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»Was stimmt nicht?« fragte er.
»Nichts«, antwortete der Pilot nervös. »Es ist nur … ich kenne diesen Typ nicht. Nicht genau. Die Instrumente sind anders als bei den Maschinen, die ich bisher geflogen habe.«
»Ich denke, du kannst einen Helikopter fliegen?« fragte Salid.
»Das kann ich auch! « verteidigte sich der Pilot. Er sprach hastig, in einemTon, der seinen Worten viel von ihrer Glaubwürdigkeit nahm. »Aber ich habe bisher nur russische Maschinen geflogen. Diese hier ist anders.«
Er streckte die Hand nach einem Schalter aus, zögerte und legte schließlich einen anderen um. Zu dem guten Dutzend winziger Kontrollämpchen auf dem Armaturenbrett vor ihm gesellte sich ein weiteres.
»Kannst du es, oder kannst du es nicht?« fragte Salid. Seine Stimme klang ganz ruhig. Er empfand nicht einmal wirklichen Zorn. Er würde den Mann zur Verantwortung ziehen, ebenso wie den, der ihm diesen Piloten vermittelt hatte; aber später. Im Moment zählte nur, daß sie hier wegkamen, und das schnell. Ihr Zeitplan war gut, aber sehr eng. Sie konnten sich keine Verzögerungen leisten. Alles in allem waren seit dem ersten Schuß gut vier Minuten vergangen, und wahrscheinlich würden auf der nicht einmal dreißig Kilometer entfernten Rhein-MainAir-Base jetzt schon die Alarmsirenen gellen und die Besatzungen zu ihren Hubschraubern hasten.
Statt zu antworten, betätigte der Mann eine Anzahl weiterer Schalter. Salid hörte ein feines Singen, das rasch lauter wurde. Gleichzeitig begannen sich die Rotorblätter über der durchsichtigen Kanzel zu drehen; langsam, aber schneller werdend. Salid spürte Erleichterung, aber nicht sehr viel. Noch waren sie nicht in der Luft. Und vor allem noch nicht wieder unten.
Er blickte an dem Piloten vorbei nach draußen. Das Feuer hatte weiter um sich gegriffen. Die Baracke brannte jetzt wie ein Scheiterhaufen. Die Glut war so hell, daß sie ihm dieTränen in die Augen trieb. Dort drinnen lebte niemand mehr.
Durch den Rauch kamen zwei Gestalten in gefleckten Tarnanzügen auf die Maschine zu. Eine von ihnen stolperte plötzlich, fiel auf die Knie und hob in einer grotesk langsam anmutenden Bewegung die Hände an das Gesicht. Wo ihr rechtes Auge gewesen war, gähnte jetzt ein blutiger Krater. Der zweite Mann rannte unbeeindruckt weiter, umrundete die
Maschine und quetschte sich an Salid vorbei auf die schmale
hintere Sitzbank.
»Los! « befahl Salid.
Der Pilot zögerte einen winzigen Moment. Sie waren zu sechst gekommen, jetzt waren sie noch drei. Aber ein einziger Blick Salids brachte ihn sehr rasch dazu, mit beiden Händen den Steuerknüppel zu umklammern und hastig die Pedale zu betätigen.
Das Heulen des Rotors wurde lauter. Aus den drei Rotorblättern über der Kanzel war längst ein rasender Kreis aus reiner Bewegung geworden, dessen Miniatur-Taifun den Schnee in weitem Umkreis hochwirbelte. Die Maschine begann zu zittern – und löste sich langsam vom Boden.
Salid gestattete sich ein flüchtiges Gefühl von Erleichterung. Drei von sechs. Es hätte schlimmer kommen können. Die drei anderen waren freudig gestorben, in dem Bewußtsein, einer gerechten Sache – ihrer Sache, die schon durch diese Definition automatisch zur richtigen wurde – zu dienen. Diese Narren. Aber auch das gehörte zu den Geheimnissen seines Erfolgs. Es brauchte Narren, wie sie es waren, damit Männer wie er überleben konnten.
Bei diesem Gedanken breitete sich ein dünnes, kaum sichtbares Lächeln auf seinem bärtigen Gesicht aus. Aber es blieb nicht sehr lange dort; vielleicht eine Sekunde, vielleicht zwei.
