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Drei, vier, fünf, schließlich zehn endlose Sekunden lang herrschte vollkommenes Schweigen, dann sagte die Stimme auf die gleiche, fast emotionslose Weise wie bisher: »Töten Sie ihn. Und seine beiden Begleiter auch.«
Kenneally war erschrocken, aber nicht überrascht. Er hatte geahnt, daß er diese Anweisung bekommen würde. Nein: Er hatte es befürchtet. »Das … ist nicht so einfach«, sagte er zögernd. »Ich fürchte, ich kann das nicht.«
»Sie müssen es. Glauben Sie mir-es ist wichtig.« »Natürlich«, beeilte sich Kenneally zu versichern. »Aber die Situation ist leider sehr kompliziert. Wir sind nicht allein. Die örtlichen Behörden laufen bereits Amok. Smith hat – « »Sie müssen es tun«, unterbrach ihn die Stimme im Hörer. »Es ist unvorstellbar wichtig. Töten Sie die drei, unbedingt.
Selbst wenn … wenn es das Leben weiterer Unschuldiger kosten würde. Der Preis spielt keine Rolle. Es steht mehr auf dem Spiel, als Sie sich auch nur vorstellen können.«
Kenneally war schockiert; nicht nur wegen dem, was sein Gesprächspartner gesagt hatte, sondern vielmehr über die Art, wie er es tat. Seit jenernTag vor nunmehr fünfzehn Jahren, an dem Kenneally die gesichtslose Stimme am Telefon das erste Mal gehörte hatte, hatte sie stets gleich geklungen: ruhig, freundlich und sehr bestimmt, aber im Grunde auch so ausdruckslos, daß sie ebensogut einer Maschine hätte gehören können. Was er jetzt darin hörte, war eindeutig eine Emotion gewesen. Und nicht irgendeine. Es war Angst.
»Wie Sie wünschen«, sagte er.
Die Verbindung wurde ohne ein Wort des Abschieds unterbrochen, und Kenneally klappte das Gerät wieder zu. Mehrere Sekunden lang starrte er den kleinen Apparat mit steinernem Gesicht an, dann klappte er ihn wieder auf und wählte eine andere, sehr viel kürzere Nummer. Diesmal meldete sich der Agent, mit dem er selbst vor ein paar Augenblicken erst gesprochen hatte.
»Kenneally hier«, sagte er. »Was haben Sie erreicht?«
Die Stimme des Agenten klang nervös und verriet sehr viel mehr über seinen wahren Zustand, als es seine Worte taten: »Ich konnte sie beruhigen, Sir. Aber ich fürchte, nicht für lange. Der Polizeipräsident dieser Stadt ist auf dem Weg hierher. Er war sehr deutlich. Wenn noch ein Schuß fällt, droht er damit, unsere Absperrung mit Gewalt durchbrechen zu lassen und uns alle zu verhaften. Wir haben noch fünf Minuten. Allerhöchstens. «
»Das reicht«, antwortete Kenneally. »Schicken Sie die Einsatzgruppe los. Wir stürmen das Haus.«
»Aber Sie, Sie – «
»Sie haben mich verstanden!« unterbrach ihn Kenneally; nicht einmal lauter, aber in scharfem, fast schneidendemTon. »Stürmen Sie das Haus. Sofort. Ich übernehme die volle Verantwortung. «
Zwei, drei Sekunden lang herrschte Schweigen, und Kenneally rechnete schon damit, daß der Mann sich weigern würde, diesen Befehl auszuführen. Genaugenommen mußte er sich weigern. Kenneally hätte an seiner Stelle nicht anders reagiert – ohne die Informationen, die er besaß. Er betete, daß seine Autorität ausreichte, um die Bedenken des Mannes zu überwinden.
