts, aber seine Augen verrieten die Frage, die auszusprechen er nicht wagte: Und dafür haben wir unser Leben riskiert?

Salid verwirrte ihn noch mehr, indem er sie laut beantwortete. »Es ist vielleicht nur Papier, Bruder – aber in den richtigen Händen ist es gefährlicher als eine Bombe. Wenigstens für unsere Feinde.« Er schob die Mappe unter seinen Parka und deutete zurTür. »Und jetzt nichts wie weg.«

Diesmal widersprach der andere nicht. Niemand widersprach Salid zweimal.

Zum erstenmal, seit sie den Wagen stehengelassen hatten, kam Brenner der Gedanke, daß dieser Ausflug vielleicht mit etwas mehr als ein paar Unbequemlichkeiten enden könnte. Es war kälter geworden – nicht nur subjektiv, in seiner Einbildung, sondern tatsächlich. Während der letzten zehn Minuten hatte der Himmel begonnen, eine unangenehme stumpfgraue Farbe anzunehmen, die eine deutliche Sprache sprach; eine Sprache, deren Wortschatz aus Begriffen wie Schnee, Kälte und Wind

bestand, aber auch aus Unterkühlung, erfrorenen Zehen, Lungenentzündung und Fieber.

Brenner verzog das Gesicht. Ihre Lage war schlimm genug, auch ohne daß er sich selbst noch zusätzlich fertigmachte. Sie waren seit gut zwanzig Minuten unterwegs – wie weit konnte ein Mensch in zwanzig Minuten gehen? Einen Kilometer? Zwei? Kaum mehr – und die Straße vor ihnen war noch immer so leer und makellos weiß wie im ersten Moment. Nirgends ein Schild, keine Kreuzung, kein Hinweis darauf, daß sich in diesem Winkel des Universums seit dem frühen Pleistozän irgendwelches Leben geregt hätte.

Er wandte im Gehen den Kopf und sah den Weg zurück, den sie gekommen waren. Bäume, Schnee, noch mehr Bäume und noch mehr Schnee. Hübsch. Romantisch, wenn man ihn auf einer Postkarte oder einem Kalenderfoto sah. Wenn man mit nassen Füßen hindurchlatschte und bei jedem Schritt bis über die Knöchel in eisigem Schnee versank, verlor der Anblick allerdings eine Menge von seiner Faszination. Zumindest sickerte ihm der Schnee jetzt nicht mehr in die Schuhe – sie waren bereits randvoll.

Brenners Blick folgte der doppelten Spur, die Astrid und er hinterlassen hatten. Sie sah irgendwie seltsam aus. Seine eigene Fährte verlief schnurgerade einen knappen halben Meter neben dem Straßenrand entlang, während die des Mädchens einer Art flacher Sinuskurve ähnelte: Mal führte sie parallel neben seiner eigenen entlang; mal, immer dann, wenn ihr aufgefallen war, daß sie dem natürlichen Feind ihrer Spezies – einem Erwachsenen – zu nahe zu kommen drohte, bewegte sie sich ein Stück zur Straßenmitte hin, um schließlich langsam wieder zurückzukehren: ein Satellit, der vergeblich versuchte, der Anziehungskraft seines größeren Begleiters zu entrinnen.

Brenner philosophierte einen Moment lang darüber, ob diese Spuren vielleicht symptomatisch für ihrer beider Leben war: das unentschlossene und am Ende doch regelmäßige Auf und Ab des Mädchens und das zielbewußte – und langweilige – Geradeaus seines eigenen Weges? Was Astrid anging, so kannte er sie nicht gut genug, um darüber zu urteilen; aber er vermutete es. Auch er war schließlich einmal sechzehn gewesen, nicht annähernd so renitent wie Astrid, aber doch in Maßen aufsässig. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er kapierte, daß das, was er für ein Aufbegehren gegen Konventionen und starre Regeln hielt, nur das Befolgen anderer Konventionen und Regeln war. Die Astrids der Welt benahmen sich im Grund ebenso berechenbar wie die Brenners. Und was sein Leben anging … nun, was war gegen Langeweile zu sagen, solange sie hinlänglich bequem und finanziell abgesichert war?

»Worauf wartest du?« fragte Astrid. »Daß ein rettender Engel vom Himmel steigt?«

»Einer in einem gelben Wagen mit Münchener Kennzeichen würde mir schon reichen«, antwortete Brenner. Er grinste dümmlich. »Hast du Interesse an einem ADAC-Schutzbrief? Ich kann ihn dir vermitteln, zu günstigen Konditionen. Jeder sollte einen haben. Ohne die gelben Engel ist man aufgeschmissen, glaub mir.«

Astrid blickte ihn verständnislos an. Das Mädchen befand sich wieder auf dem näherkommenden Teil seines Kurses, und Brenner versuchte den Punkt abzuschätzen, an dem es seinen Fehler bemerken und den Sicherheitsabstand wieder vergrößern würde.