Genau so lange, wie der Helikopter brauchte, um zwanzig Meter weit in die Höhe zu klettern und die stumpfe Plexiglaskanzel nach Westen zu drehen.
Denn in diesem Moment sah er den heranrasenden Apache. »Wo sind wir da bloß hingeraten?«
Die gleiche Frage wie Brenner stellte Astrid gute zehn Minuten später laut und – Brenner zweifelte keine Sekunde daran – ganz bewußt so, daß ihr Retter sie hören mußte, aber nicht sicher sein konnte, ob er es auch tatsächlich sollte. Es war das erste Mal, daß sich ihre liebreizende Art wieder bemerkbar machte, seit sie Sebastian – ihr Retter hatte sich mittlerweile
vorgestellt, ansonsten aber nichts über sich oder diesen sonderbaren Ort erzählt – getroffen hatten, und ihr vermeintlicher Fauxpas löste auf dem bärtigen Gesicht des Riesen ein gutmütiges Lächeln aus. Wahrscheinlich, dachte Brenner, würde er sich das sehr schnell abgewöhnen, wenn er Astrid erst einmal ein bißchen näher kennenlernte.
Aber bei allem Ärger darüber, daß die Kleine offenbar gewillt schien, sich – und damit ganz automatisch auch ihn – auch hier nach Kräften unbeliebt zu machen, konnte er sie fast verstehen. Er selbst hätte es etwas diplomatischer und vor allem leiser ausgedrückt, doch auch er fragte sich immer mehr, was das hier für ein sonderbarer Ort war.
»Vielleicht ist es eine Art Kloster«, antwortete er nun, mit einiger Verspätung, auf ihre Frage. »Oder eine Sekte, die sich hier verkrochen hat, um ungestört zu sein.«
Astrid stand auf und begann in dem winzigen Raum auf und ab zu gehen, um sich ein bißchen Wärme zu verschaffen. Die Kammer ähnelte irgendwie Sebastians Auto, nicht nur, was ihr Alter und ihre Schlichtheit anging. Es war hier drinnen genauso kalt. Und genauso unbequem. Und das lag nicht etwa daran, daß die Heizung nicht funktioniert hätte. Es gab keine. Ebensowenig wie einen Ofen oder irgendeine andere Möglichkeit, sich aufzuwärmen.
»Ich habe kein Kreuz über derTür gesehen«, antwortete sie. »Außerdem dachte ich immer, daß in einem Kloster Hilfesuchende mit offenen Armen empfangen werden. Wie kommst du darauf?«
»Erinnerst du dich, daß er von >Bruder Antonius< gesprochen hat?«
»Der, der ihn wahrscheinlich steinigen wird, weil er uns nicht hat erfrieren lassen?« Sie machte eine Bewegung, die eine komplizierte, aber eindeutige Mischung aus Nicken und Kopfschütteln darstellte. »Trotzdem – das hier sieht nicht wie ein Kloster aus. Ich finde, es sieht eher aus wie Frankensteins Schloß. «
Brenner lächelte flüchtig und trat ans Fenster. »So ein großer Unterschied ist das vielleicht gar nicht«, sagte er. »Im Mittelalter dienten die Klöster öfter als einziger Unterschlupf vor Räubern oder feindlichen Soldaten oder in besonders harten Wintern. Viele waren massiver erbaut als so manche Burg.« »Du kennst dich mit so etwas aus, wie?«
»Ich interessiere mich ein wenig für Geschichte«, antwortete er achselzuckend. Er versuchte, einen Blick nach draußen zu werfen, doch was er durch das schmale Fenster sah – das zwar kein Glas hatte, dafür aber ein sehr massives Gitter-, war wenig aufschlußreich. Der Waldrand, einige Meter Straße und ein kleines Stück des hölzernen Steges, über den sie gerumpelt waren. Das Gebäude lag an einem schmalen Fluß, dessen Oberfläche zumTeil noch zugefroren war. Und damit hörte sein Wissen darüber auch schon beinahe auf.
