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»Der Name eines meiner Lehrer«, erwiderte der andere. »Nicht meiner. Aber er paßt, und er ist so gut wie jeder andere. Unsere Bekanntschaft wird nicht von langer Dauer sein … so oder so. Sie haben gesehen, wie Smith starb?«
»Nein«, erwiderte Kenneally heftig. Er schrie das Wort fast. »Ich will nicht wissen, was Sie gesehen haben«, antwortete Adrianus. »Aber was immer es war, es ist die Antwort auf alle Ihre Fragen, Kenneally. Wir haben es hier nicht mit einemTerroristen zu tun oder irgendeinem der Verbrecher, die Sie normalerweise jagen. Möglicherweise wird das Schicksal dieser Welt in Ihren Händen liegen, wenn wir unser Ziel erreichen. Haben Sie eine Waffe?«
Kenneally griff ganz automatisch in die Jackentasche und zog seine Pistole hervor, beendetet die Geste jedoch nicht, sondern ließ die Waffe mit einer fast trotzigen Bewegung wieder zurückgleiten. Adrianus hatte sie allerdings trotzdem gesehen. Er runzelte flüchtig die Stirn, stand auf und öffnete eine Metalltür, die in der Wand über Kenneallys Kopf eingelassen war. Kenneally erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen Waffenschrank, in dem sich mindestens ein halbes Dutzend Gewehre sowie eine große Anzahl Faustfeuerwaffen befand. Adrianus nahm mit einer sehr zielgerichteten Bewegung ein wuchtiges M13 sowie eine kurzläufige Maschinenpistole mit zwei rechtwinklig zueinander angeordneten Magazinen heraus und legte beides neben Kenneally auf den Sitz.
»Das wird genügen«, sagte er.
»Wofür?« Kenneally musterte die beiden Waffen mißtrauisch und streckte die Hand nach der MPi aus, griff aber dann statt dessen nach dem M13– Mit einer routinierten Bewegung zog er das Magazin heraus und betrachtete die Munition. Mit spitzen Fingern nahm er eine der Patronen heraus und runzelte die Stirn. Das großkalibrige Geschoß schimmerte in einem stumpfen Graphitgrau und war an der Spitze kreuzförmig eingekerbt. Kenneally hatte diese Art von Munition noch nie selbst benutzt, aber natürlich kannte er sie. Und er fürchtete sie. Kugeln wie diese durchschlugen das Ziel nicht, sie zerfetzten es. Ganz gleich, worum es sich handelte. Mit dieser Waffe konnte man niemanden kampfunfähig machen, sondern nur töten. Angewidert schob er die Patrone wieder ins Magazin.
»Was soll das?« fragte er. Er hatte Mühe, seinen Zorn im Zaum zu halten. »Wofür halten Sie mich? So etwas benutzten vielleicht Männer wie Salid, aber ich nicht! «
Adrianus setzte sich wieder. Er warf einen Blick auf seine nutzlose Armbanduhr, ehe er Kenneally wieder ansah, und er tat es auf eine Art, als wolle er ihn eigentlich fragen, wo denn dieser große Unterschied zwischen Männern wie Salid und Männern wie Kenneally sei. Allerdings war er klug genug, diese Worte nicht laut auszusprechen.
»Jetzt ist nicht der Moment, um über Ethik zu sprechen oder gar Fairneß«, sagte er. »Sie müssen Salid und die anderen unschädlich machen, und es spielt keine Rolle, wie.«
»Warum?« fragte Kenneally. Als er keine Antwort bekam, fügte er hinzu: »Wer sind Sie, Adrianus. Was sind Sie?«
Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen, und es vergingen auch einige Sekunden, ehe Adrianus reagierte. Als er schließlich sprach, redete er sehr leise und in einemTon, den Kenneally nicht deuten konnte, der ihm aber ein eisiges Frösteln über den Rücken laufen ließ.
»Wir sind eine Art … Wächter«, sagte er zögernd. »Ich und … einige andere.«
»Andere? Welche anderen?« Kenneally beugte sich im Sitz vor. »Hat Smith zu euch gehört?«
»Smith?« Adrianus schüttelte den Kopf. Allein die Vermutung schien ihn zu amüsieren. »Nein. Smith wußte wenig mehr als Sie, Kenneally. Wir … sind nicht viele. Nur eine Handvoll. Aber es gibt viele, die für uns arbeiten, und noch mehr, die für die arbeiten, die uns dienen. Unsere Aufgabe ist von unvorstellbarer Wichtigkeit.« Er schwieg eine Sekunde und fügte dann, leiser und wieder mit diesem auf so unheimliche Weise ins Leere gerichteten Blick hinzu: »Sie wollen wirklich die Wahrheit wissen, Kenneally?«
Kenneally beugte sich noch weiter vor und mußte hastig seine Haltung korrigieren, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Ja«, sagte er.
