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Die Art, auf die Ben diese Frage stellte, gefiel Mike nicht. Er mußte sich beherrschen, um den jungen Engländer nicht anzufahren. »Sie ist… ein bißchen sonderbar«, antwortete er ausweichend. Ben legte die Stirn in Falten, und Juan und Trautman warfen sich einen vielsagenden Blick zu.
»Sonderbar, so«, wiederholte Ben. »Na, so kann man es auch nennen.«
»Sie ist bestimmt genauso verwirrt und durcheinander wie wir alle«, sagte Mike. »Immerhin hat sie jahrtausendelang geschlafen. Für sie muß das alles hier noch viel fremder und erschreckender sein als für uns.«
»Sie ist eine eingebildete Kuh«, sagte Ben ruhig.
Eine Sekunde lang starrte Mike Ben nur fassungslos an, aber dann brodelte heißer Zorn in ihm empor. »Das nimmst du zurück!« sagte er. »Du weißt ja nicht, was du da redest!«
»Okay, die Kuh nehme ich zurück«, sagte Ben grinsend. »Überhebliche Zimtzicke trifft es sowieso besser.«
Mike mußte sich beherrschen, um sich nicht auf der Stelle auf Ben zu stürzen und so lange auf ihn einzuprügeln, bis er diese Beleidigung zurücknahm. Ohne daß er es merkte, ballten sich seine Hände zu Fäusten, und er sah im wahrsten Sinne des Wortes rot.
»He, ihr beiden – aufgehört!« sagte Trautman scharf. »Reißt euch gefälligst zusammen!«
»Ich will, daß er das zurücknimmt!« sagte Mike. Seine Stimme zitterte. »Serena ist –«
»Wir wissen, was Serena ist«, unterbrach ihn Trautman in scharfem Ton. »Sie ist ein bißchen seltsam, wie du es bezeichnet hast.« Er kam auf Mike zu, ergriff ihn am Arm und schob ihn ein paar Schritte zur Seite. »Nimm es ihnen nicht übel, Mike«, fuhr Trautman fort. War es wirklich nur Zufall, daß er plötzlich so leise sprach, daß die anderen seine Worte kaum verstehen konnten? »Serena ist wirklich ein bißchen – äh… schwierig. Und es macht uns alle nervös, daß sie unsere Gedanken lesen kann.«
»Das tut Astaroth auch«, antwortete Mike. Er wußte selbst, wie albern dieser Vergleich war, und Trautman antwortete auch prompt:
»Das ist ein Unterschied, meinst du nicht?«
»Warum? Weil er ein Tier ist?«
»Weil er nicht ganz so rücksichtslos ist wie seine Herrin«, erwiderte Trautman. »Und weil er Geheimnisse besser für sich behalten kann. Und jetzt schlage ich vor, daß wir das Thema wechseln, einverstanden? Früher oder später werden wir uns schon an Serena gewöhnen.« Er machte eine Handbewegung, mit der er das Thema endgültig für beendet erklärte, und Mike akzeptierte dies. Er hatte das Gefühl, daß es im Moment vielleicht nicht gut war, zu sehr in Trautman zu dringen. Vielleicht würde ihm das, was Trautman tatsächlich von Serena dachte, nicht gefallen.
»Wie war es in der Stadt?« fragte er einsilbig.
»Interessant«, antwortete Trautman, und Ben sagte im gleichen Augenblick: »Stadt? Daß ich nicht lache!«
Trautman überging den Einwurf. »Sie ist anders, als du sie dir wahrscheinlich vorstellst«, sagte er. »Morgen früh gehen wir wieder hinunter, und Denholm hat mir versprochen, daß du uns dann begleiten darfst. Ich bin sicher, sie wird dir gefallen. Vor allem ihre Menschen. Sie sind ein sehr freundliches Volk.«
»Ja«, maulte Ben. »Vor allem ein sehrgastfreundlichesVolk. Sie lieben Gäste so sehr, daß sie sie gar nicht wieder weglassen wollen.«
»Ben, das reicht«, sagte Trautman. »Was ist eigentlich in dich gefahren? Vor einer halben Stunde warst du noch bester Laune, und jetzt…«
»Da dachte ich auch noch, man könnte vernünftig mit diesem verliebten Gockel reden«, antwortete Ben patzig und wies auf Mike. »Aber das war wohl ein Irrtum.« Mike wollte auffahren, aber Trautman trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und Ben, ergriff Mike am Arm und zog ihn mit mehr oder weniger sanfter Gewalt mit sich. Erst als sie die Hütte verlassen hatten, ließ er ihn wieder los.
»Bitte, nimm es Ben nicht übel«, sagte er. »Er ist sehr enttäuscht, weißt du? Und das ist eben seine Art, damit fertig zu werden. Du kennst ihn ja.«
»Enttäuscht?« wiederholte Mike fragend. »Wieso?«
Trautman schwieg einen Moment. Schließlich drehte er sich herum und sah auf den Hafen herab. Sein Blick suchte die NAUTILUS, und ein trauriger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Du hast mit Serena gesprochen?« fragte er. »Ich meine, über unsere Lage hier?« »Nein«, gestand Mike.
Trautman lächelte bitter. »Ja, das habe ich mir gedacht. Sie wollte nicht mit dir reden, stimmt’s?«
»Sie haben es auch gesagt«, antwortete Mike beinahe verzweifelt. »Sie braucht bestimmt noch eine Weile, um sich hier zurechtzufinden.«
Trautman warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann wieder auf den Hafen und die gefangene NAUTILUS hinab. »Hat sie dir erzählt, daß einige sie hier wie eine Göttin verehren?« fragte er.
