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Der Mann mußte gebrannt haben. Sein Anzug war zu einem Gespinst aus grauer Asche und halb verkohlten Fäden geworden, die sich überall in sein Fleisch hineingefressen zu haben schienen. Gesicht, Schädel und Hände waren eine einzige, fürchterliche Brandwunde, hier und da von großen Flecken aus geronnenem Blut bedeckt, wie schorfiger Ausschlag. Brenner war nicht sicher, ob der Verbrannte überhaupt noch sehen konnte; seine Augen waren zugeschwollen, vielleicht gar nicht mehr da, und die Lippen durch die Einwirkung unvorstellbarer Hitze zu einem immerwährenden Grinsen zurückgezogen. Er torkelte, weil mindestens eines seiner Beine gebrochen war, und seine Schritte hinterließen blutige Fußabdrücke auf dem Boden. Die Erscheinung hatte kein Recht mehr, am Leben zu sein, geschweige denn, sich zu bewegen. Aber sie war da, schlurfte taumelnd wie die böse Karikatur eines Menschen auf sie zu und schleifte zu allem Überfluß auch noch die ausgeglühten Reste eines Gewehres hinter sich her. Wenn er mit dieser Waffe geschossen hatte, dann war es ein Wunder, daß sie ihm nicht in den Händen explodiert war.
Das Entsetzen, auf das Brenner wartete, kam noch immer nicht. Er begriff nur, daß seine Angst von vorhin berechtigt gewesen war. Der Dämon war da, nur daß er nicht hinter der Tür gelauert hatte, sondern auf der anderen Seite, verborgen in der Schwärze der letzten, immerwährenden Nacht, die sich über der Welt ausgebreitet hatte. Er hatte Salid geholt, und er würde nun sie holen, zuerst Johannes, dann ihn. Er hätte davonlaufen können; das … Ding, das da auf so groteske Weise herangehumpelt und – geschlurft kam, war nicht schnell. Er mußte nicht einmal rennen, um ihm zu entkommen.
Aber wozu? Wohin?
Es gab nichts mehr, wohin sie flüchten konnten.
Und Brenner war des Davonlaufens endgültig müde. Er war sein ganzes Leben lang davongelaufen, vor irgend etwas oder irgend jemandem – meistens vor sich selbst – , aber nun wollte er nicht mehr.
Doch die Alptraumgestalt war nicht gekommen, um ihn zu vernichten. Sie schleppte sich weiter mit kleinen, mühevollen Schritten heran. Ihre linke Schulter streifte an der Wand entlang und hinterließ eine dunkelrote Spur auf dem Ruß, und als sie näherkam, spürte Brenner den Geruch von verbranntem Fleisch und heißem Metall, der sie umgab. Er machte keinen Versuch, vor ihr zurückzuweichen, aber der verbrannte Mann unternahm seinerseits nichts, um Johannes oder ihm etwas zuleide zu tun. Torkelnd näherte er sich Salids Leiche, blieb dicht hinter ihr stehen und hob sein Gewehr. Die Mündung zielte kurz auf Salids Kopf, aber die Finger hatten wohl nicht mehr die Kraft, den Abzug zu betätigen. Nach wenig mehr als einer Sekunde ließ er die Waffe wieder sinken. Seine Hände öffneten sich. Das Gewehr fiel klappernd zu Boden. Er taumelte, stieß einen seltsamen, gurgelnden Laut aus, ein Geräusch, als versuche er mit Stimmorganen zu reden, die nicht mehr da waren, und streckte die Hand nach Brenner aus. In der Bewegung lag nichts Drohendes. Es sah mehr aus wie ein verzweifeltes Flehen nach Hilfe.
Brenner wich nun doch vor der fürchterlichen Gestalt zurück; nicht aus Angst, sondern simplem Ekel, den der Anblick der verstümmelten Hand und der Geruch in ihm wachriefen. Der verbrannte Mann ließ den Arm wieder sinken, wandte sich mit einem fast flehenden Blick an Johannes und drehte sich schließlich zur Tür herum. Das flackernde rote Licht aus der Tiefe verschmolz mit der Farbe dessen, was einmal sein Gesicht gewesen war, und nun sah er endgültig aus wie der Dämon, für den Brenner ihn im ersten Augenblick gehalten hatte. Er taumelte, machte einen unbeholfenen Schritt auf die Tür zu und blieb so dicht vor der obersten Stufe stehen, daß er in die Tiefe stürzen würde, wenn er das Gleichgewicht verlor.
