122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 49

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Sie gingen ein Stückweit schweigend die Straße hinunter, wobei Salid sich unentwegt nervös umsah; und noch nervöser mit der Waffe spielte, die er noch immer in der Rechten trug. Die Dunkelheit begleitete sie für eine Weile, aber sie war jetzt nicht mehr so vollkommen wie vorhin, als sie sie nur von außen gesehen hatten. Brenner vermied es am Anfang fast krampfhaft, zu den Häusern hinaufzublicken, an denen sie vorbeigingen. Er hatte Angst, leere Fensterhöhlen zu erblicken, Häuser ohne Türen, ohne Treppengeländer und Stufen, ohne Leben. Doch diese schlimmste aller Vorstellungen zumindest erwies sich als falsch. Schließlich sah er, fast gegen seinen Willen, doch zu der Fassade zur Linken hoch, und sie sah ganz normal aus: ein Haus ohne Licht zwar, aber unversehrt. Die Plage, die die Straße leergefegt hatte, hatte die Gebäude hier und, großer Gott, betete er, das Leben in ihnen – unberührt gelassen.

Plötzlich blieb Salid stehen und hob warnend die Hand. »Dort vorne! « flüsterte er.

Nicht weit vor ihnen begann sich die biblische Finsternis zu lichten; und nicht nur im übertragenen Sinne. Es kam Brenner tatsächlich so vor, als befänden sie sich im Inneren einer schwarzgrauen Nebelbank, die wenige Schritte vor ihnen aufhörte. Dahinter waren flackernde rote und blaue Lichter zu erkennen, und auch die Geräusche waren wieder in die Welt zurückgekehrt. Er hörte Stimmen, Schreie, Sirenen und Rufe, den Lärm von Menschen – sehr vielen Menschen – die aufgeregt durcheinanderliefen. Wie das Licht waren auch die Laute sonderbar gedämpft, als drängen sie durch eine Nebelwand zu ihnen. Oder kämpften darum, Wirklichkeit zu werden.

»Bleibt hier!« befahl Salid. Er huschte geduckt davon und wurde schon nach zwei Schritten zu einem Teil der Schwärze, der sich nur durch seine Bewegung von ihr unterschied. Aber diesmal gehorchte Brenner nicht. Der Gedanke, allein hier zurückzubleiben, war schlimmer als alles, was ihn dort vorne erwarten konnte. Salid warf einen Blick über die Schulter zurück und runzelte mißbilligend die Stirn, aber er unternahm nichts, um Brenner zurückzuhalten.

Sie erreichten das Ende des dunklen Bereiches, das auch nahezu mit dem der Straße identisch war. Salid wedelte warnend mit der Hand – diesmal gehorchte Brenner dem Befehl und blieb stehen, wenn auch nur einen knappen Schritt hinter ihm – preßte sich mit dem Rücken gegen die Backsteinwand des Gebäudes, das die Straßenkreuzung markierte, und ließ sich vorsichtig in die Hocke sinken.

Unendlich langsam schob er sich vor und spähte um die Ecke. Brenner folgte ihm, wobei er sich Mühe gab, Salids Bewegungen zu kopieren.

Was er sah, war eine andere Szene, die er aus zahllosen Filmen und Geschichten kannte und die doch vollkommen anders war: Vor ihnen, allerhöchstens noch fünfzehn oder zwanzig Meter von der Kreuzung entfernt, war eine Straßensperre errichtet worden. Drei Streifenwagen standen mit rotierenden Blaulichtern quer über der Fahrbahn und blockierten sie in ganzer Breite, dahinter waren die ebenfalls von rotierenden Lichtsignalen gekrönten Dächer mehrerer Feuerwehr– und Krankenwagen zu erkennen. Brenner zählte auf Anhieb mindestens ein Dutzend Polizeibeamte, dazu eine ungleich größere Anzahl von Zivilisten – wahrscheinlich Schaulustige – , die sich nur noch widerwillig davon abzubringen zu halten schienen, die Straßensperre einfach zu überrennen. Von weitem näherten sich weitere heulende Sirenen, und er glaubte auch das gefürchtete Hubschraubergeräusch wieder zu hören, war aber nicht ganz sicher.

