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»Es hat begonnen«, flüsterte Johannes. »Harmageddon. Das letzte Gefecht.«
Salid fuhr auf dem Absatz herum und funkelte Brenner an. »Verdammt, bringen Sie ihn endlich zum Schweigen, oder ich tue es! « drohte er. Direkt an Johannes gewandt und fast brüllend, fügte er hinzu: »Das ist ein verdammter Stromausfall und sonst nichts! «
Johannes sah ihn nur an und schwieg, und auch Brenner zog es vor, nichts zu sagen. Salid wußte so gut wie sie, daß dies alles sein konnte, nur eines nicht: ein normaler Stromausfall. Aber er weigerte sich trotzdem noch immer, Johannes' Erklärung zu akzeptieren. Tatsache war, daß er nicht wissen wollte, was hier vorging.
»Aber ihr könnt doch nicht so blind sein«, sagte Johannes schließlich. »Ihr müßt doch – «
»Bitte.« Brenner legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Es ist besser, wenn Sie jetzt still sind.«
Johannes sah ihn verwirrt an, aber er schwieg gehorsam, und Salid knurrte: »Wir sollten diesen Spinner hierlassen. Verdammt, ich kann nicht mehr klar denken. Wir müssen … wir brauchen ein Fahrzeug. Irgendeinen Wagen! Los! «
Diesmal reagierte Brenner nicht schnell genug auf die Aufforderung. Vielleicht hatte er einfach auch angefangen, zu vergessen, wer Salid wirklich war. Er war so verblüfft, daß er den körperlichen Schmerz nicht einmal richtig registrierte, als Salid ihm ungeduldig den Lauf der MPi in die Seite stieß, um ihn zum Weitergehen zu bewegen – obwohl er so heftig war, daß er ihm die Tränen in die Augen trieb. Er stolperte weiter, wobei er Johannes ganz instinktiv hinter sich her zog, und fand nach einem halben Dutzend ungeschickter Schritte wieder in seinen normalen Rhythmus.
Die Straßensperre und die ausgehöhlten Autowracks blieben rasch hinter ihnen zurück, aber der Bereich kahlgefressener Erde begleitete sie noch eine Weile – zumindest nahm Brenner das an. Sehen konnte er den Erdboden kaum, denn die Insekten waren noch immer da. Der Großteil der kriechenden Finsternis war so spurlos wieder im Nichts verschwunden, wie er daraus aufgetaucht war, aber es mußten noch immer Millionen sein, die zurückgeblieben waren; eine jetzt nicht mehr knöchelhohe, aber noch immer fast geschlossene schimmernde Decke aus Horn und lebendem Fleisch, die die Straße bedeckte. Brenner hielt seinen Blick fast krampfhaft nicht auf die Straße gerichtet, aber er sah es trotzdem: Die Tiere wichen vor ihren Schritten beiseite, aber die Lücke schloß sich hinter ihnen sofort wieder.
Weiter vorne, ein Stück jenseits der Kreuzung jedoch, wurde der Straßenbelag etwas heller. Vielleicht hatte das kriechende Chaos es dabei bewenden lassen, nur diese Straße leerzufegen, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Er sah dort vorne auch wieder Fahrzeuge am Straßenrand stehen, die, zumindest aus der Entfernung betrachtet, unbeschädigt erschienen.
»Und es tat sich der Brunnen des Abgrundes auf«, flüsterte Johannes, »und es ging auf ein Rauch aus dem Brunnen, und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde. «
»Wir wissen, daß Sie bibelfest sind, Pater«, sagte Salid gepreßt.
Johannes ignorierte seine Worte. Mit leiser, bebender und zugleich auch wieder sehr fester Stimme fuhr er fort: »Und sie hatten Panzer wie eiserne Panzer und Schwänze gleich den Skorpionen, und es waren Stacheln an ihren Schwänzen. «
Salid blieb stehen. Etwas arbeitete hinter seiner Stirn, und Brenner konnte sehen, wie sich jeder Muskel in seinem Körper verhärtete. »Hören Sie auf«, sagte er, nicht laut, sondern gefährlich leise.
» Und Ihnen war die Macht gegeben, zu beschädigen die Menschen, die nicht das Zeichen des Herrn auf ihrer Stirn trugen«, fuhr Johannes fort. Er war sehr bleich, aber er hielt Salids Blick stand. Die Angst, die auf seinem Gesicht zu lesen war, war nicht die Angst vor dem Palästinenser. »Verstehen Sie denn immer noch nicht? Begreifen Sie denn nicht, was hier geschieht? Was – «
Salid schlug ihn nieder. Es ging so schnell, daß Brenner den Schlag nicht einmal sah, und der Jesuit vermutlich auch nicht. Eine blitzartige Bewegung, und Johannes krümmte sich, schlug die Arme um den Leib und fiel keuchend zuerst auf die Knie, dann gänzlich zu Boden.