Salid bewegte sich. Brenner registrierte die Bewegung nur aus den Augenwinkeln, und im allerersten Moment nahm er sie nicht einmal richtig zur Kenntnis; etwas, das einfach nicht sein konnte, denn Salid war tot. So tot, wie es nur ging. Die Kugel hatte seinen Hals zerfetzt, und er la g in einer unglaublich großen Blutlache. Trotzdem bewegte er sich. Tod und Leben waren nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren.
Langsam, mit sehr mühevollen, nichtsdestoweniger aber auch sehr zielgerichteten Bewegungen stemmte er sich hoch und griff nach seinem Gewehr. Das Geschoß schien nicht nur seine Muskeln und Sehnen, sondern auch den Knochen zertrümmert zu haben, denn sein Kopf pendelte haltlos von einer Seite auf die andere, aber seine Hände hielten das Gewehr sicher und sehr fest. Das helle Klicken, mit dem er die Patrone in den Lauf schob, hallte wie ein Kanonenschuß von den Wänden des Torgewölbes wider.
Dann geschah alles gleichzeitig.
Der verbrannte Mann drehte sich herum und starrte Salid an. Seine Augen weiteten sich, und trotz der Verheerung, der seine Züge anheim gefallen waren, konnte Brenner den Ausdruck grenzenlosen Erschreckens erkennen, der sich plötzlich darauf breit machte. »Also doch«, flüsterte er.
Gleichzeitig jedoch schrie Johannes so gellend auf, als wäre er es, den die tödliche Kugel getroffen hätte. »Nein!« schrie er. »Nein! Nicht schon wieder! Ich lasse es nicht zu! NICHT MEHR!«
Er sprang vor, ohne Rücksicht darauf, daß er damit genau zwischen Salid und den verbrannten Mann geriet, und damit direkt in die Schußlinie. Mit einer verzweifelten Bewegung klammerte er sich an Salid und versuchte ihm die Waffe zu entreißen, aber er kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Vielleicht war er es sogar selbst, der durch seinen Aufprall den Abzug betätigte.
Der Schuß klang sonderbar gedämpft. Johannes schrie auf, diesmal vor Schmerz statt Entsetzen, ließ Salid aber trotzdem nicht los, sondern klammerte sich nur noch fester an ihn.
Salid feuerte ein zweites Mal. Der Schuß schleuderte Johannes zurück, aber er ließ Salids Schultern immer noch nicht los, sondern zerrte ihn mit sich. Aneinandergeklammert prallten sie gegen den verbrannten Mann und stürzten, scheinbar zu einem einzigen, unentwirrbaren Knäuel aus Gliedern und Körpern geworden, die Treppe hinunter.
Brenner hetzte hinterher, so schnell er konnte. Er hatte keine Chance, einem der drei irgendwie zu helfen: Die Treppe führte so steil in die Tiefe, daß es schon unter normalen Umständen gefährlich gewesen wäre, sie hinabzugehen. Einen stür zenden Mann – und erst recht drei! – aufzuhalten, war praktisch unmöglich, ohne selbst mitgerissen zu werden. Er hielt nicht einmal mit ihnen Schritt. Salid, Johannes und der Mann schlugen mit einem fürchterlichen Laut am Fuße der Treppe auf, noch bevor Brenner die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte. Trotzdem rannte er weiter, so schnell er nur konnte, und sprang die letzten Stufen mit einem einzigen Satz hinab, zu dem er normalerweise niemals den Mut aufgebracht hätte. Er fiel auf die Knie, wimmerte, als ein neuer, grausamer Schmerz durch seine beiden Kniescheiben schoß, und kroch hastig und auf allen vieren weiter.
Er kam zu spät. Salid lag mit weit offenstehenden, gebrochenen Augen in einer neuen und schon wieder mit erschreckender Schnelligkeit anwachsenden Blutlache. Der verbrannte Mann war ein Stück zur Seite gerollt und reglos liegengeblieben, und auch er konnte nicht mehr leben. Die Treppe hatte fünfunddreißig Stufen. Fünfunddreißig Chancen, sich das Genick zu brechen oder auf andere Weise zu Schaden zu kommen. Er selbst hatte den Weg dieseTreppe hinunter überlebt, aber da hatte ihn die gleiche, unheimliche Macht beschützt, die zu bekämpfen sie nun gekommen waren. Brenner schenkte der verkohlten Gestalt nur einen flüchtigen Blick, kroch dann zu Johannes hin und drehte ihn auf den Rücken.
