122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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Astrid wirkte völlig verstört. Sein Angriff kam so überraschend und – wie er sich widerwillig eingestand – grundlos, daß sie ihn gar nicht begriff. »Aber – «

»Und nur damit das klar ist«, fuhr er im gleichen Ton fort. »Niemand hat dich gezwungen, bei diesem Sauwetter per Anhalter zu fahren, und niemand hat dich gezwungen, in meinen Wagen zu steigen. Komm also bitte nicht auf die Idee, irgendwelches dummes Zeug rumzuerzählen, okay?«

Astrids Augen waren plötzlich so hart wie das Eis, das aufden Ästen glitzerte. »Du überschätzt dich, Alter«, sagte sie. »Für einen Moment habe ich gedacht, du wärst in Ordnung, aber du bist auch nicht anders als all die anderen Arschlöcher. Ich werde bestimmt nicht – «

Das Brummen eines näherkommenden Motors unterbrach sie. Brenner und sie drehten sich im gleichen Moment herum und erkannten die leuchtenden Kreise eines Scheinwerferpaares, das sich ihnen rasch näherte. Also hatte doch jemand an dem zu der Videokamera gehörigen Monitor gesessen und sie beobachtet.

Brenner trat mit einer raschen Bewegung an den Straßenrand und sah dem näherkommenden Scheinwerferpaar entgegen. Hinter den Lichtern erschien ein massiger Umriß, der zu den kantigen Linien eines betagten Geländewagens wurde, welcher rasch auf sie zuhielt und schließlich kaum einen Meter vor Astrid zum Stehen kam. Die Seitenscheibe wurde heruntergekurbelt, und ein bärtiges, vom Pelzfutter einer hochgeschlagenen Kapuze eingerahmtes Gesicht lugte zu ihnen heraus. Bart und Futter hatten fast dieselbe Farbe, so daß es schwer war, zu sagen, wo das eine aufhörte und das andere begann. Die Augen, die zu diesem Gesicht gehörten, blickten nicht besonders freundlich.

»Hallo«, sagte Brenner – was vielleicht nicht besonders intelligent, aber das einzige war, was ihm aus dem Stegreif einfiel.

Der Bärtige erwiderte seinen Gruß nicht, sondern musterte abwechselnd ihn und das Mädchen aufmerksam und mehrmals hintereinander, ehe er dieTür öffnete und umständlich aus seinem Jeep herauskletterte. Das hieß – eigentlich hievte er sich mühsam ins Freie. Der Jeep war so groß, wie es Geländewagen nun einmal sind, aber neben dem Fremden wirkte er wie ein Spielzeugauto. Brenner hatte nie zuvor einen größeren Mann gesehen.

»Wer sind Sie?« fragte er. »Sie befinden sich hier auf Privatbesitz. Haben Sie das Schild nicht gesehen?«

»Was für ein Schild?« erwiderte Brenner. Das fing ja gut an genau so, wie er befürchtet hatte. Konnte er sich mit seinen düsteren Zukunftsprognosen nicht wenigstens einmal irren?

»Das, auf dem steht: Privatbesitz. Betreten verboten«, antwortete der Riese betont.

»Da war kein Schild«, sagte Astrid. »Jedenfalls haben wir keins gesehen.«

Der Fremde blickte aus einer Höhe von gut zwei Meter zehn auf sie herab, runzelte die Stirn und sah plötzlich nicht nur wie ein Märchenriese, sondern wie ein ausgesprochen schlechtgelaunter Riese aus. »Wahrscheinlich ist es wieder runtergefallen«, seufzte er. »Ich habe es schon ein dutzendmal festgenagelt, aber es hält einfach nicht.«

»Die Bäume sind auch nicht mehr das, was sie mal waren«, witzelte Brenner. Wenn er geglaubt hatte, mit diesem lahmen Scherz die Laune seines Gegenübers zu heben, sah er sich getäuscht. Der Blick der dunklen Augen konzentrierte sich nun auf ihn, und er wirkte plötzlich um einiges unfreundlicher als gerade, als er Astrid angesehen hatte.

»Ich nehme an, das Tor und der Zaun sind auch umgefallen«, sagte er, »oder ihr habt es jedenfalls nicht gesehen, wie?«

»Wir brauchen Hilfe«, antwortete Brenner. »Hören Sie – ich weiß, daß wir auf Privatbesitz sind. Wir wollen Ihnen bestimmt keinen Ärger machen, aber wir … «

»Uns ist der Sprit ausgegangen«, mischte sich Astrid ein. »Vier oder fünf Kilometer von hier. Wir waren auf der Suche nach einer Tankstelle und haben den Weg ganz zufällig entdeckt. Können Sie uns helfen?«

Brenner registrierte überrascht den freundlichen Ton in Astrids Stimme, den er ihr bis zu diesem Moment gar nicht zugetraut hätte. Allerdings wirkte er so wenig wie sein mißlungener Versuch, einen Scherz zu machen.

