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Der andere zuckte mit den Schultern, und die Bewegung übertrug sich über seine Hände, die mit viel zuviel Kraft das Lenkrad hielten, bis auf die Räder. Der Wagen machte einen sanften Schlenker nach links und einen etwas weniger sanften nach rechts, ehe Heidmann ihn wieder vollends in der Gewalt hatte. »Auf jeden Fall ein schlechter Autofahrer«, sagte er lächelnd.
Brenner blieb ernst. »Warum helfen Sie uns?« fragte er.
Er bekam nicht sofort eine Antwort. Heidmann starrte eine geraume Weile einfach vor sich ins Leere. Aber Brenner hatte das sichere Gefühl, daß er es nicht nur tat, um in dem Schneegestöber, das inzwischen eingesetzt hatte, die Straße erkennen zu können. Schließlich sagte er: »Ich denke, weil ich mich für das Leben entschieden habe.«
Das war eine sehr sonderbare Antwort – direkt unheimlich, fand Brenner. Vor allem, wenn sie aus dem Mund eines Mannes kam, der nach allem, was er von Medizin zu verstehen glaubte, eigentlich tot sein müßte. Er betrachtete Heidmanns Gesicht im grünen Widerschein des Armaturenbrettes genauer; nicht heimlich und aus den Augenwinkeln, sondern ganz offen, so daß dieser es bemerken mußte. Wenn es ihn störte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.
Heidmanns Gesicht war eindeutig das eines lebenden Menschen, nicht eines Zombies. Die klaffende Wunde auf seiner Wange war schlimm, aber nicht lebensgefährlich; wahrscheinlich nicht einmal wirklich gefährlich. Aber sein Mantel war vorne auseinandergefallen, jetzt, wo er saß, und Brenner konnte erkennen, daß der dunkle Fleck auf seinem Hemd ein noch dunkleres Zentrum hatte: einen kreisrunden, gut zehnpfenniggroßen Krater, der mit geronnenem Blut gefüllt war. Das passende – größere – Gegenstück befand sich auf Heidmanns Rücken. Sein Mantel war schwarz von Blut, aber auch verkohlt. Der Mann hatte einfach kein Recht mehr, zu leben. Er tat es trotzdem.
»Sie sollten nicht erschrecken«, sagte Heidmann plötzlich. Er starrte weiter nach vorne, aber seine Worte machten klar, daß er Brenners Blick bemerkt hatte. Plötzlich war es Brenner doch peinlich, ihn angestarrt zu haben.
»Aber Sie müßten tot sein! «
»Vielleicht bin ich das«, sagte Heidmann lächelnd. »Vielleicht müssen wir unsere Begriffe vonTod und Leben auch neu definieren.« Er zuckte abermals mit den Schultern, diesmal aber weit vorsichtiger, so daß der Wagen nicht wieder aus der Spur geriet, sondern stur weiter geradeaus seinem Weg
in den Sturm hinein folgte. »Es spielt keine Rolle. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.«
Damit hatte er seine Frage eindeutig nicht beantwortet; allerdings auch ebenso eindeutig auf eine Art, die klarmachte, daß er es nicht wollte. Brenner sah ihn noch einen Moment lang nachdenklich an, dann drehte er sich ein wenig im Sitz herum und starrte in die gleiche Richtung wie Heidmann: durch die beschlagene Frontscheibe nach draußen.
Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Der Schneefall hatte zugenommen, und zudem schien der Wind noch an Kraft gewonnen zu haben, so daß ihnen die wirbelnden weißen Flocken nun fast waagerecht entgegenkamen. Die Sicht betrug deutlich weniger als dreißig Meter, obwohl die Scheinwerfer des Wagens voll aufgeblendet waren. Sie hatten die Stadt längst hinter sich gebracht und fuhren über eine menschenleere Landstraße. Beiderseits der asphaltierten Strecke hatten sich kniehohe Schneeverwehungen gebildet. Seit der Schneefall eingesetzt hatte, schienen sie das erste Fahrzeug zu sein, das die Straße befuhr. Die Schneedecke vor ihnen war nahezu unversehrt, und manchmal hatte er das Gefühl, daß die Straße einfach im Nichts verschwand. Er fragte sich, wie Heidmann es unter diesen Umständen fertigbrachte, den Wagen überhaupt noch in der Spur zu halten. Selbst er hätte vermutlich Schwierigkeiten gehabt, den Wagen nicht schon in den ersten Minuten in den Straßengraben zu lenken.