»Sind Sie verrückt?« keuchte Brenner. Hastig kniete er neben Johannes nieder und streckte die Hände nach ihm aus, aber dieser schüttelte nur den Kopf. Er hatte große Mühe zu atmen, stemmte sich aber trotzdem aus eigener Kraft wieder in die Höhe.
»Es ist schon gut«, sagte er gepreßt. » Es war meine Schuld.« »Nichts ist gut!« antwortete Brenner zornig. Er funkelte Salid an. Eine innere Stimme riet ihm, vorsichtig zu sein. DerTerrorist war am Ende seiner Kraft angelangt, er würde ihn ebenso schlagen wie Johannes und vielleicht sogar schlimmer; aber das war ihm gleich.
»Sind Sie verrückt geworden?« fragte er. »Was ist in Sie gefahren?«
Salid begann am ganzen Leib zu zittern. Er ballte die Hände zu Fäusten und trat einen halben Schritt auf Brenner zu, und Brenner war jetzt davon überzeugt, daß er ihn niederschlagen würde. Aber dann entspannte er sich plötzlich.
»Entschuldigung«, murmelte er. »Ich … habe die Beherrschung verloren.«
Zum zweitenmal. Brenner sprach es nicht aus, aber die Worte schienen trotzdem fast hörbar in der Luft zu hängen. Das erste Mal hatte Salid ein paar Heuschrecken zertreten. Diesmal hatte er Johannes niedergeschlagen. Was würde das nächste Mal passieren? Würde er einen von ihnen töten?
»Bitte verzeihen Sie«, sagte Salid noch einmal. »Ich … muß mich zusammenreißen. Es wird Zeit, daß wir es zu Ende bringen. «
»Zu Ende?« Brenner hatte plötzlich Mühe, nicht hysterisch loszulachen. Zu Ende? Johannes hatte recht: Salid war blind. »Was denn zu Ende bringen?« murmelte er. »Sehen Sie sich doch um!« Er deutete heftig gestikulierend auf Johannes. »Er hat recht! Sehen Sie denn nicht, mit welchen Kräften wir es hier zu tun haben? Glauben Sie wirklich, Sie können das … dieses Ding mit Ihrer lächerlichen Waffe aufhalten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Salid leise. »Aber ich habe es gesehen. Es lebt. Und was lebt, kann getötet werden.«
»Ja, und das macht Ihnen besonderen Spaß, nicht wahr?« fragte Brenner bitter.
Salid sah ihn auf eine Weise an, die Brenner seine Worte fast auf der Stelle bedauern ließ. Er war diesem Mann nichts schuldig, rein gar nichts, und trotzdem fühlte er sich miserabel dabei, ihn verletzt zu haben. Aber er kam nicht dazu, irgend etwas zu sagen.
Hinter Salid erschien ein gigantisches schwarzes Monstrum. Es fiel wie ein Stein vom Himmel und fing seinen Sturz erst im allerletzten Moment ab, so schnell, daß es buchstäblich aus dem Nichts aufzutauchen schien. Ein ungeheures Kreischen und Heulen schlug über Brenner und den anderen zusammen, und noch bevor sie der Lärm erreichte, traf sie eine Sturmböe mit der Wucht eines Faustschlages und schleuderte sie alle drei zu Boden.
Der Sturz rettete ihnen das Leben. Flammen stachen durch die Dunkelheit in ihre Richtung. Irgend etwas explodierte nur Zentimeter neben Brenners Gesicht auf dem Asphalt und überschüttete ihn mit einem Hagel winziger scharfkantiger Splitter und einem kurzen, heftigen Hauch glühendheißer Luft. Instinktiv rollte er sich zur Seite und schlug die Arme über dem Gesicht zusammen, während das Ungeheuer über ihn hinwegfauchte und eine Schleppe aus Sturm, Lärm und Flammen hinter sich herzog. Salid schrie irgend etwas, aber das Krachen der Explosionen hielt noch immer an und zerriß seine Worte.
Brenner rollte herum, nahm vorsichtig die Arme herunter und hob den Kopf. Ein brennender Schmerz über seinem linken Auge nahm ihm die Illusion, vollkommen unversehrt davongekommen zu sein, aber er war nicht so schlimm, daß er sein Denken beeinträchtigt hätte. Mühsam stemmte er sich auf Hände und Knie hoch, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß Johannes, der neben ihm niedergestürzt war, ebenfalls noch lebte und suchte dann nach Salid.