»Das Benzin?« wiederholte der Riese. »Es gibt eine Tankstelle im Ort, zwei Kilometer die Straße hinunter.«

Zwei Kilometer? Das hieß, hinter dem nächsten Hügel, vor dem sie von der Straße abgebogen waren. Brenner unterdrückte nur mit Mühe den Impuls, dem Mädchen einen zornigen Blick zuzuwerfen. »Vielleicht könnten Sie uns hinbringe n«, sagte er. »Ich weiß, es ist viel verlangt, aber wir sind … ziemlich erschöpft. Und das Mädchen ist verletzt.« Er deutete auf Astrids Hand. Sie hatte aufgehört zu bluten, aber die Wunde war so mit halb eingetrocknetem Morast verkrustet, daß sie wahrscheinlich allen Grund hatte, sich mittlerweile wirklich Sorgen zu machen.

»Verletzt? Was ist passiert?«

»Nichts«, antwortete Astrid, während sie sich alle Mühe gab, Brenner mit Blicken aufzuspießen. Ganz instinktiv verbarg sie die Hand unter der Achsel. »Das ist nur ein Kratzer.«

»Trotzdem – laß mich sehen. « Der Fremde griff nach Astrids Hand, zog sie heran, ohne ihre halbherzige Gegenwehr zur Kenntnis zu nehmen, und musterte sie auf eine Art, die Brenner klarmachte, daß er etwas von dem verstand, was er tat.

»Für einen Kratzer ganz schön tief«, sagte er stirnrunzelnd. »Wie ist das passiert?«

»Ich war ungeschickt«, antwortete Astrid und riß ihre Hand los. »Als ich über den Zaun steigen wollte.«

»Über den Zaun, so?« Etwas war in der Stimme des Hünenund viel mehr noch in dem Blick, den er ihm flüchtig zuwarf – , was Brenner nicht gefiel. Aber er kam nicht dazu, sich für etwas zu verteidigen, was er gar nicht getan hatte, denn der Fremde fuhr fort: »Na ja, jedenfalls muß die Wunde versorgt werden, und zwar schnell. Ich nehme euch mit.«

»Es reicht, wenn Sie uns zum Wagen – «, begann Brenner, nur um sofort unterbrochen zu werden:

»Das dürfte euch wenig nutzen, denke ich. Bis ihr im Ort jemanden findet, der euch einen Reservekanister leiht und euch zu eurem Wagen zurückbringt, habt ihr euch längst eine Lungenentzündung geholt.« Er deutete auf den Jeep. »Steigt ein. Bruder Antonius wird mich zwar steinigen, aber ich kann euch unmöglich so zurückschicken.«

Astrid kletterte in den Wagen, nahm auf der Rückbank Platz und legte ihren Rucksack auf den Sitz neben sich, damit Brenner erst gar nicht auf die Idee kam, sich etwa neben sie zu setzen. Umständlich stieg er über den Fahrersitz und den überlangen Schalthebel hinweg und machte es sich bequem, soweit dies auf dem praktisch nur aus nacktem Drahtgeflecht bestehenden Sitz möglich war. Als der Hüne in den Wagen stieg, schien der Jeep plötzlich auf einen Bruchteil seiner normalen Größe zusammenzuschrumpfen; Brenner hatte für eine Sekunde das Gefühl, in einem Swimming-pool zu sein, in den sich ein ausgewachsener Wal verirrt hatte. Er rutschte auf dem Sitz zur Seite, so weit es ging. Trotzdem berührte die Schulter des Fahrers seine eigene.

Als sie losfuhren, verstand Brenner zumindest, warum sich der Mann in einen pelzgefütterten Anorak gehüllt hatte. Es war hier drinnen kälter als draußen; spürbar kälter sogar. Der Wagen machte nicht nur äußerlich den Eindruck, ein Überbleibsel aus dem letzten Weltkrieg zu sein, er mußte wohl auch von einem der Wüstenfeldzüge stammen, denn Brenner konnte nirgends einen Luxus wie eine Heizung oder auch nur ein Gebläse erkennen. Die Windschutzscheibe war so beschlagen, daß der Mann nur mit einer Hand lenken und schalten konnte; die andere brauchte er dazu, praktisch ununterbrochen über die Scheibe zu wischen und sich wenigstens ein kleines Guckloch freizuhalten.