Sebastian hatte in dem gewaltigen Torgewölbe angehalten und sie in diesen Raum unmittelbar hinter der Außenmauer bugsiert, ehe Brenner Gelegenheit gehabt hatte, auch nur einen Blick in den Innenhof zu werfen. Aber das wenige, was er gesehen hatte, schien seine Vermutung zu bestätigen. Das Gewölbe war äußerst massiv und aus tonnenschweren, ohne sichtbaren Mörtel aufeinandergesetzten Steinquadern errichtet. Aus der Decke direkt hinter dem Tor lugten die Spitzen eines Fallgitters, das vermutlich seit zwei-oder auch fünfhundert Jahren festgerostet und nicht mehr von der Stelle zu bewegen war. Und die kleine Brücke, die über den Fluß führte, war gar keine Brücke, sondern eine Zugbrücke, die hochgeklappt ein äußerst massives Tor ergeben mußte. Im Inneren des Torgewölbes gab es keine Fenster, sondern nur eine Anzahl schmaler Schießscharten.
Alles in allem war es wohl doch eher eine Burg als ein Kloster. Natürlich war der Unterschied doch ein wenig größer, als er gerade behauptet hatte, aber er verspürte wenig Lust, Astrid jetzt einen Vortrag über mittelalterliche Architektur zu halten. »Das hier muß das Wachzimmer gewesen sein«, sagte er. »Man kann den Waldrand und die Brücke im Auge behalten, ohne selbst gesehen oder getroffen zu werden.«
»Interessant«, sagte Astrid, mit einer Stimme, wie sie desinteressierter kaum noch klingen konnte. »Das Badezimmer würde mich im Moment aber noch mehr interessieren. Ein Königreich für eine Wanne voll heißem Wasser! «
Brenner lächelte schmerzlich. Ihre Worte entbehrten nicht einer gewissen Berechtigung. Er war mittlerweile nicht einmal mehr völlig sicher, daß sie wirklich einen gutenTausch gemacht hatten. Es war hier drinnen ebenso kalt wie draußen im Wald, aber dort hatten sie wenigstens noch Bewegung gehabt, die ihnen half, die Kälte zu ertragen. In dieser Kammer gab es nicht viel Raum, um sich zu bewegen. Sie war von quadratischem Grundriß und maß nicht einmal ganz fünf Schritte, und ein Gutteil des Platzes wurde von einem klobigenTisch und sechs ebenso klobigen Stühlen eingenommen, die nicht unbedingt zum Draufsetzen einluden. Die Möbel waren uralt und stammten wahrscheinlich noch aus der Zeit, zu der dieses Kloster errichtet worden war; allerdings waren es keine Antiquitäten, sondern einfach nur alter Kram. »Sie werden uns schon nicht erfrieren lassen«, sagte er.
»Bist du sicher?« Astrid hielt in ihrem ruhelosen Auf und Ab inne und legte den Kopf schräg. »Vielleicht ist das ja doch eine von diesen Geschichten – du weißt schon: zwei Leute haben eine Wagenpanne, marschieren los und stoßen mitten im Wald auf ein uraltes Gemäuer, in dem ein verrückter Wissenschaftler Experimente mit Menschen macht. Er gibt ihnen irgendwelche Spritzen, damit sie zu sprechenden Salatköpfen werden. «
»Und dann werden sie von Außerirdischen entführt, die ihre Gene brauchen, um ihr degeneriertes Volk vor dem Aussterben zu bewahren«, fügte Brenner in ernstem Ton hinzu. »Aber du weißt ja auch, wie all diese Geschichten enden. Am Schluß werden sämtliche Bösewichter zur Hölle geschickt, und der strahlende Held befreit die bildhübsche – «
»– aber strohdumme – «
»–Heldin, und die beiden müssen heiraten und den Rest ihres Lebens zusammenbleiben«, schloß Brenner.
Astrid schüttelte sich. »Was für eine entsetzliche Vorstellung. Dann doch lieber die Außerirdischen.«
Sie lachten. Zum erstenmal war es ein echtes Lachen, das Brenner auf ihrem Gesicht sah. Und so lange es andauerte, sah sie wirklich so jung aus, wie sie war, nämlich allerhöchstens sechzehn, und wahrscheinlich noch nicht einmal das.