»Ganz wie Sie meinen, Sir«, sagte der Agent schließlich. »Aber ich darf Sie bitten, Ihren Befehl noch einmal und vor Zeugen zu wiederholen.«
Kenneally sah in Richtung des Wagens, in dem der CIAAgent saß und mit ihm telefonierte. Er war keine fünfzig Meter entfernt, und die Situation war im Grunde schon fast absurd: Er hätte nur hingehen und seinen Befehl wiederholen müssen. Aber er rührte sich nicht von der Stelle, sondern sagte nur noch einmal:
»Ich gebe Ihnen den Befehl, das Haus zu stürmen. Ich übernehme die volle und alleinige Verantwortung für diese Aktion. Und ich will keine Überlebenden.«
»Sir?! «
»Sie haben richtig verstanden«, sagte Kenneally. Seine Stimme klang belegt, und der Speichel in seinem Mund schmeckte plötzlich bitter. Er hatte Mühe, überhaupt noch zu sprechen. »Töten Sie Salid und seine Begleiter, selbst wenn sie sich ergeben sollten. Das ist ein Befehl.«
Brenner war nicht der einzige, der die unheimlichen Laute hörte. Auch Johannes war stehengeblieben und sah sich mit kleinen, nervösen Blicken um, und obwohl er Salids Gesicht nicht erkennen konnte, spürte er die plötzlich gestiegene Anspannung des Palästinensers.
»Unheimlich«, murmelte Johannes.
Salid machte eine ärgerliche Geste, still zu sein, und Johannes fuhr sichtbar zusammen. Die winzige Bewegung allein reichte aus, um die Treppe spürbar erzittern zu lassen. Einen Moment später hörten sie ein sonderbar dumpfes, ächzendes Geräusch, dann lief ein spürbares Zittern durch das gesamte Haus.
Brenner streckte ganz automatisch die Hand nach demTreppengeländer aus, um sich daran festzuhalten, besann sich im letzten Moment darauf, was mit dem Türrahmen oben geschehen war und griff nur sehr behutsam zu. Trotzdem zerfiel das Geländer unter seinen Fingern zu einer klebrigfeuchten Masse, und diesmal war es keine Einbildung – er konnte sehen, wie etwas daraus hervorkroch und mit raschen, abgehackt wirkenden Bewegungen davonhuschte. Es verschmolz schon nach einer Sekunde mit den Schatten, aber Brenner hatte einen deutlichen Eindruck von etwas Winzigem, Dunklem mit zu vielen Beinen und glitzernden Augen. Und einem Stachel.
Angeekelt trat er einen Schritt zurück und wischte sich die Finger an der Wand auf der anderen Seite ab.
Er konnte spüren, wie sie vibrierte. Etwas bewegte sich.
Kroch.
Unter derTapete.
Und nicht nur dort. Ganz plötzlich wurde ihm klar, daß die Bewegung tatsächlich überall spürbar war; im Boden, in den Wänden, hinter den gesprungenen Holzvertäfelungen und in den Treppenstufen, selbst in der Dunkelheit, die das untere Ende derTreppe verschlungen hatte.
»Irgend etwas … stimmt hier nicht«, sagte er. »Da … ist etwas.«
Er hatte lauter gesprochen, als er eigentlich selbst beabsichtigte, aber zu seiner Überraschung gebot ihm Salid nicht sofort und herrisch, zu schweigen, sondern sah ihn nur einen Moment lang nachdenklich – und ein bißchen erschrocken? – an, ehe er sich wieder umdrehte, um seinen Weg fortzusetzen.
Im gleichen Moment explodierte dieTür.
Der Blitz war so grell, daß Brenner vor Schmerz aufschrie und das Gleichgewicht verlor. Hilflos taumelte er gegen die Wand, sank daran zu Boden und riß die Arme vors Gesicht. Er war blind. Vor seinen Augen rotierten weiße Feuerräder, und für Sekunden war er auch so gut wie taub; das Dröhnen der Explosion war so gewaltig gewesen, daß er kaum etwas hörte. Und es hielt an. Dem ersten, splitternden Krachen folgte ein zweiter, noch gewaltigerer Donnerschlag, und praktisch im gleichen Sekundenbruchteil ein noch grellerer Blitz, der selbst durch seine geschlossenen Lider drang. Schüsse fielen, zuerst eine kurze, rasende Salve, dann ein einzelner Pistolenschuß und dann wieder ein abgehackter Feuerstoß. Die Geschosse fuhren mit dumpfem Klatschen in die Wände und den Boden oder rissen Stücke aus dem Treppengeländer und den Stufen. Er hörte, wie Salid etwas schrie und zurückschoß und krümmte sich weiter, als mindestens eines der Geschosse unmittelbar in seiner Nähe einschlug. Ganz instinktiv wartete er darauf, daß jemand kam und ihn in Sicherheit brachte.
