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Heidmann schloß noch einmal die Augen, preßte die Lider so fest zusammen, daß winzige bunte Lichtblitze auf seinen Netzhäuten erschienen, und als er sie wieder hob, waren die Schatten verschwunden. Natürlich. Sie waren niemals dagewesen. Nichts als Einbildung. Sein Nervenkostüm war wirklich nicht mehr das beste.
Er drehte sich wieder zurTür herum, und als er die Hand zum zweitenmal nach der Klinke ausstreckte, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig: das Funkgerät in seiner Manteltasche gab ein raschelndes elektronisches Husten von sich. Die Dunkelheit rings um sie herum bekam auf unheimliche Weise Substanz und schien zu einer Mauer zu werden, die sie nun auch körperlich einschloß. Und aus dem Haus selbst erklang ein Schuß, fast unmittelbar gefolgt von einem Schrei und dem dumpfen Poltern eines Körpers, der zu Boden fiel.
Heidmann fluchte lauthals, warf sich mit aller Kraft gegen die Tür und fluchte gleich darauf noch viel lauter, als er vom Schwung seiner eigenen Bewegung zurückgeworfen wurde und um ein Haar das Gleichgewicht verlor. Der Schmerz trieb ihm dieTränen in die Augen. Seine Schulter fühlte sich an, als wäre sie gebrochen, aber die Tür hatte nicht einmal gezittert. Es war eine sehr alte, trotzdem aber sehr massive Tür, die vermutlich auch dem Ansturm von drei oder vier Männern zugleich standgehalten hätte.
Während Heidmann nun mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder näher humpelte und sich dabei die geprellte Schulter rieb, fielen im Haus erneut Schüsse; diesmal war es das härnmernde Stakkato einer Maschinenpistole, in das sich ein entsetzter Schrei mischte, der dann so plötzlich abbrach, daß dieses jähe Schweigen nur eine einzige Deutung zuließ.
Die MPi-Salve jagte mit unvorstellbarer Schnelligkeit auf ihn zu und würde ihn treffen, noch ehe er auch nur vollends den Entschluß fassen konnte, sich zur Seite zu werfen, aber auf einer zweiten, subjektiven Ebene hatte Brenner auch das Gefühl, die Zeit wäre stehengeblieben. Er konnte regelrecht spüren, wie die Befehle seines Gehirns durch sein Nervensystem rasten, ohne die geringste Chance, die Muskeln und Sehnen, an die sie gerichtet waren, jemals zu erreichen; geschweige denn, diese Befehle in Bewegung umzuwandeln, mit der er dem heraneilenden Tod ausweichen konnte. Ihm blieb sogar genügend Zeit, die Anzahl der rauchenden Krater zu schätzen, welche die Geschoßsalve in den Boden stanzen würde, bevor die vorletzte Kugel vermutlich seine Kniescheibe und die letzte seinen Brustkorb zerschmettern mußte: vier, allerhöchstens fünf.
Zwei, dann drei der großkalibrigen Geschosse rissen ovale, rauchende Löcher in den Holzfußboden, das vierte grub sich unmittelbar zwischen seinen Füßen ein. Der fünfte Schuß kam nicht.
Brenner registrierte gar nicht, daß die Zeit wieder zu ihrem normalen Ablauf zurückgefunden hatte. Er stand mit angehaltenem Atem da und wartete auf den entsetzlichen Schmerz, mit dem das dreitausend Stundenkilometer schnelle Projektil seinen Brustkorb zerschmettern würde, aber es fiel kein Schuß mehr. Statt dessen erscholl ein dumpfes Poltern, und einen Moment später ein reißendes Geräusch, wie es Brenner noch nie zuvor gehört hatte, das aber so entsetzlich war, daß er innerlich aufstöhnte. Es klang wie lebendiges Fleisch, das vom Knochen gerissen wurde.