Johannes war tot. In seiner Brust und seinem Bauch klafften zwei furchtbare Wunden, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht stand in krassem Gegensatz zu dem Anblick. Zum erstenmal, seit Brenner den jungen Jesuiten kennengelernt hatte, glaubte er einen Ausdruck von Frieden auf seinen Zügen zu entdecken, eine Erleichterung, die trotz der Grimasse entsetzlicher Qual deutlich zu erkennen war. Das unheimliche Feuer in seinen Augen war erloschen, aber sie waren auch nicht so leer, wie es die einesToten sein sollten. Brenner las etwas darin, was in seiner beruhigenden Wirkung angesichts der Situation, in der er sich befand, geradezu absurd erschien: eine Botschaft, die nur für ihn allein bestimmt war, und an deren Wahrhaftigkeit es keinen Zweifel gab. Johannes hatte seinen Frieden gefunden. Wo immer sein Geist jetzt war,es war nicht mehr das Fegefeuer, durch das er gegangen war. Trotzdem
»Warum?« flüsterte Brenner. Er sprach das Wort nicht einmal wirklich aus, sondern formulierte es nur in Gedanken, ein verbitterter, stummer Schrei, der voller Verzweiflung nach einer Erklärung für all dieses sinnlose Sterben verlangte.
Und er bekam eine Antwort.
»Weil es notwendig war. Für sie und für die ganze Menschheit.«
Die Stimme kam vom oberen Ende der Treppe, und er wußte, was er sehen würde, noch bevor er den Kopf hob und hinaufsah. Es war wie eine getreuliche Wiederholung der Szene vor dreiTagen, dem allerletzten Bild, das er gesehen hatte, ehe eine der fünfunddreißig Treppenstufen sein Bewußtsein auslöschte. Das Mädchen stand da, sogar noch in der gleichen Haltung, als wäre in diesem kleinen Teil der Welt einfach die Zeit stehengeblieben, um jetzt, vierTage und eine Schöpfungsperiode später, weiterzulaufen.
Brenner sagte nichts. Er saß einfach weiter reglos da, Johannes' Kopf und Schultern in den Schoß gebettet und die rechte Hand über den gebrochenen Augen, wie um ihn vor diesem letzten, schrecklichen Anblick zu beschützen: dem Engel, der zum Teufel geworden war und nun kam, um als letzten ihn zu holen und es zu Ende zu bringen. Er fürchtete das Sterben nicht mehr. Er wollte nur noch, daß es vorbei wäre.
Astrid blieb zwei Schritte vor ihm stehen und sah lange und mit einer nur angedeuteten, aber sichtbaren Spur von Trauer auf Salids Leichnam herab, ehe sie sich an ihn wandte. In ihrem Blick war etwas, das Brenner schaudern ließ und es ihm unmöglich machte, ihm länger als einige Sekundenbruchteile standzuhalten.
»Warum?« fragte er noch einmal. »Warum dieses grausame Spiel? Hat es euch Spaß gemacht, uns zu quälen?« Plötzlich schrie er: »Warum habt ihr uns nicht sofort vernichtet?«
»Weil die Dinge so geschehen mußten, wie sie vorherbestimmt sind«, antwortete Astrid. Sie deutete auf Salid, dann auf Johannes. »Es war seine Aufgabe, dich hierherzubringen, und die seine, dich zu beschützen.«
Wenn es so ist, dann hat er versagt, dachte Brenner. Dann wurde ihm klar, daß Astrid gar nicht Salid gemeint hatte. Ihre Hand wies in die andere Richtung, auf den verbrannten Mann.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Astrid. »Du hast lange gebraucht, aber es mußte wohl sein.« Sie deutete mit einer Handbewegung hinter sich, tiefer in die Schatten hinein, in denen sich der gewölbte Gang verlor. Brenner glaubte eine Bewegung jenseits der Schwärze wahrzunehmen, aber sie war nicht deutlich genug, um ihr irgendein Erkennen zuzuordnen.