Salid deutete auf einen Punkt auf der linken Straßenseite. Im ersten Augenblick dachte Brenner, er wollte ihn auf den Wagen aufmerksam machen, der offenbar in die Flanke eines der Streifenwagen hineingefahren war. Dann sah er, was Salid wirklich meinte: Ein Stück hinter den ineinandergekeilten Fahrzeugen standen fünf oder sechs Polizeibeamte, die mit gezogenen Waffen zwei Zivilisten umringten. Sie waren viel zu weit entfernt, um zu hören, was dort drüben gesprochen wurde, aber die Bedeutung der Gesten, die sie beobachteten, war klar. Der Wagen mußte versucht haben, die Straßensperre zu durchbrechen. Es war ein sehr großer, sehr amerikanischer Wagen. Etwas in Brenner löste sich; ein Druck, von dem er erst jetzt, als er nicht mehr da war, überhaupt spürte, daß es ihn gegeben hatte. Wenigstens hatten einige überlebt.

»Sie sind abgelenkt«, flüsterte Salid. »Vielleicht haben wir eine Chance.« Er überlegte zwei, drei Sekunden lang angestrengt und wies dann mit einer Kopfbewegung nach vorne. »Ziemlich viele Schaulustige, wie?«

»Wie meinen Sie das?« erwiderte Brenner. Die Frage gefiel ihm nicht. Etwas an der Art, wie Salid sie stellte, gefiel ihm nicht.

»Gaffer sind eine Pest«, antwortete Salid. Er klang beinahe fröhlich. »Jedenfalls für eine Seite.«

Brenner blickte fragend. Salid hob seine Waffe, überprüfte das Magazin und sah grinsend zu Brenner auf. »Für die andere …«

»Sie wollen doch nicht etwa – ?«

Salid machte eine beruhigende Handbewegung, aber das Grinsen verschwand trotzdem nicht vollkommen von seinem Gesicht. »Keine Angst. Ich habe nicht vor, jemanden zu verletzen. Ich schätze, ich werde auf eines dieser hübschen blauen Blinklichter dort drüben schießen. Vielleicht kann ich für eine kleine Panik sorgen.«

»Und dabei kann niemand zu Schaden kommen, wie?« Salid zuckte mit den Schultern. »Bei dem, worum es hier geht, könnten eine ganze Menge Menschen zu Schaden kommen, meinen Sie nicht?«

Brenner antwortete nicht mehr – was hätte er auch sagen sollen? Salid hatte recht. Davon abgesehen war er ziemlich sicher, daß nichts, was er tun oder sagen würde, den Palästinenser in irgendeiner Weise beeindrucken oder gar von etwas abbringen konnte, wozu er sich entschlossen hatte. Trotzdem spürte er, daß dieses Argument falsch war. Mathematik und Ethik waren nun einmal nicht kompatibel.

Salid ließ sich auf das linke Knie herabsinken, stützte den Ellbogen auf den Oberschenkel und legte die Waffe an. Brenner beobachtete ihn nervös. Salids Vorhaben gefiel ihm immer weniger. Fünfzehn Meter waren keine nennenswerte Entfernung für einen so guten Schützen, wie Salid es zweifelsohne war, aber dort drüben standen so viele Menschen, daß auch eine geringe Abweichung schon zu einer Katastrophe führen mußte. Brenner verstand nichts von Waffen, aber er bezweifelte, daß man mit einer Maschinenpistole so präzise schießen konnte, wie Salid es vorhatte.