»Ich denke darüber nach, daß ich diese Geschichte später einmal meinen Enkeln erzählen kann, weißt du?« fuhr er fort. »Wenn ich sie vor dem Kaminfeuer auf den Knien schaukele. Das große Abenteuer meines Lebens.«

Astrids Blick spiegelte nun vollkommene Verständnislosigkeit. Eine Sekunde lang. Dann sagte sie: »Wenn wir nicht bald irgendwo hinkommen, wo es warm ist, dann wirst du niemals Enkel haben, weil du dir nämlich die Eier abfrierst.«

Zweifellos hatte sie das aus dem einzigen Grund gesagt, um das Wort Eier zu benutzen. Und ebenso zweifellos hatte sie nicht ganz unrecht damit. Sie waren jetzt seit zwanzig Minuten unterwegs, und schon das war mehr, als Brenner sich unter diesen Umständen vorher zugetraut hätte. Plötzlich begriff er, daß sie wirklich in Gefahr waren; vielleicht nicht unbedingt in Lebensgefahr, aber in Gefahr. Daß er es sich bis jetzt nicht wirklich eingestanden hatte, lag wohl weniger an Dingen wie Ignoranz oder übergroßem Mut als vielmehr an dem Leben, das er bis jetzt geführt hatte. Gefahr gehörte einfach nicht dazu nicht diese Art von Gefahr. Die einzig konkreten Gefahren, mit denen Menschen wie er zu rechnen hatten, waren Herzinfarkte, Steuererklärungen, Lungenkrebs, allenfalls noch ein Verkehrsunfall; aber kaum die, zwanzig Kilometer von der nächsten menschlichen Ansiedlung entfernt im Schnee zu erfrieren. Gefahren dieser Art gehörten in Videofilme und Bücher, wo man sie mit dem wohligen Schauer des nicht unbedingt unbeteiligten, aber doch ungefährdeten Zuschauers genießen konnte.

Außerdem – wann war das letzte Mal ein Mensch in diesem Land erfroren? Im letzten Krieg? Vor zwanzig Jahren? Zehn? Brenner hatte keine Ahnung, war aber sicher, daß es lange her war. Niemand hatte in einer Welt, die so von Medien beherrscht wurde wie diese, eine Chance, einer solchen Nachricht zu entgehen.

Vielleicht, dachte er finster, hatten sie ja bereits morgen eine neue Sensation. Oder im nächsten Frühjahr, wenn der Schnee schmolz und ihre steifgefrorenen Leichen freigab. Er sah die Schlagzeilen direkt vor sich: SCHNEEMENSCH VOM TAUNUS ENTDECKT. WAREN ER UND SEIN WEIBCHEN AUF DER FLUCHT VOR EINER MAMMUT HERDE, ALS DIE EISZEIT ÜBER SIE HEREINBRACH?

Dieser alberne Gedanke erschien ihm für einen Moment so komisch, daß er über das ganze Gesicht grinste. Astrid holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück, indem sie fragte: »Hast du in deinem Angebot eigentlich auch eine Versicherung gegen Dummheit?«

»Ja«, antwortete Brenner. »Aber ich habe die letzte Prämie nicht überwiesen. Das wolltest du doch hören, oder?«

Die Schärfe in seinen Worten überraschte ihn selbst. Offenbar setzte ihm die Kälte doch mehr zu, als er wahrhaben wollte. Er begann launisch zu werden. Aber das war auch kein Wunder.

Er fror erbärmlich, und aus seinen Füßen war mittlerweile jedes Gefühl gewichen, auch – und das beunruhigte ihn erheblich – die Schmerzen. Fingen Erfrierungen so an?

Astrid wirkte jetzt völlig verstört. Aber die Härte, die für einen Moment aus ihren dunklen Augen gewichen war, kehrte zurück. Zu spät wurde ihm klar, daß die Beleidigungen und das, was sie für Offenheit hielt, wohl zu ihrer extrovertiertaufsässigen Art gehörten, Vertrauen zu fassen. Er hatte diesen Versuch vereitelt, und vielleicht auf Dauer. Andererseits – was kümmerte es ihn?

Dann tat sie etwas, was ihn überraschte. Sie blieb stehen, zog mit klammen Fingern die Marlboro-Packung aus derTasche und hielt sie ihm hin. Sie enthielt noch zwei Zigaretten.

Ein Friedensangebot? Ja, entschied er.

Brenner war nicht nach Rauchen, aber er begriff die Geste und wollte die Kleine kein zweites Mal vor den Kopf stoßen. Also griff er mit tauben Fingern nach der Zigarette, klemmte sie sich zwischen die ebenso tauben Lippen und ließ sich von dem Mädchen Feuer geben.