»Sie wird Ihnen nicht gefallen.«
»Was mir noch viel weniger gefällt, sind Plattheiten«, erwiderte Kenneally zornig. Er deutete heftig gestikulierend auf die beiden Waffen auf dem Sitz neben sich. »Sie wollen, daß ich einen Menschen für Sie umbringe? Ich glaube nicht, daß mir das gefällt. Schon gar nicht, ohne zu wissen, warum.« Das war die falsche Taktik. Adrianus hatte seine Deckung für den Bruchteil einer Sekunde sinken lassen, und Kenneally hatte den Mann gesehen, der sich dahinter verbarg: einen schwachen, zutiefst verängstigten Mann, der im Grunde nichts
anderes suchte als Hilfe. Aber er war kein Mann, der sich unter Druck setzen ließ. Kenneally hätte sich ohrfeigen können. Er schien alles vergessen zu haben, was er je gelernt hatte.
»Erzählen Sie mir nicht, daß das etwas Neues für Sie wäre«, sagte er kühl. »Wie viele Menschen haben Sie in Ihrem Leben getötet, Kenneally? Zehn? Hundert?«
»Keinen einzigen«, antwortete Kenneally zornig. »Vielleicht nicht mit eigenen Händen«, erwiderte Adrianus. »Aber über wie viele Leben haben Sie entschieden?« »Das … das ist etwas anderes«, verteidigte sich Kenneally. Natürlich war es das nicht, und Adrianus machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Es war kein Unterschied, ob man einen Menschen mit eigenen Händen tötete oder den Befehl gab, ein Leben auszulöschen. Vielleicht war es sogar schlimmer, und vielleicht rührte Kenneallys Zorn zum Großteil aus derTatsache her, daß er nun zum erstenmal selbst spürte, wie es war, einen solchen Befehl zu bekommen, statt ihn zu geben. »Ich habe es nie ohne Grund getan«, erklärte er. »Ich wußte, warum.«
»Und Sie haben an diesen Grund geglaubt?« fragte Adrianus. »Seien Sie ehrlich, Kenneally-und sei es zum erstenmal in Ihrem Leben. Sie haben niemals an dem gezweifelt, was Sie taten?«
Hatte er gerade geglaubt, Adrianus in die Enge getrieben zu haben? Lächerlich.
Adrianus seufzte tief, und plötzlich schien alle Kraft aus seinem Körper zu weichen. Er sank regelrecht vor Kenneallys Augen in sich zusammen. Als er weitersprach, flüsterte er nur noch. »Wir waren immer von dem überzeugt, was wir taten«, sagte er. »Wir wußten, daß es richtig war. Verstehen Sie mich richtig, Kenneally – es hatte nichts mit Mutmaßungen zu tun oder einer vagen Möglichkeit. Wir wußten stets, daß es irgendwann passieren würde, nur nicht genau, wann und wo. Aber wir dachten, wir wären vorbereitet.«
Er legte eine kurze Pause ein, und diesmal war Kenneally klug genug, ihn nicht zu unterbrechen. Adrianus wollte reden.
Was er zu sagen hatte, war so wichtig, daß er es mit jemandem teilen mußte, sollte der Druck nicht zu unerträglich werden. Nach einer Weile fuhr er fort.
»O ja, wir dachten, wir wären vorbereitet. Seit so langer Zeit … Aber wir haben versagt. Vielleicht hatten wir nie wirklich eine Chance. Glauben Sie, daß es Dinge gibt, die zum Scheitern verurteilt sind, schon allein dadurch, daß man sie beginnt, Kenneally?«
Kenneally nickte stumm. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß er gar nicht mehr wissen wollte, was Adrianus ihm zu erzählen hatte.