»Es müßte längst hell sein«, murmelte Salid hinter ihnen. Brenner wandte den Kopf und bemerkte erst jetzt, daß der Palästinenser aufgestanden und zu ihnen nach vorne gekommen war. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Rückenlehnen von Brenners und Heidmanns Sitzen auf und spähte aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe hinaus; nach oben, dorthin, wo der Himmel sein sollte, und wo nur eine brodelnde graue Masse war, die Schnee darstellen konnte, aber auch alles andere.
»Wie spät ist es?« fragte Brenner.
Salid zuckte mit den Schultern und antwortete, ohne sich die Mühe zu machen, auf die Uhr zu sehen. »Keine Ahnung. Meine Uhr ist stehengeblieben.«
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Heidmann. »Sie sollten nach hinten gehen.«
»Warum?«
Der Ex-Polizeibeamte machte eine Kopfbewegung nach vorne, in das wirbelnde weiße Chaos hinein. »Es ist nicht mehr weit bis zum Sperrgebiet. Dort vorne ist eine Straßensperre. Es ist besser, wenn man sie nicht sieht.«
»Eine Straßensperre?« Salid spannte sich fast unmerklich, aber Heidmann machte rasch eine beruhigende Geste. Brenner wurde ein ganz kleines bißchen nervös, als Heidmann die linke Hand vom Lenkrad nahm und damit in den Mantel griff. Aber das Schicksal schien immer noch auf ihrer Seite zu sein: Der Wagen blieb treu in der Spur, und sie landeten nicht im Straßengraben.
»Keine Sorge. Niemand wird dumme Fragen stellen.« Er zog einen in transparenten Kunststoff eingeschweißten Ausweis hervor und reichte ihn Salid. Brenner sah, wie Salid überrascht und wohl auch ein bißchen ungläubig die Stirn runzelte, als er erkannte, worum es sich handelte: um Heidmanns Dienstausweis, der ihn als Polizeibeamten identifizierte. Aber zu seiner Überraschung sagte Salid nichts, sondern reichte Heidmann den Paß nach ein paar Sekunden zurück. Ebenso wortlos wandte er sich nach einigen weiteren Sekunden um und ging in den hinterenTeil des Wagens zurück, um sich wieder neben Johannes zu setzen. Brenner hörte, wie er leise mit dem Jesuitenpater zu sprechen begann, konnte aber nicht verstehen, was er sagte.
»Sie wissen, daß er Sie töten wird, wenn das hier eine Falle ist«, sagte er leise.
Heidmann lächelte nur, und fast im gleichen Moment wurde auch Brenner selbst klar, wie lächerlich diese Worte klingen mußten. Heidmann gehörte nicht mehr zu den Menschen, die derTod erschrecken konnte.
»Entschuldigung«, sagte er.
»Schon gut. Man kann alte Gewohnheiten schlecht von einem Tag auf den anderen ablegen, nicht?« Er machte eine Kopfbewegung nach hinten. »Besser, Sie gehen jetzt auch nach hinten. Es kann nicht mehr weit sein.«
Brenner stand zögernd auf. Er hätte sich gerne noch weiter mit Heidmann unterhalten, war aber zugleich auch erleichtert, aus seiner Nähe zu entkommen. Es war ein unheimliches Gefühl, mit einem Toten zu sprechen. Aber vielleicht, überlegte er, sollte er sich besser daran gewöhnen. Was hatte Heidmann doch gleich gesagt: Vielleicht müssen wir unsere Begriffe von Tod und Leben neu definieren?
Der Helikopter landete fast auf die Minute pünktlich. Wenigstens vermutete Kenneally, daß es so war – seine Armbanduhr war stehengeblieben, und ob er seiner inneren Uhr noch vertrauen konnte, wußte er nicht. Sie behauptete jedenfalls, daß seit seinemTelefonat anderthalb Stunden vergangen waren, als der Hubschrauber auf dem Krankenhausdach zur Landung ansetzte.
Kenneally waren sie vorgekommen wie anderthalb Jahrhunderte. Er hatte nur noch schemenhafte Erinnerungen daran, wie er aus dem Haus auf der anderen Straßenseite heraus-und hierhergekommen war. Der gleiche Überlebensmechanismus, der ihn schon einmal vor den schlimmsten Bildern bewahrt hatte, hatte erneut eingesetzt: Ebenso wie an die Szene vor dem belagerten Haus erinnerte er sich auch an seinTreffen mit dem Smith-Ding nur noch wie an einen Traum, in dreidimensionalen, grausam klaren und farbigen Bildern zwar, aber zusammenhanglos und mit einem Gefühl der Irrealität, das dem Grauen seine schlimmste Spitze nahm. Irgend etwas in ihm verhinderte, daß er sich erinnerte; darüber war er sich diesmal sogar im klaren, aber er kämpfte nicht dagegen an. Es war eine Halluzination gewesen, nicht weniger, aber, verdammt noch mal, auch nicht mehr. Was sie zu bedeuten hatte, stand auf einem anderen Blatt und spielte im Moment keine Rolle.