» Brenner! Vorsicht! « Der Schrei und der kraftvolle Stoß, mit dem Johannes ihn zur Seite schleuderte, erfolgten gleichzeitig. Er wäre zu spät gekommen, um ihn aus der Bahn der MPi-Salve zu befördern, aber er ließ ihn nicht nur gegen die Wand taumeln, sondern riß ihn auch endgültig aus seiner Erstarrung. Noch während er fast verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfte, erfaßte er mit einem Blick die bizarre Szene am anderen Ende des Flures, aber er verstand nicht, was er sah.
Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, hatte seine Waffe fallenlassen. Das war das Poltern gewesen, das er gehört hatte. Brenner hatte instinktiv angenommen, daß Salid auf den Angreifer geschossen und ihm so das Leben gerettet hätte, aber Salid wälzte sich am Boden und kämpfte gleichzeitig mit zwei Männern, wie es aussah, und seine eigene Waffe war davongeflogen und lag meterweit entfernt. Der Angreifer, der auf Brenner gefeuert hatte, stand noch unter der Tür des angrenzenden Zimmers und war nur als Schatten zu erkennen, aber Brenner konnte immerhin sehen, daß er die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Etwas bewegte sich zwischen und unter seinen Fingern, und er hörte noch einmal jenes grauenhafte reißende Geräusch, nicht sehr laut, aber unablässig wie eineTonbandaufnahme von einer halben Sekunde Dauer, die sich ständig wiederholte. Plötzlich stieß der Mann einen gurgelnden Schrei aus und verschwand rückwärts taumelnd unter derTür. Aber bevor die Schatten ihn verschlangen, machte Brenner eine fürchterliche Beobachtung. Sie ergab keinen Sinn, aber etwas in ihm stellte eine Verbindung zu jenem fürchterlichen, reißenden Geräusch her, und er war nicht in der Lage, sich gegen diese Schlußfolgerung zu wehren. Etwas geschah mit den Händen des Mannes. Sie färbten sich von den Handgelenken zu den Fingerspitzen aufsteigend braun und einen Sekundenbruchteil später schwarz, und noch eine Winzigkeit später, gerade in jenem Sekundenbruchteil, in dem die Schatten des unbeleuchteten Zimmers den Mann verschlangen, vollzog sich der unheimliche Wechsel in umgekehrter Reihenfolge: die dunkle Farbe floß wieder in die hochgerissenen Ärmel zurück, aber sie schien das Fleisch mitzunehmen. Für einen unendlich kurzen Moment, gerade lange genug, um es zu erkennen, aber nicht sicher sein zu können, es wirklich zu sehen, hatte Brenner die schreckliche Vision, einen grinsenden Totenschädel zu erblicken, der von zwei hochgerissenen Skeletthänden bedeckt wurde.
»Zurück! Brenner – kommen Sie zurück! Verdammt, wollen Sie umgebracht werden?! «
Brenner war von dem Gesehenen viel zu schockiert, um auf die Worte zu reagieren. Hilflos stand er da und starrte die Tür an, hinter der jetzt wieder nichts als barmherzige Dunkelheit herrschte, aber zugleich sah er das schreckliche Bild noch immer, ein Anblick, der nichts anderes als eine fürchterliche Halluzination gewesen sein konnte, ohne daß ihm dieses Wissen irgend etwas von seiner entsetzlichen Wirkung nahm. Er hörte, daß Johannes abermals seinen Namen schrie, aber er war unfähig, darauf zu reagieren, auch nur irgend etwas zu tun. Schließlich packte ihn Johannes kurzerhand am Arm und zerrte ihn grob in das Zimmer zurück, aus dem sie gerade herausgekommen waren. Mit der linken Hand versetzte er Brenner einen Stoß, der ihn haltlos durch den winzigen Raum stolpern und wieder auf das Bett zurückfallen ließ, mit der anderen warf er die Tür ins Schloß.