»Sie wollen wissen, worum es geht«, fuhr Adrianus fort. Er hatte sich wieder gefangen; nicht vollständig, aber doch weit genug, um sich wieder im Sitz aufzurichten und Kenneallys Blick ruhig standzuhalten. »Ja, ich glaube, Sie haben ein Recht dazu, es zu erfahren. Sie müssen diese Männer töten, Kenneally. Alle drei, wenn es möglich ist. Ehe eines ihrer Siegel gebrochen wird. «
Kenneally wurde hellhörig. Das war eine sehr sonderbare Wortwahl, fand er – aber sie kam gewiß nicht von ungefähr. »Warum?« fragte er. »Was haben sie Ihnen getan?«
Adrianus lächelte traurig. »Was immer«, sagte er, »diese drei in ihrem Leben auch getan haben mögen, es hat nichts mit dem zu tun, weshalb wir hier sind, Kenneally. Sehen Sie, das ist vielleicht der Preis, den ich zu zahlen habe. Ich gebe Ihnen den Befehl, drei unschuldige Leben auszulöschen, und ich allein werde die Verantwortung dafür tragen müssen. Nicht Sie. Ich erteile Ihnen die Absolution, Kenneally, soweit ich das kann. Es ist meine Verantwortung. Was immer uns erwartet, wenn … es vorbei ist: Ich werde vor meinem Richter stehen, nicht Sie.« Kenneally war nicht einmal sicher, ob er Adrianus' Worte richtig verstand, aber wenn er es tat und all dieses Gerede von Absolution, von Verantwortung und dem Letzten Gericht in religiösem Sinne gemeint war, dann war es nicht so einfach. Ganz und gar nicht. Außerdem: Kenneally glaubte nicht einmal an Gott. Er war das Kind überzeugter Atheisten, und er hatte
sich diese Überzeugung zu eigen gemacht, seit er selbständig denken konnte.
»Und wenn ich mich weigere?« fragte er. »Sie haben es selbst gesagt: Die drei sind unschuldig – obwohl das dummes Zeug ist, wenigstens, was Salid angeht. Der Mistkerl hat mehr Menschen auf dem Gewissen, als ich in meinem Leben Hot Dogs gegessen habe.« Er machte eine abwehrende Bewegung, als Adrianus widersprechen wollte. »Also, was, wenn ich mich weigere? Sie haben vielleicht recht, und ich habe Menschenleben ausgelöscht, aber ich habe es nie grundlos getan.«
»Es gibt einen Grund«, antwortete Adrianus ernst. »Aber er heißt nicht Salid. Es ist das Kloster, Kenneally. Der, der darin eingekerkert war. Und der nun frei ist.«
»Wer?« fragte Kenneally. »Von wem sprechen Sie, Adrianus?«
Adrianus sah ihn länger als eine Minute schweigend und durchdringend an. Dann sagte er es ihm.
Die Straßensperre, von der Heidmann gesprochen hatte, war tatsächlich da, aber sie hielt sie nicht auf, und auch Brenners Überlegungen, wie der Polizeibeamte sein sonderbares Äußeres erklären wollte, erwiesen sich als überflüssig. Die beiden quergestellten Geländewagen, die die Straße blockierten, waren ebenso verlassen wie der improvisierte Lagerplatz, den sie ein Stückweit dahinter fanden: ein leeres Benzinfaß, in dessen näherem Umkreis der Schnee geschmolzen war und das noch verbrannt roch. Salid, der ausgestiegen war, um sich umzusehen, kam mit einem Gewehr und drei Reservemagazinen zurück, und als sie weiterfuhren, sah Brenner weitere weggeworfene Gegenstände im Schnee am Straßenrand liegen. Offenbar war die Sperre in aller Hast verlassen worden – um nicht zu sagen, die Männer, die hier Dienst getan hatten, waren geflohen. Brenner fragte sich nicht, wovor. Er wollte es lieber nicht wissen.
In brütendes Schweigen versunken, fuhren sie weiter. Salid beschäftigte sich intensiv damit, die gefundene Waffe auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, wobei er jedes einzelneTeil pedantisch sauberwischte und mehrmals auf seine Funktion überprüfte. Johannes starrte weiter ins Leere. Vorhin, kurz bevor sie auf Heidmann gestoßen waren, hatte es für einen Moment so ausgesehen, als erwache er noch einmal aus dem unheimlichen Zustand, in den er versunken war, aber Brenner glaubte mittlerweile nicht mehr daran, daß Johannes' Geist noch einmal den Weg zurück aus seiner ganz privaten Hölle finden würde. Er war verdammt. Er hatte das Schlimmste getan, das ein Mann wie er tun konnte, und er zahlte den Preis dafür. Nicht irgendwann, nicht nach irgendeinem jüngsten Gericht, sondern hier und jetzt.