Kenneally hatte auf der windabgewandten Seite des Treppenhauses Schutz gesucht, wodurch er den Hubschrauber erst bemerkt hatte, als dieser sich aus dem Nachthimmel herabsenkte. Er sah ihn nur aus den Augenwinkeln, aber einTeil seines Bewußtseins registrierte alles sehr genau. Er hatte von Helikoptern wie diesen gehört, aber noch niemals selbst einen gesehen: Maschinen, die nicht nur auf Radar-und sonstigen Ortungsschirmen so gut wie unsichtbar waren, sondern auch beinahe lautlos flogen. Soweit Kenneally wußte, gab es nur eine Handvoll davon, die für streng geheime Operationen der CIA oder des Militärs reserviert waren. Der Umstand, daß sein geheimnisvoller Besucher eine dieser Maschinen flog, sagte eine Menge mehr über ihn als alles, was Kenneally in den letzten Jahren herausgefunden hatte.
Die Seitentür des Helikopters wurde aufgeschoben, als Kenneally den halben Weg hinter sich gebracht hatte. Kenneally hielt darauf zu und zog den Kopf zwischen die Schultern. Trotzdem schien sich der Schnee, der in sein Gesicht peitschte, plötzlich in einen Hagel aus Glasnadeln zu verwandeln, der ihm schier die Tränen in die Augen trieb, und auf den letzten Metern war er nicht einmal mehr sicher, es zu schaffen. Die Rotoren mochten lautlos sein, aber sie entfesselten einen wahren Sturmwind, der ihn von den Füßen zu reißen drohte; dazu kam, daß der Miniatur-Taifun den frisch gefallenen Schnee davonfegte und das Dach darunter spiegelglatt gefroren war. Er stolperte mehrmals und fiel nur wie durch ein Wunder nicht hin.
Eine Hand streckte sich ihm entgegen, als er den Helikopter erreichte. Kenneally griff dankbar danach, hielt sich mit der anderen Hand am Türrahmen fest und zog sich mit einer letzten Kraftanstrengung ins Innere der Maschine – um prompt endgültig die Balance zu verlieren und schmerzhaft auf ein Knie herabzufallen, denn der Pilot ließ den Hubschrauber wieder aufsteigen, noch bevor er ganz in der Kabine war.
Kenneally kroch mit einer ebenso ungeschickten wie hastigen Bewegung ein Stück weiter, während der Mann, der ihm geholfen hatte, rasch die Tür schloß. Durch das große Fenster darin konnte Kenneally erkennen, wie schnell sie an Höhe gewannen. Die Lautlosigkeit, mit der dies geschah, war beinahe gespenstisch. Hier drinnen war der Motorenlärm fast überhaupt nicht mehr zu hören.
Er wollte sich aufrichten, sank aber mit einem überraschten Laut wieder zurück und hielt sich das linke Knie, auf das er gefallen war. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Kenneally wartete einige Sekunden, dann stemmte er sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Sitzbank hoch. Sein linkes Bein pochte erbärmlich, und für eine Sekunde war der Schmerz so schlimm, daß ihm übel wurde. Zugleich kam es ihm fast grotesk vor – er hatte doch nicht wirklich all dies überstanden, um sich dann beim Einsteigen in einen Hubschrauber das Bein zu brechen, oder?
»Alles in Ordnung?«
Kenneally nickte und umklammerte mit beiden Händen sein Knie, ehe er den Kopf hob und sein Gegenüber ansah. Er erlebte eine Überraschung. Er hatte die Stimme erkannt, obwohl sie sich anders anhörte als amTelefon, aber das Gesicht, in das er blickte, paßte nicht zu ihr. Die Stimme, die sein Leben in den letzten fünfzehn Jahren weit mehr beeinflußt hatte, als ihm bis heute überhaupt klargewesen war, war die eines alten – oder zumindest älteren – Mannes, volltönend und von einer Autorität erfüllt, die Assoziationen von weißem Haar und starken Händen weckte, aber was er sah, war das genaue Gegenteil. Sein Gegenüber war keinenTag älter als fünfunddreißig – allerhöchstens – und dunkelhaarig, dazu sehr schlank und von einer fahrigen Nervosität, die Kenneally selbst jetzt spüren konnte, obwohl der Mann regungslos auf der Bank saß und ihn beobachtete. Er sah ein wenig übernächtigt aus, und obgleich er die Hände fest auf die Oberschenkel gelegt hatte und sie nicht bewegte, schienen sie unmerklich zu zittern.