Irgendwie brachte er trotzdem das Kunststück fertig, auf dem schmalen Weg zu wenden, ohne den Wagen gegen einen Baum zu rammen. Dann legte er mit einem Knirschen, das Brenner unwillkürlich auf fliegende Metallsplitter und herumspritzendes Getriebeöl warten ließ, den ersten Gang ein und fuhr los. Viel zu schnell. Die Reifen drehten auf dem zum Teil gefrorenen Boden durch, ehe er behutsam ein wenig Gas wegnahm und sich der Wagen rumpelnd in Bewegung setzte. Er schien kein sehr geübter Fahrer zu sein.

»Ich hoffe, wir machen Ihnen nicht zu viele Umstände«, begann Brenner – nur um überhaupt etwas zu sagen.

»Das machen Sie«, antwortete der andere. Er war auch kein sehr höflicher Mensch, wenngleich er anscheinend aufgehört hatte, sie zu duzen. »Aber ich kann Sie ja schlecht hier draußen erfrieren lassen. Womit fährt Ihr Wagen?«

»Wie?« meinte Brenner verständnislos.

Irgendwo in dem Gestrüpp aus Barthaaren und Pelzfutter entstand etwas wie ein Lächeln. »Mit Benzin oder Diesel?« »Benzin«, antwortete Brenner. »Super, bleifrei – warum?« »Der Wagen hier fährt mit Dieselöl«, antwortete der Riese. »Damit hätte ich Ihnen aushelfen können. Über Benzinvorräte verfügen wir hier leider nicht. Ich werde Sie ins Dorf bringen müssen. «

»Es reicht vielleicht schon, wenn ich telefonieren kann«, sagte Brenner. »Der ADAC kommt bestimmt. Ich habe einen Schutzbrief. «

»Wie schön für Sie«, sagte der Hüne spöttisch. Brenner hatte das sichere Gefühl, daß er nicht einmal wußte, was der ADAC war; geschweige denn ein Schutzbrief. »Leider verfügen wir nicht über ein Telefon. Aber irgendwie werden wir euch schon helfen, keine Sorge.«

Brenner starrte ihn verwirrt an. Kein Telefon? Ein Wagen, der aus dem dreißigjährigen Krieg stammen mußte, und Godzilla als Fahrer? Wo, um alles in der Welt, waren sie da hingeraten?

Feuerschein und das abgehackte, scharfe Rattern einer Maschinenpistole schlugen ihnen entgegen, als sie die Baracke verließen. Zwei Meter vor der Tür lag ein umgestürzter Jeep, der vorhin noch nicht dagewesen war. Eines seiner Hinterräder drehte sich noch, das andere brannte. Einige Schritte entfernt lag ein toter Soldat, kaum einen Meter entfernt der Leichnam eines von Salids Männern. Trotzdem war der Kampf so gut wie vorbei. Salid wußte, daß sie gewonnen hatten. Im Grunde hatten sie das schon, bevor der Angriff begonnen hatte. Salid pflegte keine Aufträge zu übernehmen, die mit einem Fehlschlag endeten.

Das Lager war klein, und das Letzte, womit das knappe Dutzend Soldaten hatte rechnen können, war, seine Waffen tatsächlich noch einmal benutzen zu müssen. Zehn Jahre Frieden hatten auch die gefürchteten amerikanischen Marines langsam und weich werden lassen. Salids Meinung zufolge wurden sie sowieso total überschätzt. Wäre es das Ziel ihres Überfalls gewesen, so hätten sie jetzt schon jedes Leben in diesem Lager ausgelöscht.

Salid sah auf die Uhr. Sie lagen genau im Zeitplan, trotz der Zeit, die sie in der Baracke verloren hatten.

Er opferte eine Minute, um mit einem Sprung hinter denumgestürzten Jeep zu gelangen und sich einen Überblick zu verschaffen. Außer den beidenToten in seiner unmittelbaren Umgebung entdeckte er drei weitere Leichen, die aber allesamt amerikanische Uniformen trugen. Eine der beiden anderen Baracken brannte lichterloh; der dichte Qualm, der aus den Fenstern und dem bereits halb eingesunkenen Dach quoll, verwehrte ihm den Blick auf den Bereich dahinter, aber er hörte noch immer Schüsse. Kein Vernichtungsfeuer, auch nicht das hektische Hin und Her eines wirklichen Gefechts. Seine Männer feuerten nur noch, um die Marines nachhaltig zu motivieren, die Köpfe unten und die Finger von den Waffen zu lassen. Gut. Salid hatte seinen Männern befohlen, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden-wobei er nicht genau definiert hatte, was er für nötig befand – ; nicht aus Menschlichkeit oder Rücksicht, sondern weil ihm Verschwendung jeglicher Art zuwider war; auch die von Menschenleben. Außerdem waren diese Soldaten nicht seine Feinde. Sie standen nur zufällig auf der falschen Seite.