Aber es kam niemand.
Salid hatte sich am Fuße derTreppe zusammengekauert und feuerte auf die Tür, obwohl dort nicht mehr als Schatten zu erkennen waren, die hinter einem Vorhang aus Rauch und züngelnden Flammen tanzten.
Trotzdem mußte er getroffen haben, denn durch den Lärm drang ein gellender Schrei an Brenners Ohr, und für einen Moment hörte das Schießen auf. Vielleicht nur für eine Sekunde, aber lange genug für Salid, in die Höhe zu springen und zwei, drei Stufen weit dieTreppe hinaufzuhetzen. Augenblicke später stach eine neue, orangeweiße Mündungsflamme aus dem Vorhang aus Rauch und Feuer vor der Tür. Die Salve verfehlte Salid, der sich blitzschnell duckte, und riß gut einen Meter des Treppengeländers in Stücke. Salid fluchte, kroch auf Händen und Knien weiter die Treppe hinauf und gab einen ungezielten Feuerstoß über die Schulter zurück ab. Die letzten drei-oder viermal schlug der Hammer der Waffe klickend ins Leere. Salid warf die nutzlose MN fort, hastete weiter und kam schweratmend neben Brenner an.
»Nach oben! « schrie er. »Worauf warten Sie?! «
Brenner war noch immer wie gelähmt. Er hörte Salids Worte und wußte, daß der Palästinenser recht hatte. Er würde sterben, wenn er auch nur noch einen Augenblick länger hier blieb. Aber er konnte sich einfach nicht rühren.
Salid fluchte, ergriff ihn roh an der Schulter und zerrte ihn mit einem Ruck in die Höhe, und im gleichen Moment erschien unter ihm ein hochgewachsener, dunkler Schatten. Trotz seiner Lähmung schrie Brenner ihm eine Warnung zu, aber Salid reagierte bereits, noch bevor er den erstenTon hervorbrachte; vermutlich hatte er den Schrecken auf seinem Gesicht erkannt und richtig gedeutet. Er ließ Brenners Schulter los und fuhr in einer blitzschnellen Kreiselbewegung herum, wobei er sich auf ein Knie herabsinken ließ und zugleich die Pistole aus dem Gürtel zog.
Aber so schnell er auch war, er war nicht schnell genug. Ein Schuß fiel. Salid wurde mitten in der Bewegung herum-und zur Seite geworfen, ließ seine Waffe fallen und prallte gegen das beschädigte Geländer, das unter der Belastung endgültig in Stücke zerbrach. Mit einem gellenden Schrei stürzte er in die Tiefe und schlug schwer auf dem gefliesten Boden des Hausflurs auf.
Die Zeit schien stehenzubleiben. Was Brenner schon einmal erlebt hatte, wiederholte sich, nur noch schlimmer. Wie in einer bizarren, zehnmal verschärften Zeitlupenaufnahme sah er, wie der Mann am unteren Ende der Treppe den Arm hob und nun auf ihn zielte. Die Waffe war genau auf sein Gesicht gerichtet. Er konnte sehen, wie sich der Zeigefinger des Mannes um den Abzug spannte und das gebogene Stück Metall Millimeter um Millimeter zurückzog, und so absurd es ihm selbst erschien, er war sicher, daß er die Kugel sehen würde, wenn sie aus dem Lauf herausflog und auf ihn zuraste. Und er war immer noch nicht in der Lage, sich zu rühren.
Über ihm erscholl ein lautstarkes Poltern. Johannes stolperte die Treppe hinunter, verlor plötzlich das Gleichgewicht und fiel der Länge nach nach vorne. Er schlitterte auf dem Bauch die Stufen weiter hinunter und bekam dabei irgendwie Salids Pistole zu fassen. Der Mann am unteren Ende derTreppe, der auf Brenner zielte, war für einen winzigen Moment abgelenkt. Vielleicht verblüffte ihn der Anblick einfach zu sehr, vielleicht war er auch einfach nur unschlüssig, auf welches der beiden Ziele er schießen sollte.