Brenner rappelte sich mühsam hoch. Für einen Moment begann sich das Hotelzimmer vor seinen Augen zu drehen, so daß er sich hastig mit beiden Händen abstützte, um nicht gleich wieder nach vorne zu sinken. Er war nicht sicher, ob es sich bei diesem Schwindelanfall wirklich um eine neuerliche Nachwirkung der Medikamente handelte, oder vielleicht um etwas viel Schlimmeres. Er sah das furchtbare Bild noch immer. Er konnte tun, was er wollte, es blieb vor seinen Augen, als hätte es sich unauslöschlich in seine Netzhäute eingebrannt. Aber er konnte es nicht wirklich gesehen haben!
»Großer Gott!« stammelte Johannes. »Jesus Christus, was tun wir nur? Was. .. was geschieht hier nur?«
Brenner sah auf und blickte in das schreckensbleiche Gesicht des jungen Jesuiten. Johannes lehnte schweratmend an der Tür, wie um sie mit seinem Körpergewicht zu blockieren. Daß die papierdünne Spanplatte einer Pistolenkugel ungefähr so viel Widerstand entgegensetzen würde wie der Anzug, den er trug, schien er sich nicht vor Augen zu halten. Aber wahrscheinlich war das auch egal. Es spielte keine Rolle, ob jemand Johannes durch die Tür hindurch erschoß oder hereinkam, um es zu tun. Brenner begriff plötzlich, daß die vage Furcht, die er die ganze Zeit über gehabt hatte, nur zu berechtigt gewesen war. Salids Nähe allein reichte, um sie zum Tode zu verurteilen. Trotzdem sagte er müde:
»Gehen Sie von derTür weg.«
Johannes sah ihn eine halbe Sekunde lang verständnislos an, aber dann fuhr er erschrocken zusammen und trat hastig zwei Schritte weit ins Zimmer hinein. In seinen Augen flackerte noch immer die gleiche, kaum mit Worten zu beschreibende Furcht, die Brenner schon einmal darin gesehen hatte. Aber es war mit dieser Furcht wie mit seinem eigenen Schwindelgefühl: Er war nicht sicher, ob es wirklich die Angst vor dem Tod war, die er in Johannes' Blick las, oder vielleicht etwas viel Schlimmeres.
»Sie … sie haben auf Sie geschossen! « stammelte Johannes. »Großer Gott, beinahe … beinahe hätten sie Sie umgebracht! « »Falsch«, antwortete Brenner ruhig. »Sie haben auf uns geschossen, Johannes.« Er richtete sich behutsam auf und wartete auf einen neuerlichen Schwindelanfall, während er die Beine vom Bett schwang. Dann fügte er hinzu: »Und keineswegs aus Versehen.«
»Nicht aus …« Johannes riß ungläubig die Augen auf. »Wie meinen Sie das?«
Wenn man bedachte, daß Johannes gerade eben noch viel schneller und besser reagiert hatte als er selbst, dachte Brenner, stellte er sich jetzt ziemlich begriffsstutzig an. Vielleicht wollte er die Wahrheit nicht sehen. Er stand auf, ging an Johannes vorbei und streckte die Hand nach der Türklinke aus, hatte aber nicht den Mut, sie herunterzudrücken.
»Diese Männer sind nicht hier, um irgend jemanden zu verhaften«, sagte er. »Muß ich noch deutlicher werden?«
Bevor Johannes antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Salid stürmte herein. Er blutete aus einem fast finger
langen Riß auf der Stirn und hatte einige üble Prellungen im Gesicht, schien aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Er hatte seine Pistole wieder aufgehoben und in den Gürtel geschoben. In den Händen hielt er die MPi, die der Mann fallengelassen hatte, der auf Brenner geschossen hatte. Er schloß die Tür nicht hinter sich, so daß Brenner den Korridor bis zur Treppe hin deutlich überblicken konnte. Auf dem Boden lagen drei reglose Gestalten. Sämtliche Türen standen offen; wahrscheinlich hatte Salid die dahinterliegenden Zimmer kontrolliert, ehe er zurückkam.