»Hast du 'ne Zigarette?« fragte Astrid.
Brenner schob den Pullover in die Höhe und wühlte in den Taschen der Anzugjacke, die er darunter trug. Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, wie albern es aussehen mußte. Er streifte ihn über den Kopf und warf ihn achtlos zu Boden, ehe er die Zigarettenpackung hervorkramte, die er an der letzten Raststätte gekauft hatte. Er bediente sich selbst, hielt sie erst dann Astrid hin und wartete, daß sie ihr Feuerzeug aufschnappen ließ.
Astrids Hände zitterten so heftig, daß es ihm nicht gelang, die Camel in Brand zu setzen. Ganz automatisch griff er zu und hielt ihre Finger fest. Erst als der bittere Rauch seine Lungen füllte, begriff er, daß er etwas Unerhörtes tat, wofür sie ihm vor einer Stunde vermutlich noch die Augen ausgekratzt hätte. Aber er widerstand dem Impuls, die Hand erschrocken zurückzuziehen. Das hätte den Moment erst vollends peinlich gemacht. Statt dessen hielt er ihre Finger sogar etwas länger fest, als nötig gewesen wäre. Sie waren so kalt, daß er gar nicht das Gefühl hatte, etwas Lebendes zu berühren. Schließlich zog Astrid ihre Hand zurück und steckte das Feuerzeug ein.
»Danke«, sagte sie. Sie stieß eine Rauchwolke aus, die ihr Gesicht verbarg wie ein eisgrauer Schleier. »Sieht so aus, als hätten wir es hinter uns, wie?«
»Das Schlimmste, ja«, bestätigte Brenner. »Falls sie nicht gleich mit Ketten und Totenkopf-Masken kommen und uns in die Folterkammer schleppen.«
Der Scherz trug keinen zweiten Lacher, das spürte er selbst. Astrid verzog nur flüchtig die Lippen und beschränkte sich ansonsten darauf, einen vorwurfsvollen Blick auf den Pullover zu werfen, den er fallengelassen hatte. Brenner hob ihn auf und drapierte ihn, so gut es ging, über eine Stuhllehne. Nicht, daß es etwas änderte – er sah noch immer aus wie ein Putzlappen, der seit Ewigkeiten nicht mehr gewaschen worden war. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er auch ungefähr so roch.
»Hör mal«, begann Brenner verlegen. »Was ich vorhin gesagt habe, daß du keine Geschichten rumerzählen sollst und so – «
»Geschenkt«, unterbrach ihn Astrid. »Es tut dir leid und so weiter, ich weiß. Vergiß es.«
Aber das tat er nicht. Ganz im Gegenteil – es ärgerte ihn schon wieder, daß sie ihm nicht einmal eine Chance gab, sich zu entschuldigen, und es sogar fertiggebracht hatte, seine Worte gegen ihn zu wenden.
»Was ist eigentlich los mit dir?« fragte er. Erstaunlicherweise konterte sie nicht mit einer patzigen Antwort, sondern sah ihn nur ein paar Sekunden lang aus ihren großen Augen an, ehe sie eine Bewegung machte, die ein Achselzucken sein mochte. »Was soll los sein?«
»Das weißt du ganz genau«, antwortete Brenner, nun schon etwas schärfer. »Ich weiß selbst nicht genau, warum ich den Blödsinn vorhin gesagt habe. Wir waren wohl beide ein bißchen von der Rolle, nehme ich an. Aber du warst schon vorher so. Glaubst du vielleicht, daß das irgend etwas bringt?« Er machte eine abwehrende Handbewegung, als sie ihn unterbrechen wollte. »Ich denke, daß du vermutlich einen Grund hast. Vielleicht hat man dir ziemlich übel mitgespielt. Ich will gar nicht wissen, was los war. Es geht mich nichts an. Aber weißt du, es wird nicht besser, wenn du jetzt für den Rest deines Lebens wie eine bissige Hündin herumläufst und nach jeder Hand schnappst, die dich vielleicht nur streicheln will. Die Welt besteht nicht nur aus« – er benutzte ganz absichtlich dasselbe Wort wie sie – »Arschlöchern, die etwas von dir wollen.«