Der Palästinenser hatte sich mit einem gewaltigen Hechtsprung in die entgegengesetzte Richtung in Sicherheit gebracht, war aber bereits wieder auf den Knien und hatte seine Waffe in Anschlag gebracht, um auf das Ungeheuer zu feuern.
Es war nichts anderes als ein Helikopter. Obwohl seit ihrem Auftauchen kaum eine Sekunde vergangen sein konnte, hatte die Maschine bereits das Ende der Straße erreicht und zog steil in die Höhe, um nicht gegen die Häuserfront zu prallen. Ihre Bordwaffen hatten aufgehört zu feuern, aber über der Straße hing eine doppelte Spur rasch auseinanderwehender Staubfahnen, die die Einschläge der Geschosse markierte. Es war Brenner vollkommen rätselhaft, wieso sie den Hubschrauber weder gesehen noch gehört hatten, bis er wie ein biblischer Racheengel über sie hereingebrochen war.
»Lauft! « brüllte Salid. »Rennt weg! Vielleicht wollen sie nur mich! «
Das war ungefähr ebenso lächerlich wie seine Versuche, den Helikopter mit seiner MPi zu erwischen. Er gab Dauerfeuer, aber der Hubschrauber war längst über den Dächern verschwunden und zog dort eine nahezu grotesk enge Schleife, um zu einem neuen Angriff anzusetzen. Und selbst wenn er getroffen hätte, hätte er ihm wahrscheinlich kaum Schaden zufügen können. Brenner erkannte den Hubschrauber wieder: Es war die gleiche Maschine, die sie vorhin im Haus angegriffen hatte, und ihre Besatzung war offenbar noch genauso entschlossen, keine Gefangenen zu machen.
»Lauft endlich!« schrie Salid. »In verschiedene Richtungen! So kann er nur einen erwischen! «
Das war sicher ein vernünftiger Vorschlag. Trotzdem erhoben sich Johannes und Brenner wie auf ein gemeinsames Kommando hin gleichzeitig und rannten auch nebeneinander los. Salid fluchte, duckte sich tiefer und jagte einen weiteren, abgehackten Feuerstoß aus seiner MPi, als der Helikopter imTiefflug heranraste.
Brenner begann im Zickzack zu laufen, sah aber im Rennen über die Schulter zu Salid und dem heranrasenden Ungeheuer aus Stahl und Glas zurück. Salid feuerte mit unvorstellbarer Kaltblütigkeit – und erstaunlicher Präzision. Aus dem Rumpf des Hubschraubers schlugen Funken, und mindestens eines der Geschosse traf die Kanzel und durchschlug sie, schien aber keinen weiteren Schaden anzurichten, denn unmittelbar darauf erwiderte der Helikopter das Feuer. Unter seinem Rumpf züngelten kleine, orangegelbe Flammen hervor, und dann verschwand die Maschine und die Straße unter ihr hinter einer doppelten Spur zehnmeterhoher Feuer-und Staubgeysire, die mit unglaublicher Schnelligkeit auf Salid zujagte.
Und ihn verfehlte.
Salid kniete immer noch da, als der Helikopter über ihn hinwegraste und seine Geschoßspur weiter die Straße entlangtrieb. Er wirkte benommen, fassungslos, aber er war nicht nur am Leben, sondern augenscheinlich sogar unverletzt, obwohl einige der Explosionen in seiner unmittelbaren Nähe erfolgt waren.
Der Helikopter verringerte rasend schnell sein Tempo und begann sich, noch während er die Straße entlangraste, in der Luft zu drehen. Seine Maschinengewehre feuerten nicht mehr, aber Brenner zweifelte nicht daran, daß dies aus dem einzigen Grund geschah, um Munition zu sparen. Sobald die Männer hinter der gesprungenen Glaskanzel wieder ein lohnendes Ziel sahen, würden sie das Feuer zweifellos wieder eröffnen.
Die Maschine fegte so dicht über ihnen hinweg, daß Brenner und Johannes um ein Haar vom Luftzug der Rotoren von den Füßen gerissen worden wären. Mühsam stolpernd und mit rudernden Armen fand Brenner sein Gleichgewicht wieder und wich ganz instinktiv nach links aus, in die dem Helikopter abgewandte Richtung. Johannes folgte ihm, aber obwohl er jetzt um sein Leben lief, bewegte er sich noch immer mit mechanischen, steifen Schritten, die mehr Ähnlichkeit mit den Bewegungen eines Roboters hatten als mit denen eines lebenden Menschen. Brenner war sicher, daß er, hätte man es ihm befohlen, einfach stehengeblieben wäre und auf den Tod gewartet hätte.
»Schneller!« schrie Brenner ihm zu und griff gleichzeitig selbst noch mehr aus, als er sah, daß die Maschine ihre Drehung fast vollendet hatte.