Salid hob die Waffe um eine Winzigkeit, zielte lange, und Brenner legte ihm die Hand auf die Schulter. »Warten Sie! « Vor ihnen bewegte sich etwas. Die Schatten zwischen der Straßensperre und ihnen schienen lebendig geworden zu sein, ohne daß Brenner die Bewegung genau definieren konnte. Etwas wogte, wie schwarze Tinte, die sich wolkig in bewegtem Wasser auflöste. Er hörte wieder das Rascheln und Knistern, aber diesmal klang es eher wie Stimmen, die mit dem Wind herangetragen wurden. Die Schreie verlorener Seelen.

Salid ließ die Maschinenpistole sinken und deutete nach rechts. Der bizarre Effekt war auch dort sichtbar, und durch die größere Entfernung wirkte er fast noch unheimlicher. Es war, als wäre die Straße selbst zum Leben erwacht.

Etwas berührte Brenners Fuß; ein flüchtiges Zupfen, das er durch das Leder des Schuhs hindurch eigentlich gar nicht spüren konnte. Trotzdem fuhr er wie elektrisiert zusammen, als er die winzige spinnenbeinige Kreatur erblickte, die über seine Schuhspitze kroch. Hastig schüttelte er sie ab und setzte ganz instinktiv dazu an, sie zu zertreten, ganz wie Salid es vorhin getan hatte.

Dann erstarrte er mitten in der Bewegung.

Das Insekt war nicht allein gekommen. Es waren Millionen, und sie waren überall. Die Schwärze, die die Straße zum Leben erweckt hatte, kam nicht aus dem Nirgendwo, sondern aus der Dunkelheit, die ringsum herrschte. Sie waren überall: auf dem Boden, den Wänden, zwischen ihren Füßen, auf ihren Schuhen, krochen an ihren Hosenbeinen empor und tauchten lautlos aus der Dunkelheit hinter ihnen auf, eine kriechende, krabbelnde, klickende Flut winziger gepanzerter Ungeheuer, keines größer als der kleine Finger eines Kindes, aber endlos in ihrer Zahl.

Brenner schwindelte. Sein Herz begann immer heftiger zu klopfen, und er spürte, wie ihm am ganzen Leib kalter Schweiß ausbrach. Für einen Moment drohte ihn die gleiche Panik zu übermannen wie vorhin im Haus. Seine Knie zitterten so heftig, daß er die Hand ausstreckte und an der Mauer nach Halt suchte. Aber er zog den Arm hastig wieder zurück, als etwas Kleines, Hartes seine Finger berührte.

Auch die Mauer war voller krabbelnder Kreaturen. Aber es waren keine Spinnen, wie Salid gesagt hatte. Es waren auch keine Käfer oder Ameisen oder irgend etwas, das Brenner jemals gesehen hätte. Der Anblick war so bizarr, daß Brenner für einen Moment sogar sein Entsetzen vergaß und sich vorbeugte, um die winzigen Wesen genauer in Augenschein zu nehmen.

Am ehesten ähnelten sie vielleicht noch etwas zu klein geratenen Heuschrecken, nur daß ihre Glieder etwas kräftiger waren und wie die Körper mit winzigen schwarzbraunen Schuppen gepanzert. Aus den dreieckigen Schädeln, die über beunruhigend große und wissende Augen verfügten, wuchsen kräftige Beißzangen, und der hintereTeil des Körpers war nach oben gebogen und endeten in einem nadelspitzen Stachel, was den Geschöpfen eine gewisse Ähnlichkeit mit kleinen gepanzerten Skorpionen verlieh.

»Dort! « Salid deutete nach vorne. »Sehen Sie doch! « Brenner riß seinen Blick mühsam von der Wand los und sah in die Richtung, in die Salids ausgestreckte Hand wies. Die Woge lebendig gewordener Dunkelheit näherte sich der Straßensperre, und die Bewegung war mittlerweile so heftig geworden, daß sie auch von dort aus sichtbar war. Einige Polizeibeamte bewegten sich zögernd auf die kriechenden Schatten zu, blieben aber fast sofort wieder stehen.