»Komm«, sagte Astrid. »ER erwartet dich.«
Brenner ließ Johannes' reglosen Körper sehr vorsichtig zu Boden gleiten, Schloß mit einer ebenso behutsamen Bewegung seine Augen und trat auf das Mädchen zu. Astrid drehte sich um und ging vor ihm her.
Der Weg war nicht weit. Das rote Licht, das sie schon von oben aus gesehen hatten, stammte von einer Anzahl heftig rußender Fackeln, die an den Wänden des Tunnelgewölbes angebracht waren und sie zu einer massiven, höchstens anderthalb Meter hohen Tür geleiteten, die mit einem zentnerschweren Eichenriegel gesichert war. Es gab kein modernes Schloß, nicht einmal einen einfachen Splint, um den Riegel zu sichern, aber gerade die Einfachheit der Konstruktion war es, die sie besonders massiv erscheinen ließ; kein High Tech-Schloß, das man mit einer Büroklammer und etwas Geschick öffnen konnte, sondern ein einfaches, simples Ding, das für die Ewigkeit geschaffen schien. Etwa in Brusthöhe war eine Klappe in dieTür eingelassen, zwanzig mal zwanzig Zentimeter und mit einem doppelten Kreuz aus rostigen Eisenstäben gesichert. Es war eine Kerkertür.
Astrid öffnete sie, trat gebückt hindurch und winkte Brenner zu, ihr zu folgen. Er gehorchte, mit klopfendem Herzen, aber trotzdem sehr schnell, und er richtete sich auf der anderen Seite derTür so hastig auf, daß er schmerzhaft mit dem Rücken an dem niedrigen Sturz entlangschrammte und das Gesicht verzog, ehe er einen weiteren Schritt machte, um sich nicht noch mehr zu verletzen. Möglicherweise war ihm ja eine tragende Rolle in der letzten Schlacht zwischen Gut und Böse zugedacht worden, aber das hieß leider nicht, daß er immun gegen körperlichen Schmerz gewesen wäre.
Aufmerksam sah er sich um. Nicht, daß es viel zu sehen gegeben hätte. Der Raum bestätigte den Eindruck, den die Tür erweckt hatte, und er war das, was man hinter einer Kerkertür erwartete: ein Kerker. Er hatte einen quadratischen Grundriß und maß allerhöchstens fünf Schritte in jede Richtung, und die Decke war so niedrig, daß Brenner gerade noch aufrecht darin stehen konnte, obwohl er alles andere als ein Riese war. Wie der Gang, der hierherführte, war auch die Zelle selbst nicht gemauert, sondern offensichtlich aus dem natürlichen Felsuntergrund herausgemeißelt worden – praktischerweise gleich mit Mobiliar. Es gab eine zwei Meter lange und halb so breite Lagerstatt und einen etwas kleineren, dafür höheren Altarstein, der offensichtlich als Tisch gedient hatte. Die Wände waren schwarz und von einer mindestens zwei Zentimeter dicken Rußschicht bedeckt, und in der Luft hing ein schwacher, aber penetranter Geruch nach Rauch, nach heißem Kerzenwachs und Essen und nach dem Schweiß von zweitausend Jahren Gefangenschaft.
Der Bewohner dieser Kerkerzelle war nirgends zu sehen, aber es gab einen zweiten, ebenso niedrigen Durchgang auf der anderen Seite, der allerdings keineTür hatte. Astrid deutete auf diesen Durchgang und wiederholte ihre einladende Handbewegung von gerade, machte aber zugleich durch ihre Haltung klar, daß sie Brenner nicht weiter folgen würde. Vielleicht war auch ihre Aufgabe damit erfüllt, daß sie ihn hierhergebracht hatte.
Brenner betrat den angrenzenden Raum. Diesmal war er vorsichtig und stieß sich nicht, aber er verschwendete auch keinen Blick auf seine Umgebung. Sein Herz hämmerte. Obwohl sich die Kälte so tief in seinen Körper gegraben hatte, daß er noch immer am ganzen Leib zitterte, waren seine Hände schweißnaß. ER war da. Ganz dicht. Brenner spürte seine Nähe, noch bevor er sich aufr ichtete und zu der Gestalt herumdrehte, die am anderen Ende des Raumes stand und ihn ansah. Brenner spürte seinen Blick, wie etwas Unsichtbares, Weißglühendes, das seine Haut berührte und ihn verbrennen mußte wie das Feuer eine Motte, die dem Licht zu nahe gekommen war. Brenner richtete sich auf, schloß die Augen und raffte noch einmal all seinen Mut zusammen. Dann drehte er sich um.