Salid rannte geduckt los. Im Zickzack näherte er sich der brennenden Baracke, schwenkte zehn Meter davor nach rechts und warf sich mit einem Fluch zu Boden, als eine Kugel kaum eine Handbreit vor ihm den Morast hochspritzen ließ. Der Schuß war nicht gezielt, aber ein Zufallstreffer konnte genauso tödlich sein wie ein gezielter Schuß. Er mußte vorsichtig sein.

Vielleicht vor allem, was seine Beurteilung der Lage anging, denn als er den Kopf hob, explodierte der Boden vor ihm ein zweites Mal und überschüttete ihn mit einer Fontäne aus Eiswasser und Matsch. Offensichtlich war der Schuß doch nicht ganz so zufällig in seine Richtung gegangen, wie er bisher angenommen hatte.

Salids dunkle Augen verengten sich zu Schlitzen, während er nach dem Angreifer Ausschau hielt. Er entdeckte ihn fast sofort – einen verschwommenen Schatten in einem der Fenster, der sich in der lodernden Glut dahinter aufzulösen schien. Salid verspürte ein flüchtiges Gefühl von Erstaunen. Die Hitze in der brennenden Baracke mußte unvorstellbar sein. Er fragte sich, woher der Mann überhaupt noch die Energie nahm, auf ihn zu schießen.

Allerdings hielt ihn sein Erstaunen keinen Moment davon ab, seine eigene Waffe zu heben und auf den Marine zu feuern. Der Mann warf sich blitzschnell zur Seite, und der Schuß ging harmlos an ihm vorbei. Salid korrigierte die Richtung des Gewehrlaufes um einige Millimeter und drückte noch einmal ab. Die Kugel schlug in das Holz neben dem Fensterrahmen, ganz genau dort, wo der Amerikaner stehen mußte, und fetzte ein paar Holzsplitter heraus. Fast in der gleichen Sekunde erschien der Schatten erneut vor den Flammen. Salid hörte den Schuß nicht einmal, aber diesmal lag der Einschlag so nahe, daß er den heißen Luftzug des Geschosses spüren konnte.

Salid fluchte, schoß ebenfalls und registrierte befriedigt, wie sich der Mann wieder hinter seine Deckung zurückzog. Blitzschnell drehte er das Gewehr zur Seite, schraubte mit hastigen Bewegungen den Schalldämpfer ab und ließ ihn achtlos in den Morast fallen. Während er auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins, die das Geschehen vollkommen unbeteiligt beobachtete und wertete, begriff, daß er schon

wieder einen Fehler gemacht hatte, indem er den Schalldämpfer auf der Waffe ließ, der im Wald vielleicht nützlich gewesen war, dem 03 aber hier zu viel von seiner Durchschlagskraft und Zielsicherheit nahm, zielte er bereits erneut und drückte dreimal rasch hintereinander ab. Diesmal konnte er sehen, daß der kurze Feuerstoß die dünne Bretterwand durchschlug. Ein Schatten erschien in der Fensteröffnung. Salid richtete das Gewehr auf seinen Kopf, drückte aber nicht ab.

Es war auch nicht nötig. Der Mann stand noch eine Sekunde lang reglos da, wankte plötzlich – und kippte nach vorne. Das Mr6 entglitt seinen Fingern und fiel in den schmelzenden Schnee vor der Baracke, als der Marine in der Fensterbrüstung zusammenbrach. Salid sah, daß der Rücken seiner Uniformjacke bereits schwelte.

Rasch richtete er sich auf und lief weiter. Auf den nächsten zwanzig Schritten gab ihm der Rauch Deckung, dann lag das letzte Stück des Weges offen vor ihm. Salid rannte im Zickzack weiter, duckte sich, sprang nach rechts, links, vor und zurück und tat alles, um kein sicheres Ziel zu bieten, falls einer von Uncle Sams Neffen etwa auf die Idee kam, seine hehren Prinzipien zu vergessen und einem flüchtenden Mann in den Rücken zu schießen.

Aber niemand feuerte auf ihn. Unbehelligt erreichte Salid den Hubschrauber, umrundete ihn und kletterte in die Kanzel. Das Peitschen der Schüsse und das Prasseln und Knistern der Flammen drang plötzlich nur noch gedämpft an sein Ohr.