»Das war knapp«, sagte er. »Ist einer von euch verletzt?« Brenner und Johannes schüttelten gleichzeitig die Köpfe, und Johannes fragte: »Was ist mit den Polizisten?«
»Das waren keine Polizisten«, antwortete Salid.
»Sie haben sie umgebracht«, behauptete Johannes. Seltsam aber Brenner hatte das ganz sichere Gefühl, daß die Empörung in seiner Stimme nur gespielt war; bestenfalls Gewohnheit.
»Den einen, der zuerst geschossen hat«, antwortete Salid zögernd. »Jedenfalls nehme ich es an. Die beiden anderen sind bewußtlos. Wir haben nicht viel Zeit.« Er sah sich hastig im Zimmer um. Obwohl er von allen hier vermutlich am besten wußte, wie aussichtslos ihre Situation war, war seinem Gesicht nicht die geringste Regung anzusehen.
»Worauf warten wir dann noch?« fragte Johannes. »Wir müssen hier raus! «
»Eine gute Idee, Hochwürden«, antwortete Salid spöttisch. »Wenn Sie uns jetzt auch noch verraten, wie …« Er machte eine Kopfbewegung zum Fenster hin. »Da draußen wimmelt es garantiert von Scharfschützen. «
Ein sonderbares Geräusch, das von draußen hereindrang und rasch an Lautstärke zunahm, hinderte ihn daran, weiterzureden. Brenner drehte sich stirnrunzelnd herum, sah einen Moment zum Fenster und ging dann an Johannes vorbei. Das Geräusch schwoll rasch weiter an und wurde jetzt so laut, daß es selbst hier drinnen fast jede Unterhaltung unmöglich machte, und Brenner erkannte es, noch ehe er die Gardinen zurückzog und den kantigen Schatten sah, der sich vor die Wolken geschoben hatte. Ein Helikopter. Sie fuhren schweres Geschütz auf. Offenbar war die Polizei – oder wer immer es war entschlossen, Salid kein weiteres Mal entkommen zu lassen.
»Gehen Sie vom Fenster weg! « schrie Salid über das Heulen des Hubschraubers hinweg. Brenner wollte dem Befehl nachkommen, aber in diesem Moment flammte unter dem Rumpf des Helikopters ein greller Scheinwerferstrahl auf, der jedoch nicht auf das Fenster zielte. Als Brenner sich ein Stück weit vorbeugte und das Gesicht gegen das Glas preßte, konnte er erkennen, daß er auf den Hauseingang gerichtet war.
»Aufbrechen!« befahl Heidmann.
Einer der drei Polizisten machte Anstalten, Heidmanns Beispiel zu folgen und sich gegen dieTür zu werfen, aber die beiden anderen hatten aus seinem Fehler gelernt; während der eine seinen Kollegen zurückhielt, visierte der zweite aus kaum einem Meter Abstand das Schloß an und drückte dreimal rasch hintereinander ab. Die Kugeln ließen Funken und rauchende Holzsplitter aus derTür fliegen. Wie durch ein kleines Wunder hielt sie selbst diesem Angriff stand, aber ein abschließender Fußtritt des Polizeibeamten sprengte sie endgültig auf. Sie flog krachend gegen die Wand und gab den Blick auf das Innere des Gebäudes frei.
Die Dunkelheit dahinter war fast vollkommen, aber was Heidmann nicht sah, das verriet ihm sein Gehör, und seine Phantasie erschuf die dazu passenden Bilder – lebhafter und sehr viel eindringlicher, als ihm lieb war. Aus dem oberen Stockwerk des Hotels drangen noch immer Schüsse, Schreie und der unverkennbare Lärm eines Kampfes, aber da waren noch andere Geräusche – Geräusche, die näher waren und nicht eindeutig zu identifizieren, aber dafür um so unheimlicher. Heidmann hörte ein seidiges Rascheln und Schleifen, ein Geräusch wie von Millionen winziger Knochensplitter, die auf eine Tischplatte aus Marmor fielen. Ein Wispern und Flüstern wie von fernen Stimmen im Wind und etwas, das wie ein Stöhnen klang. Nichts davon war laut. Die Geräusche hätten im Höllenlärm des Kampfes, der ein Stockwerk über ihnen tobte, einfach untergehen müssen, und trotzdem hörte er sie ganz deutlich; beinahe deutlicher als die Schüsse und Schreie von oben.