»Sie sind Kenneally.«
Kenneally nickte erneut. Er sagte auch jetzt noch nichts vielleicht, weil er einfach noch Zeit brauchte, um das, was er sah, zu verarbeiten. Er hatte geglaubt, einer Autorität zu dienen, einer grauen Eminenz im Hintergrund, aber das war …
Großer Gott, als er das erste Mal mit ihm gesprochen hatte, da konnte der Bursche noch kaum mehr als ein Kind gewesen sein! »Ich glaube, Sie sind mir ein paar Erklärungen schuldig«, sagte er gepreßt. Seine Stimme zitterte, weil sein Knie mittlerweile tatsächlich so erbärmlich schmerzte, daß er sich langsam zu fragen begann, ob er sich vielleicht wirklich etwas gebrochen hatte. Das machte ihn wütend; sein Gegenüber mußte annehmen, daß es Unsicherheit war – womit er der Wahrheit vielleicht näher kam, als Kenneally lieb war.
Zu seiner Überraschung antwortete der junge Mann jedoch sehr ernst: »Das stimmt. Sie werden alles erfahren. Aber zuerst beantworten Sie mir eine Frage: Wie konnte er entkommen?« »Woher wissen Sie, daß er entkommen ist?«
»Sie wären nicht hier, wenn Sie Ihren Auftrag erfüllt hätten«, antwortete der andere. In seiner Stimme war nicht einmal eine Spur von Tadel oder auch nur Bedauern. Alles, was Kenneally zu hören glaubte, war etwas wie Resignation. Eine Winzigkeit leiser-und eigentlich mehr zu sich selbst gewandt als an Kenneally – fügte er hinzu: »Außerdem hatten Sie von Anfang an wahrscheinlich keine Chance.«
»Wenn Sie das wußten – «
»Bitte!« Der Mann, dessen Namen er immer noch nicht wußte, hob besänftigend beide Hände, und Kenneally sah, daß sie tatsächlich zitterten. Es waren sehr schlanke Hände; wie das Gesicht das Gegenteil dessen, was er erwartet hatte: die Hände eines sehr sanften Mannes.
»Ich werde Ihnen alles erklären – soweit unsere Zeit reicht. Ich fürchte nur, daß uns weniger bleibt, als nötig wäre, alle Ihre Fragen zu beantworten. «
Kenneally wurde nun wirklich zornig, woran nicht zuletzt auch der immer noch anhaltende Schmerz in seinem Bein Schuld war. »Die Zeit werden Sie sich nehmen müssen«, sagte er scharf. »Sie wollen, daß ich einen Mann für Sie töte?« Er lachte. »Nehmen Sie es mir nicht übel … aber ich finde, daß Sie mir wenigstens sagen sollten, warum! «
»Sie haben gewiß recht«, antwortete der andere. »Das Problem ist nur, daß uns einfach nicht genug Zeit bleibt.« Er sah auf die Uhr, runzelte die Stirn und schob den Ärmel mit einem angedeuteten Achselzucken wieder zurück. »Kaum mehr als fünf Minuten, wenn nicht weniger.«
»Bis wann?« fragte Kenneally.
»Bis wir das Kloster erreichen«, antwortete der andere. »Unser Ziel.«
»Das Kloster?«
»Es hat dort begonnen. Es … muß wo hl auch dort enden.« Einen Moment lang schien sein Blick ins Leere zu gehen. Er blickte Kenneally weiter an, aber dieser war sicher, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes sah. Und er war nicht sehr erpicht darauf, zu erfahren, was.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Kenneally – selbst für seinen Geschmack eine Spur zu schnell, um überzeugend zu klingen. Er fuhr auf. »Was, zur Hölle, hat das alles mit Smith zu tun? Wer sind Sie überhaupt? Ich … verdammt, ich weiß ja nicht einmal Ihren Namen! «
Der andere lächelte, und sonderbarerweise sah er dadurch plötzlich viel älter aus statt jünger, wie es bei einem normalen Lächeln sein sollte. »Mein Name? Der tut nichts zur Sache … nicht mehr. Aber Sie können mich Adrianus nennen, wenn Sie wollen. «