Johannes schlitterte weiter immer schneller in die Tiefe, brachte es irgendwie fertig, sich währenddessen auf den Rücken zu drehen und hielt die Pistole in den vorgestreckten Händen. Er schoß; zwei-, drei-, viermal hintereinander, bis er das Ende der Treppe erreicht hatte und so wuchtig auf dem Boden aufprallte, daß ihm die Waffe aus den Händen geschleudert wurde. Jede einzelne Kugel traf.
Diesmal war es keinTraum, sondern eine Vision, die ihn unvermittelt und mit der Wucht eines Blitzschlages traf und ihn ebenso brutal und nachhaltig aus der Wirklichkeit hinausschleuderte, wie die Pistolenkugeln den Mann am Fuße der Treppe zu Boden warfen.
Er war übergangslos wieder an jenem Ort, den er in seinem Traum besucht hatte, aber etwas war anders: Diesmal wußte er zweifelsfrei, daß es mehr war als ein Traum. Er war als Beobachter hier, als – vielleicht nicht einmal geladener – Gast, zwar ohne Körper, aber sich seiner selbst doch sehr bewußt. Der rote Widerschein der Fackeln, der über sein Gesicht strich, streifte nicht seine Züge, ebensowenig wie der Körper, dessen Last er spürte, sein eigener war. Er hatte Schmerzen in Händen und Füßen und entsetzlichen Durst. »Verstehst du mich?«
Da war wieder jenes bärtige, grauhaarige Gesicht, das er schon einmal gesehen hatte, diesmal aber allein. Die anderen Stimmen waren fort, und obwohl er die Schwärze jenseits des pulsierenden Halbkreises aus rotem Fackellicht nicht mit Blicken durchdringen konnte, spürte er, daß sie allein waren. Ein Blick in die grauen, trotz des Ausdruckes grimmiger Entschlossenheit im Grunde noch immer gütigen Augen seines Gegenübers sagte es ihm. Was sie zu besprechen hatten, das ging nur sie etwas an.
»Du verstehst mich«, sagte der andere.
Er antwortete nicht. Er wollte antworten, aber er hatte keine Möglichkeit, den Körper, dessen Gast er war, dazu zu bewegen. Jegliehe Initiative war ihm genommen. Vielleicht war er mehr Gefangener als Gast. Sein unfreiwilliger Wirt wiederum wollte nicht antworten. Er hätte es gekonnt, trotz der fürchterlichen Verletzungen, die man ihm zugefügt hatte, denn seine Kräfte gingen weit über die eines sterblichen Menschen hinaus.
Obwohl er sich immer mehr des Umstandes bewußt wurde, daß er nur ein Beobachter in einem streng abgegrenzten Bereich jenes fremden Bewußtseins war, begriff er doch auf der anderen Seite immer mehr vom wirklichen Wesen seines Gastgebers. Die Mauern, die ihn umgaben, waren in seine Richtung hin durchlässig. Nicht einmal sehr: Er wußte noch immer nichts über die Identität des anderen – falls er überhaupt so etwas wie eine persönliche Identität hatte – noch über seine wahre Natur, geschweige denn über den Grund seines Hierseins. Jeglicher Zugang zu seinen Gedanken und Erinnerungen war ihm verwehrt. Aber er spürte, daß es etwas Gewaltiges war, etwas so Mächtiges und Altes, etwas so Wissendes, daß er plötzlich sicher war, nicht wirklich ein Gefangener zu sein. Vielmehr waren die Mauern, die ihn umgaben, zu seinem Schutz errichtet worden, denn eine einzige Berührung jenes lodernden Geistes hätte ihn verglühen lassen wie eine Motte, die dem Feuer zu nahe gekommen war.
Und er spürte noch etwas: eine Enttäuschung, die unvorstellbar tief war. Wer oder was immer dieses Wesen war, es hatte den Kampf seines Lebens gekämpft; einen Kampf, der ebenso urgewaltig war wie seine Existenz selbst – und verloren.
»Ich weiß, daß du mich verstehst«, sagte der Bärtige nach einer Weile. Er lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln, das Brenner angst gemacht hätte, wäre er in der Lage gewesen, eigene Gefühle zu empfinden. »Du konntest dich nie vor mir verstellen, das weißt du doch. Vor allen anderen vielleicht, aber nicht vor mir. «