Die Bewegung der Insektenarmee hielt hingegen nicht inne. Sie glitt lautlos auf sie zu und schien dabei noch schneller zu werden. Brenner sah, wie einer der Polizeibeamten zusammenfuhr und plötzlich einen irren Veitstanz aufzuführen begann; ein anderer schrie auf und torkelte rückwärts gehend davon. »Großer Gott, nein!« flüsterte Brenner. »Bitte, nicht!«

Das letzte Wort ging im Peitschen eines Schusses unter, den einer der Beamten auf die heranwogende Insektenarmee abfeuerte. Die Kugel schlug Funken aus dem Asphalt, ohne die Geschöpfe nur im geringsten aufhalten zu können. Die Schwärze überflutete die Füße der Männer, schickte sich für einen Moment an, an ihren Beinen emporzukriechen, und Brenners Herz schien für die gleiche, unendlich kurze Zeitspanne auszusetzen. Ein furchtbares Bild stieg aus seiner Erinnerung empor: ein Gesicht, das sich in Schatten auflöste und dann einfach nicht mehr da war; Hände, deren Finger zu Skelettklauen wurden, ihres Fleisches und allen Lebens beraubt, im Bruchteil einer Sekunde. Es geschah wieder. Und diesmal waren keine barmherzigen Schatten da, die die Wahrheit vor ihm verbargen. Es geschah wieder, hier und jetzt, vor seinen Augen.

Dann zog sich die Dunkelheit zurück. Sein allerschlimmster Alptraum wurde nicht wahr. Die Männer schrien vor Furcht und Ekel, und auf der anderen Seite der Straßensperre brach im Bruchteil eines Augenblickes Panik aus, aber die Geschöpfe waren diesmal nicht gekommen, um zu töten. Brenner sah, wie einer der Beamten ausglitt und mit wild rudernden Armen in die brodelnde Masse zu seinen Füßen hineinfiel, aber er verschwand nicht darin, wie die Männer im Haus, sondern taumelte wieder auf die Füße und rannte schreiend weiter.

»Los! « brüllte Salid. »Lauft! «

Er sprang in die Höhe und rannte los, dicht gefolgt von Brenner und Johannes, die einfach blindlings hinter ihm herstürmten.

Brenner keuchte vor Ekel und Widerwillen, als er spürte, wie unter seinen Schritten zahllose winzige harte Körper auseinanderbarsten. DieTiere machten keine Anstalten, vor ihnen zu fliehen – und wohin auch? Was auf den ersten Blick wie der Straßenasphalt ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit eine wabernde, kriechende Masse, in die sie bei jedem Schritt fast bis an die Knöchel einsanken und die sich in Wellen auf die Straßensperre und die fliehende Menschenmenge dahinter zubewegte – aber sie griffen Johannes, Salid und auch ihn nicht an. Trotzdem wäre es ihm fast lieber gewesen, sie hätten es getan. Der Gedanke, von diesen scheußlichen Geschöpfen attackiert zu werden, war entsetzlich, aber der, daß sie – warum auch immer – auf ihrer Seite standen, war noch hundertmal schlimmer. »Die Wagen!« schrie Salid. »Lauft zu den Wagen!«

Offenbar hatte er vor, einen der Streifenwagen zu stehlen, deren Besitzer sich der in kopfloser Panik davonstürmenden Menge angeschlossen hatte, aber die schwarze Woge erreichte sie lange vor ihnen, und was sich vorhin nur in Brenners Phantasie abgespielt hatte, das sah er jetzt wirklich. Es war viel undramatischer, als er erwartet hätte, und gerade deshalb noch viel schlimmer: Für nicht viel mehr als eine Sekunde war es, als ob die Fahrzeuge unter einer schwarzen, sacht vibrierenden Decke verborgen würden, eine zuckende Masse, die ihre Formen abgerundet und diffus nachbildete und dann weiterglitt. Was zurückblieb, das waren ausgehöhlte Wracks ohne Reifen, Polsterung und Armaturenbretter; ja, selbst ohne Lack. Die Metallkarossen schimmerten matt, als wären sie mit einem Sandstrahlgebläse behandelt worden. Bei zwei, drei Wagen lösten sich die Front-und Heckscheiben, als sie ihrer Gummidichtungen beraubt wurden, und zerbarsten auf der Straße.