Die Männer im Inneren des Hubschraubers taten genau das, was er erwartet hatte. Die Maschine schwankte durch das gewagte Manöver wie ein kleines Boot in hohem Wellengang, weshalb die erste MG-Salve Johannes und ihn hoffnungslos verfehlte und Meter über ihnen Steinbrocken und Putz aus der Fassade spritzen ließ. Aber der Pilot erlangte die Gewalt über seine Maschine rasch zurück. Der Hubschrauber stand für eine Sekunde nahezu still in der Luft, dann kippte sein Bug nach vorne, und die Maschine begann auf Johannes und ihn zuzurasen. Die Gatlin-Gun, deren Lauf wie der stumpfe Saugrüssel eines riesigen metallenen Insekts unter dem kantigen Bug hervorragte, begann mit einem hohen, an den Nerven reißenden Singen Geschosse in schneller Folge auszuspeien. Erneut explodierten Flammen und Steintrümmer aus der Straßendecke, aber diesmal bewegte sich die rasende Eruptionsspur direkt auf Johannes und ihn zu.
Nur drei oder vier Schritte von ihnen entfernt befand sich eine kurze Treppe, die zu einer Haustür hinaufführte. Wenn sie den Flur erreichten, hatten sie vielleicht noch eine winzige Chance. Brenner versetzte Johannes einen Stoß, der ihn schneller vorwärtstaumeln ließ, warf einen Blick über die Schulter zurück und schrie vor Entsetzen auf, als er sah, daß die MG-Salve weiter direkt auf ihn und den jungen Geistlichen zujagte. Sie war schnell. Unvorstellbar schnell. Mit einer verzweifelten Anstrengung warf er sich vor, überwand die beiden letzten Stufen mit einem einzigen Satz, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen gegen Johannes und riß ihn so mit sich zu Boden.
Im nächsten Sekundenbruchteil explodierte die Welt rings um sie herum. Die Geschosse stanzten faustgroße und – tiefe Löcher in die Wände beiderseits derTür, fetzten Holzstücke aus dem Rahmen und schlugen Funken aus den Treppenstufen zu Brenners Füßen. Die gesamte Tür wurde wie von einem gewaltigen Hammerschlag getroffen und zerbarst in einemTrümmerregen nach innen, und die Luft war voller Qualm, Staub und beißendem Pulvergestank. Etwas fuhr so heiß wie der glühende Fingernagel des Teufels über Brenners Rücken. Der Schmerz ließ ihn aufschreien. Er krümmte sich wie ein getretener Wurm. Glühendheiße Steinsplitter und qualmendes Holz regneten auf ihn herab, als die Geschoßsalve weiterwanderte und nun die linke Hälfte der Tür samt der danebenliegenden Wand zerschmetterte. Er war so gut wie blind. Alles, was er sah, waren schwarzer Rauch und Qualm, hinter dem es immer wieder grell aufblitzte.
Dann war es vorbei. Das Heulen der Maschinenkanone verstummte abrupt, und nach dem Höllenlärm waren Brenners Ohren fast taub, so daß er weder das Prasseln der Flammen noch das Geräusch hörte, mit dem sich immer noch Trümmerstücke und Staub aus der Wand lösten und zu Boden rieselten.
Brenner richtete sich unsicher auf. Er war fest davon überzeugt, daß seine Arme unter dem Gewicht seines Körpers einknicken würden, denn er mußte verletzt sein. Man sagte ja, daß der Schock einer schweren Verletzung im ersten Moment oft so groß war, daß man den Schmerz nicht einmal spürte. Ebensowenig hätte es ihn gewundert, hätte er sich immer weiter und weiter hochgestemmt und plötzlich seinen eigenen zerfetzten Körper neben dem von Johannes unter sich liegen sehen.
Nichts dergleichen geschah. Statt dessen spürte er nur wieder ein heftiges Brennen zwischen den Schulterblättern, wo ihn die Kugel gestreift hatte, und eine Unzahl winziger Schnittund Schürfwunden an den Händen und im Gesicht.
Brenner sah fassungslos an sich herab. Es war vollkommen unmöglich. Nicht nach der Hölle, die rings um sie herum losgebrochen war. Und trotzdem: Nicht eine einzige Kugel hatte ihn oder Johannes getroffen.
Ganz langsam drehte er sich herum. Staub und Rauch verzogen sich nur langsam, aber er konnte trotzdem erkennen, daß der Hubschrauber immer noch reglos über der Straße hing. Die Maschinenkanone hatte aufgehört zu feuern, und trotz der Entfernung von gut fünfzehn oder zwanzig Metern konnte er den fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht des Piloten erkennen, als dieser sah, wie Johannes und er sich offensichtlich unversehrt inmitten des Chaos erhoben.