»Nein«, antwortete Mike. Er erinnerte sich, wie die Piraten an Bord der NAUTILUS vor dem Mädchen auf die Knie gesunken waren.
»Sie tun es«, bestätigte Trautman, ohne ihn anzusehen. »Nicht alle, aber viele. Denholm gehört übrigens nicht zu ihnen. Morgen, wenn wir die Stadt besuchen, wirst du verstehen, warum das so ist.«
»Und was hat das mit BensEnttäuschungzu tun?« fragte Mike.
»Na ja, da gibt es etwas über Serena, was du noch nicht weißt«, sagte Trautman. Mike spürte, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Erinnerst du dich, was sie als erstes gesagt hat, nachdem sie aufgewacht war?«
Mike schwieg. Er blickte Trautman an, und plötzlich hatte er ein sehr, sehr ungutes Gefühl.
»Was macht ihr auf meinem Schiff«, sagte Trautman. »Das war es doch, nicht?«
»Ich… glaube schon«, antwortete Mike zögernd. »Das hat sie nicht nur so dahingesagt«, sagte Trautman leise. »Siehst du, das Problem ist, daß es nur einen einzigen Weg gibt, von hier jemals
wieder wegzukommen – und das ist die NAUTILUS.«
»Und wo ist das Problem?« fragte Mike. »Die Riesenqualle?«
»Nein«, antwortete Trautman. »Ich denke, mit der würden wir schon irgendwie fertig. Das Problem ist Serena. So, wie es aussieht, scheint die NAUTILUS tatsächlich irgendwann einmalihrgehört zu haben. Und sie ist wohl der Meinung, daß das noch so ist.«
»Was soll das heißen?« fragte Mike alarmiert.
»Das soll heißen, daß sie nicht daran denkt, uns die NAUTILUS zu überlassen«, antwortete Trautman. »Ich habe sie gefragt. Sie hat mich schlicht ausgelacht.«
»Aber das würde ja bedeuten, daß –« begann Mike und verstummte, ehe er den Satz zu Ende bringen konnte. Er hatte einfach nicht den Mut, die letzten Worte auszusprechen.
Trautman hatte ihn. »Du warst so etwas wie unsere letzte Hoffnung, Mike«, sagte er. »Wir haben gehofft, daß Serena mitdirreden würde, wenn schon nicht mit uns. Aber wenn sie das nicht tut, dann sind wir gefangen wie alle anderen. Ohne die NAUTILUS kommen wir nie wieder von hier weg.«
Es war die erste Nacht, die Mike erlebte, die im Grunde gar keine war. Neben allen anderen Überraschungen hielt die seltsame Welt auf dem Meeresgrund noch eine für ihn bereit, auf die er eigentlich gefaßt hätte sein müssen, die ihn aber trotzdem im ersten Moment mehr als alles andere verblüffte: der Unterschied zwischen Tag und Nacht. Das milde weiße Licht, das aus dem Nirgendwo kam, war ja nicht das einer Sonne, die am Morgen auf- und am Abend wieder unterging, und so fiel es ihm sehr schwer, am »Abend« wie alle anderen zu Bett zu gehen und zu schlafen.
Doch dies war nicht der einzige Grund, aus dem er sich noch stundenlang auf seinem Lager herumwälzte und vergeblich darauf wartete, daß sich der Schlaf einstellte. Die Kraft, die ihm Serena gespendet hatte, hielt ihn nachhaltig wach, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätten es wohl die Gedanken getan, die sich hinter seiner Stirn im Kreise drehten. Er wollte das, was Trautman ihm erzählt hatte, nicht begreifen. Er weigerte sich einfach, den Gedanken zu akzeptieren, daß sie für den Rest ihres Lebens hier unten festsitzen sollten.
Irgendwann fand er schließlich doch in einen unruhigen, von Träumen geplagten Schlaf, aus dem ihn Singh schließlich am nächsten Morgen mit besorgtem Gesichtsausdruck weckte.
Das Frühstück, das sie allesamt in gedrückter Stimmung einnahmen, bestand aus Früchten, Fisch und dem gleichen wohlschmeckenden Saft, den er schon gestern bekommen hatte. Und sie hatten kaum fertig gegessen, da erschienen Denholm und seine beiden Begleiter wieder, um sie zu dem Besuch in der Stadt abzuholen, von dem Trautman am vergangenen Abend gesprochen hatte.
Trotz allem war Mike sehr aufgeregt. Trautmans Andeutungen hatten ihm ja so gut wie nichts über die Stadt verraten, aber er hatte ihren phantastischen Anblick nicht vergessen. Von der Klippe aus war sie nicht zu sehen, aber das lag wohl daran, daß sie auf der anderen Seite des Hügels lag, auf dem sich ihr neues
Zuhause erhob. Mike brannte darauf, sie endlich kennenzulernen.
Außerdem würde er Serena Wiedersehen. Er war mittlerweile ganz sicher, daß ihr eigentümliches Verhalten von gestern nur ein Mißverständnis gewesen sein konnte. Es würde sich bestimmt aufklären. Serena würde sie ganz bestimmt nicht dazu verurteilen, den Rest ihres Lebens als Gefangene auf dem Meeresgrund zu verbringen.
Er sollte enttäuscht werden – und das in jeder Beziehung.