Einer der uniformierten Beamten wollte das Haus betreten, aber Heidmann hielt ihn mit einer hastigen Geste zurück. »Warten Sie! « sagte er. Zugleich bewegte er sich behutsam einen Schritt vor, ließ sich neben dem zersplittertenTürrahmen in die Hocke sinken und suchte die Dunkelheit jenseits des Durchgangs mit Blicken zu durchdringen. Er sah kaum etwas; nur Schatten und Umrisse, die vielleicht gar nicht da waren, aber es war der gleiche, unheimliche Effekt wie gerade draußen auf der Straße: Die Schwärze selbst schien lebendig geworden zu sein. Der Boden, die Wände, die Decke, ja, selbst die Dunkelheit dazwischen bewegten sich.
Was war los mit ihm? So sehr der unheimliche Effekt Heidmann auch erschreckte, war er sich doch die ganze Zeit über der Tatsache bewußt, daß er ihn nicht wirklich sah. Seine Nerven spielten ihm einen Streich. Aber das hätten sie nicht gedurft. Heidmann war im Laufe seiner fünfundzwanzig Dienstjahre mehr als einmal in Lebensgefahr gewesen – oder hatte es zumindest geglaubt – , oft genug jedenfalls, um Angst und Nervosität in allen Spielarten zu kennen. Etwas wie dies hatte er nie erlebt. Er war niemals in Panik geraten. Jetzt stand er kurz davor, und das nur, weil er ein paar Schatten sah, die er nicht deutlich erkennen konnte.
Die Schüsse aus dem Obergeschoß hielten immer noch an. Dort oben mußte eine regelrechte Schlacht im Gange sein. Heidmann begriff plötzlich, daß er schon zwei oder drei Sekunden reglos hier saß und in die Dunkelheit hineinstarrte und daß nicht nur die drei Männer in seiner Begleitung, sondern auch die drüben im Wagen sein Benehmen deutlich beobachten konnten. Er richtete sich wieder auf, streckte den Arm mit der Waffe in die Dunkelheit wie ein Blinder seinen Taststock und trat einen Schritt weit in den Flur hinein. Unter seinen Füßen knisterte es; ein Gefühl, als liefe er auf Erbsen
oder Popcorn, das unter dem Gewicht seinerTritte zerbrach.
»Smith! « rief er laut. »Sind Sie hier?«
Keine Antwort. Das Hämmern der Schüsse aus dem Obergeschoß hielt für einen Moment inne und schien dann doppelt laut weiterzugehen, aber seine Augen hatten sich nun auch an die veränderten Lichtverhältnisse hier drinnen gewöhnt. Er konnte seine Umgebung zumindest in Umrissen erkennen – ein schmaler Flur, der zu einer ebenso schmalen, steilen Treppe führte und hier unten drei Türen hatte, von denen eine offenstand. Dahinter brannte Licht. Sonderbarerweise erhellte der Schein nur den Türrahmen und fiel nicht in den Flur hinaus, aber Heidmann war nicht in dem Zustand, über dieses Phänomen nachzudenken. Er warf einen raschen Blick zurTreppe hinauf und kam zu dem Schluß, daß es glatter Selbstmord wäre, jetzt dort hinaufzugehen; die Frage war nicht ob, sondern von welcher Seite er erschossen wurde, wenn er das tat.