»Verflucht!« Salid blieb stehen und sah sich wild um. Die wogende Insektenarmee floß um seine Füße wie glitzerndes hartes Wasser, aber er nahm sie jetzt gar nicht mehr zur Kenntnis; ein weiterer Beweis dafür, daß seine Rede vorhin nichts als eine Schutzbehauptung gewesen war. Er machte einen Schritt zur Seite, blieb wieder stehen und drehte sich einmal im Kreis. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, vor der Brenner erschrak. Schließlich rannte er weiter, flankte nahezu ansatzlos über einen der quergestellten Polizeiwagen hinweg und gestikulierte Brenner und Johannes ungeduldig zu, dasselbe zu tun.

Brenner folgte ihm, wesentlich weniger elegant, trotzdem aber fast ebenso schnell, während Johannes nicht einmal den Versuch machte, das Hindernis zu überwinden. Er stand einfach da und starrte ihn an. Seine Augen waren leer.

»Verdammt noch mal, worauf warten Sie?« fauchte Salid. »Sie – «

Brenner brachte ihn mit einer Geste zum Verstummen. Ein neues, auf eine schwer zu definierende Weise vielleicht noch schlimmeres Gefühl von Furcht breitete sich in ihm aus, als er in Johannes' Gesicht blickte. Eigentlich war es das erste Mal, daß er Johannes bewußt ansah, seit sie das Haus verlassen hatten. Johannes' Augen waren nicht wirklich leer. Es war noch etwas darin, aber Brenner bezweifelte plötzlich, ob es Leben war. Und er begriff im gleichen Moment, daß er nicht der einzige war, der Salid nicht wirklich aus freien Stücken folgte.

Wie hatte er nur so blind sein können? Hatte er wirklich geglaubt, nur er wäre mit dem Schlimmsten konfrontiert worden, was er sich vorstellen konnte? Vermutlich war er, verglichen mit dem jungen Geistlichen, noch gut dran. Sein Leben war in den letzten Stunden unwiderruflich zu einem Scherbenhaufen geworden, den keine Macht der Welt wieder kitten konnte, aber das war nichts gegen das, was Johannes durchmachen mußte. Er hatte nicht das Schlimmste erlebt, was er sich vorzustellen imstande war: Er hatte das Schlimmste getan, wozu er imstande war.

Er hatte einen Menschen getötet.

Es spielte keine Rolle, ob es in Selbstverteidigung geschehen war, absichtlich oder fast ohne sein Zutun. Er hatte ein menschliches Leben ausgelöscht, für einen Mann wie ihn ein Verbrechen von so absurder Größe, daß Brenner das Entsetzen, das er spüren mußte, wahrscheinlich nicht einmal in Ansätzen nachempfinden konnte.

»Worauf warten Sie?« fragte Salid noch einmal. Er klang immer noch ungeduldig, aber auch ein wenig unsicher. Vielleicht wußte er nicht, was in Johannes vorging, aber er hätte schon blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß etwas mit ihm geschah.

Brenner wiederholte seine abwehrende Geste, wandte sich ganz zu Johannes um und streckte ihm die Hand entgegen. Mehr als eine Sekunde verging, bis Johannes überhaupt auf die Bewegung reagierte. Er blinzelte, sah auf Brenners ausgestreckte Rechte hinab und deutete ein Kopfschütteln an; nicht in der Art einer Verneinung, sondern eher so, als wisse er nicht, was er mit der dargebotenen Hand überhaupt anfangen sollte.