Sie alle hatten sich getäuscht. Salid. Johannes. Der verbrannte Mann. Er selbst.
Es war nicht der Widersacher, den sie alle gefürchtet hatten. Statt des Alten Feindes, statt einer Gestalt mit Teufelsschweif, mit Pferdefuß und Hörnern und flammendem Atem stand er einem schlanken jungen Mann gegenüber. Er war etwas größer als Brenner selbst und bekleidet mit einem einfachen, knöchellangen Gewand, das irgendwann vor zweitausend Jahren aus der Mode gekommen sein mußte, und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold. Die Male an seinen Händen und Füßen waren kleiner, als er erwartet hatte; keine klaffenden Wunden, sondern dünne, rote Linien, wie vor langer Zeit verheilte Narben.
Was Brenner am meisten überraschte, war seine Jugend. Er sah keinenTag älter aus als dreißig, und daran änderten weder der weiße Bart irgend etwas noch das schulterlange, schneeweiße Haar, gebleicht in den langen Jahren der Gefangenschaft. Sein Gesicht war immer noch das eines Dreißigjährigen – eines sehr jung gebliebenen Dreißigjährigen , der nur versuchte, älter auszusehen. Das einzige, was diesen Eindruck Lügen strafte, waren die Augen. Sie waren nicht jung, aber sie waren auch nicht alt. Sie waren zeitlos. Es waren die Augen eines Wesens, für das eine Million Jahre wie ein Tag war und eine Sekunde wie eine Ewigkeit und das … größer war als ein Mensch. Was immer dieses Wesen war, das da in der Gestalt eines jungen Mannes mit Narben an Händen und Füßen und einer Reihe winziger roter Wunden an der Stirn vor ihm stand, es war gewaltig. Vielleicht nicht einmal wirklich besser als sie, aber auf jeden Fall gewaltiger. Sein Zorn, wie seine Gnade, mußte unermeßlich sein.
Die Gestalt im weißen Kleid hob die Hand und deutete auf Brenner.
Und im gleichen Moment wußte er.
»Das habe ich nie getan. Ich kam als Freund zu euch. Nicht als Richtet.«
»Du lügst«, behauptete Judas. »Du wurdest geschickt, um über uns zu urteilen. Aber das lasse ich nicht zu. Ich habe dich durchschaut. Du kannst alle anderen täuschen, aber nicht mich. Ich weiß, warum du wirklich hier bist. Ich weiß, was du bist. «
» Und deshalb willst du mich töten«, sagte er.
Judas zog die Hand wieder unter dem Gewand hervor. Sie war leer. Ach wollte, ich könnte es«, flüsterte er. »Bei Gott, ich wollte, ich hätte die Kraft dazu. Aber ich kann es nicht. «
Hinter ihm bewegte sich etwas. Ein Schatten näherte sich, dann ein zweiter, dritter … Keiner der anderen Männer trug eine Fackel, so daß die meisten bloße Umrisse in der Dunkelheit blieben, aber er kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, wer sie waren. Er versuchte sich aufzurichten, aber die Stricke, mit denen er gebunden war, hinderten ihn daran. Alles, was er tun konnte, war den Kopf zu drehen und die beiden Gestalten anzublicken, die unmittelbar hinter Judas aufgetaucht waren.
»Ihr also auch?« murmelte er. »Selbst du, Simon? Johannes? Ihr alle? Haßt ihr mich auch?«
»Niemand tut das, Herr. « Der Fischer kam näher, bis sein Gesicht fast in den Bereich der lodernden Flammen geriet, die Judas' Fackel versprühte. Er schien die Hitze nicht einmal zu spüren. »Wir alle lieben dich, Herr. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Selbst er. « Er legte Judas die Hand auf die Schulter und lächelte. Judas wich einen Schritt zur Seite, so daß Simons Hand von seiner Schulter glitt.
»Zürne ihm nicht. Er ist verwirrt, und er sucht einen Schuldigen, für das, was er selbst getan hat. Er würde dir nie etwas zuleide tun. Keiner von uns würde das. Wir alle gäben freudig unser Leben, um das deine zu beschützen. «
»Dann laßt mich frei«, verlangte er.