Er bedeutete seinen Männern mit einer wortlosen Geste, ihm zu folgen, wies dann auf die beiden geschlossenen und als letztes auf die offenstehende Tür. Sein unausgesprochener Befehl wurde präzise befolgt. Zwei der Polizeibeamten öffneten die Türen und verschwanden mit angeschlagenen Waffen in den dahinter liegenden Räumen, während der dritte an seine Seite trat.
Mit klopfendem Herzen näherte sich Heidmann der erleuchteten Tür. Er konnte einen schmalen Ausschnitt des dahinterliegenden Raumes erkennen; eine kleine, schäbige Küche mit billigen Möbeln und alten Tapeten, deren Muster sich vor seinen Augen zu bewegen schien. Auf dem Boden lag ein zerschlissener braunerTeppich.
Irgend etwas sagte ihm, daß er diesen Raum besser nicht betrat, und das Gefühl war so deutlich, daß er tatsächlich noch einmal zögerte, ehe er die Schwelle überschritt. Wäre er allein gewesen, hätte er vermutlich auf diese Warnung gehört.
»Smith?« rief er laut. »Smith – sind Sie hier? Kenneally?«
Er bekam keine Antwort, und diesmal hatte ihn sein Gefühl nicht getrogen. Heidmann trat mit einem entschlossenen Schritt vollends in den Raum hinein und sah zwei reglose Gestalten auf dem Boden liegen. Er erkannte sofort, daß sie tot waren, und er wußte auch sofort, um wen es sich handelte: Neben einer umgestürzten Aluminiumleiter unter dem Fenster lag eine grauhaarige Frau von vielleicht fünfzig oder sechzig Jahren, die in einen zerschlissenen Kittel gehüllt war und bei der es sich offensichtlich um die Besitzerin dieses Etablissements handelte. Der zweiteTote war Smith. Er lag unmittelbar hinter derTür auf dem Rücken und starrte aus weit aufgerissenen Augen gegen die Decke. Etwas stimmte nicht mit seinem Gesicht, aber Heidmann konnte im allerersten Moment nicht sagen, was.
Er verschwendete auch keinen zweiten Gedanken an diese Frage, sondern trat mit einem raschen Schritt über den Leichnam des Amerikaners weg und drehte sich zugleich einmal im Kreis. Die Waffe, die er nun mit beiden Händen hielt, machte die Bewegung getreulich mit, und sein Zeigefinger hatte den Abzug nun fast bis zum Druckpunkt durchgezogen. Ganz gleich, was er noch vor ein paar Minuten selbst gedacht hatte, er hätte geschossen, hätte sich Smith' Mörder noch im Raum aufgehalten.
Aber er war allein. Das Zimmer hatte keinen zweiten Ausgang, und die spärlichen Möbel boten kein Versteck, das groß genug gewesen wäre, einen Menschen zu verbergen. Wer immer den CIA-Mann umgebracht hatte, war nicht mehr da.
Heidmann ließ mit einem erleichterten Seufzer die Waffe sinken und drehte sich wieder zu Smith' reglosem Körper herum. Sein Blick streifte dabei das Gesicht des Polizeibeamten, der ihm gefolgt war. Der Mann stand in einer fast grotesken, mitten in der Bewegung erstarrten Haltung unter der Tür und starrte Smith an. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren, und die Augen quollen vor Entsetzen weit aus den Höhlen. Er zitterte am ganzen Leib.
Selbst angesichts ihrer prekären Situation erschien Heidmann dieses Verhalten zumindest ungewöhnlich. Anders als in amerikanischen Serienkrimis sahen echte Polizisten nicht jedenTagTote, aber sie sahen sie, und die meisten Unfallopfer boten einen weit schlimmeren Anblick als ein Ermordeter.
Heidmann wollte eine entsprechende Bemerkung machen, aber dann fiel sein Blick wieder auf Smith, und im gleichen Moment begriff er sowohl den Grund für das Entsetzen in den Augen des Polizeibeamten, als auch den für das vage Gefühl von Unrichtigkeit, das ihn quälte. Was nicht richtig war, war Smith' Gesicht.