»Kommen Sie«, sagte Brenner leise. »Ich helfe Ihnen.«

Johannes reagierte auch jetzt nicht sofort, und Brenner wäre nicht überrascht gewesen, hätte er einfach den Kopf geschüttelt und wäre davongelaufen; oder hätte gar nichts getan. Aber dann hob er zögernd die Hand und ergriff die Brenners. Unbeholfen, aber gehorsam – willenlos – kletterte er über die Kühlerhaube des Wagens hinweg, so daß sie ihren Weg fortsetzen konnten.

Obwohl der Zwischenfall nur wenige Sekunden gedauert hatte, hatte sich das Bild auf der Straße vollkommen gewandelt, als Brenner sich wieder zu Salid herumdrehte. Vor ihnen standen zwei weitere Fahrzeugwracks auf blanken Felgen – ein Feuerwehrwagen und zwei Ambulanzen – und weitere in einer Entfernung von vielleicht dreißig oder vierzig Metern, aber es war kein Mensch mehr zu sehen. Die Straße lag leer und glänzend vor ihnen, aber mit Ausnahme von Salid, Johannes und ihm selbst war alles Leben winzig und vielbeinig und in glänzende Panzer aus schwarzem Horn eingeschlossen.

Salid wollte etwas sagen, aber er kam auch jetzt nicht dazu. Es war noch nicht vorbei. Die Dunkelheit, aus der sie geflüchtet waren, folgte ihnen ein zweites Mal: Rings um sie herum erloschen die Lichter.

Das Licht war ausgefallen, und die Dunkelheit, die sich im gleichen Moment hinter den Fenstern des Hausflures ausgebreitet hatte, sagte Kenneally, daß es sich nicht nur um eine ausgebrannte Glühbirne handelte. Trotzdem war er überrascht, als er nach einer Sekunde des Zögerns ans Fenster trat und hinausblickte.

Er sah praktisch nichts. Die Straße unter ihm hatte sich in eine schwarze Schlucht ohne Boden verwandelt, und wo die Stadt dahinter sein sollte, breitete sich nur eine gewaltige lichtlose Ebene aus. Und das war einigermaßen beunruhigend. Er befand sich in der dritten Etage, und auf dem Weg hierher hatte er sich seine Umgebung sehr genau eingeprägt: Die gegenüber liegende Straßenseite wurde nur von einer knapp zwei Meter hohen Betonmauer begrenzt, hinter der sich das Krankenhausgelände erstreckte, ein weitläufiger Park mit nur einem einzigen, nicht einmal sonderlich hohen Gebäude, so daß er eigentlich die gesamte Stadt hätte überblicken können müssen. Für die Dunkelheit, die er statt dessen sah, gab es nur eine einzige Erklärung: Der Stromausfall beschränkte sich nicht nur auf dieses Gebäude oder die Straße.

Ein leises Schleifen hinter Kenneally riß ihn aus seinen Gedanken. Blitzartig fuhr er herum und griff in die Tasche, fühlte aber nur das glatte Plastik des Funktelefons. Erst danach fiel ihm wieder ein, daß ihm die Beamten seine Waffe abgenommen hatten. Eine seiner Waffen.

Das Geräusch hatte sich nicht wiederholt, aber Kenneally war zu gut ausgebildet, um sich darauf zu verlassen, daß es nur Einbildung gewesen war oder ein Zufall. Während er konzentriert in die Schwärze hinter sich starrte, ließ er sich langsam in die Hocke sinken, griff nach unten und zog den Revolver, den er in einem Knöchelhalfter am linken Bein trug. Das Klicken, mit dem er den Hahn spannte, klang in der Stille des Hausflures schon fast selbst wie ein Pistolenschuß, aber es war auch ein ungemein beruhigender Laut – auch wenn er insgeheim das Gefühl hatte, daß ihm die Waffe nichts nutzen würde. Trotzdem war ihr Gewicht beruhigend, und sei es nur, weil es etwas Vertrautes war und etwas, was er Zeit seines Lebens mit Sicherheit und Macht assoziiert hatte.