Vielleicht war er von ihnen dreien am besten dran.
Nach einer geraumen Weile hielt er die Untätigkeit einfach nicht mehr aus. Er stand auf und ging wieder nach vorne, setzte sich diesmal aber nicht auf den freien Platz neben Heidmann, sondern stützte sich mit beiden Händen auf der Rückenlehne seines Sitzes auf und beugte sich vor, um durch die beschlagene Windschutzscheibe einen Blick in den Himmel hinauf zu werfen. Brenner wußte nicht, wie lange sie jetzt unterwegs waren, und er wußte auch nicht mehr, inwieweit er seiner inneren Uhr noch trauen konnte; aber es mußten Stunden vergangen sein, seit sie das Krankenhaus verlassen hatten. Es hätte längst hell sein müssen.
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Heidmann. »Dort vorne halte ich an.«
Brenners Blick folgte der Richtung seiner Kopfbewegung, und Brenner erlebte eine Überraschung. Im ersten Moment hatte er nicht einmal verstanden, was Heidmann überhaupt meinte, aber plötzlich erkannte er die Straße wieder – die langgezogene, leicht abfallende Kurve, den verschneiten Waldrand zu beiden Seiten, und die dreieckige, kaum sichtbare Lücke im Unterholz, nur noch hundert Meter entfernt auf der linken Seite. Vor zwei oder drei Minuten mußten sie die Stelle passiert haben, an der das Mädchen und er mit dem Mitsubishi liegengeblieben waren. Dort vorne begann der Weg, der zum Kloster führte.
»Ich kann Sie nicht weiter begleiten«, sagte Heidmann. »Ich weiß«, antwortete Brenner. Der Weg war für einen Wagen nicht passierbar, aber das war es nicht, was Heidmann gemeint hatte. Seine Aufgabe war erfüllt. Er hätte sie auch nicht weiter begleitet, wenn dort vorne eine vierspurige Autobahn durch den Wald geführt hätte. »Aber Sie haben mir immer noch nicht geantwortet. «
Heidmann sah ihn fragend an.
»Ohne Sie hätten wir es nicht geschafft«, sagte Brenner. »Warum haben Sie das getan?«
»Weil ich es Ihnen schuldig war«, antwortete Heidmann. Mehr nicht. In seiner Stimme war kein Pathos. Er lächelte weder, noch machte er irgendeine erklärende Geste oder sonst etwas, aber das war auch nicht nötig. Brenner verstand auch so, was er meinte. Vielleicht war diese Antwort sogar die einzige, die er überhaupt akzeptiert hätte.
Er ging zu Salid und Johannes zurück, sagte aber nichts, sondern wartete, bis der Palästinenser von sich aus zu ihm hochsah. »Wir sind da?«
Brenner nickte. »Den Rest des Weges müssen wir laufen.« Er deutete auf Johannes. »Was ist mit ihm? Schafft er es?«
Salid zuckte mit den Schultern, aber als er aufstand, erhob sich auch Johannes und trat neben ihn. Es war ein durch und durch unheimlicher Anblick: Johannes' Augen blieben so leer, wie sie seit einer Stunde waren, und seine Bewegungen wirkten irgendwie … falsch. Kaum mehr wie die eines lebenden Menschen, sondern vielmehr wie die eines Roboters, perfekt imitiert und trotzdem nicht vollends überzeugend.
Es wäre besser, wenn sie ihn hierlassen würden, überlegte Brenner. Besser für Johannes, und wahrscheinlich auch besser für sie – vor allem besser für sie. Ohne daß er eine entsprechende Frage stellen mußte, spürte er, daß hinter SalidsStirn die gleichen Überlegungen abliefen. Aber weder er noch Salid sprach diesen Gedanken aus. Sie waren zu dritt aufgebrochen, und sie würden zu dritt ankommen, so oder gar nicht. Wo immer ihr Ziel lag.
Der Wagen hielt an. Salid stieß die Hecktür auf und sprang ins Freie, noch bevor sie ganz zum Stehen gekommen waren, und für einen Moment fiel er wieder in seine alten Verhaltensmuster zurück: Er stand mit gespreizten Beinen da, ein wenig nach vorne gebeugt und die Waffe im Anschlag. Aber an seinen Bewegungen war plötzlich überhaupt nichts Bedrohliches mehr. Er kam Brenner vielmehr wie ein Kind vor, das Krieg spielte.