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»Aber die Männer erzählten, daß sie vorhin unten am Strand
gewe –« begann Mike, aber Sarah unterbrach ihn, indem sie die Hand hob und ein paarmal den Kopf schüttelte.
»Das fragst du am besten meinen Vater«, sagte sie. »In den letzten Tagen ist… einiges geschehen. Vieles hat sich geändert.«Und nicht unbedingt zum Guten,fügte ihr Blick hinzu. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema. »Aber jetzt bist du dran, zu antworten. André hat mir schon so viel von dir erzählt, daß ich es kaum noch abwarten konnte, dich kennenzulernen. Das Schiff, mit dem ihr gekommen seid – kann es tatsächlich unter Wasser fahren?«
Ohne eine Sonne, die sich am Himmel bewegte, war es schwer, das Verstreichen der Zeit zu messen, aber Mike schätzte, daß sie länger als zwei Stunden dasaßen und redeten. Sarah erwies sich als sehr ungeduldige Zuhörerin, denn sie stellte unentwegt neue Fragen und ließ ihm kaum Zeit, sie zu beantworten, ehe sie ihn auch schon wieder unterbrach und etwas anderes wissen wollte. Am Anfang ging Mike dies auf die Nerven – eigentlich war er hierher gekommen, um Fragen zu stellen, nicht um welche zu beantworten. Aber er begriff bald, daß das, was er zu erzählen hatte, für das Mädchen ungleich faszinierender sein mußte als das, was er bisher von ihrer Welt gesehen hatte. Er fand kaum Gelegenheit, selbst eine Frage zu stellen, aber er erfuhr immerhin, daß Sarah – ebenso wie ihre Eltern – nicht mit einem Schiff hierhergekommen, sondern hier unten geboren war. Sie hatte zeit ihres Lebens niemals etwas anderes gesehen als diesen Ort, den Korallenwald und den schmalen, hügeligen Streifen, der diese Hälfte der unterseeischen Welt von der trennte, in der die Alte Stadt lag und die den Fischmenschen gehörte.
Sie hatte niemals mehr als diese wenigen Dutzend Menschen getroffen, und sie hatte niemals den Himmel gesehen. Sie wußte weder, was das Wort »Nacht« bedeutete, noch was Wolken waren, Regen, Schnee oder Kälte. Und so mußte jedes Wort, das Mike erzählte, völlig neu und faszinierend für sie sein.
Obwohl sie das allermeiste von dem, was er von der Welt über dem Meer und ihren Bewohnern zu berichten hatte, sicher schon von André und den anderen gehört hatte, hingen ihre Blicke wie gebannt an seinen Lippen, und er konnte regelrecht spüren, wie sie jedes Wort wie einen kostbaren Schatz aufnahm, um ihn tief in sich für den Rest ihres Lebens zu bewahren.
Sosehr es Mike auch freute, mit dem Mädchen zu reden und ihre schier unstillbare Neugier zu befriedigen, erfüllte ihn das Gespräch doch bald mit Unbehagen und schließlich mit Trauer. Denn obwohl Sarah es nicht sagte – und ihm auch kaum Gelegenheit gab, selbst eine entsprechende Frage zu stellen –, wurde ihm wieder deutlich, was all diese Menschen hier unten waren: nichts anderes als Gefangene. Denholm – und seltsamerweise auch Trautman – hatte versucht, diese Welt unter dem Meer als so etwas wie ein kleines Paradies darzustellen, dessen Bewohner in Frieden und sorglos leben konnten. Aber diese Behauptung hatte ja nicht einmal Mikes erstem, noch flüchtigem Hinsehen standgehalten.
Schließlich hörte Mike auf, zu erzählen, und obwohl er Sarah deutlich ansehen konnte, wie sehr sie dies bedauerte, versuchte sie nicht, ihn zum Weiterreden zu bewegen, sondern kuschelte sich nur eng an Andres Schulter und schloß für einen Moment die Augen. Auf Andres Gesicht breitete sich ein leises, aber sehr warmes Lächeln aus. Mit einer ganz selbstverständlichen Bewegung legte er den Arm um die Schulter des Mädchens und hielt sie fest, und erst in diesem Moment begriff Mike wirklich, was Malcolm gemeint hatte, als er sagte, André könne ja schon einmal zu seinen Freunden gehen.
André war von allen Besatzungsmitgliedern der NAUTILUS – sah man einmal von Singh ab, der ohnehin nur sprach, wenn es unumgänglich war – vielleicht das schweigsamste. Mike hatte sich darüber niemals Gedanken gemacht, sondern es als ganz selbstverständlich hingenommen, aber nun fragte er sich, ob André eigentlich wirklich glücklich gewesen war während all der Monate, die sie sich an Bord der NAUTILUS befanden. Jetzt war er es, das hätte selbst ein Blinder gesehen. Und Sarah auch. Die beiden mußten sich sehr gerne haben.
Der Gedanke gab Mike einen tiefen, schmerzhaften Stich. Es war nicht etwa Eifersucht oder Neid – er gönnte den beiden ihr Glück, und er freute sich für André, der sich in Sarahs Nähe so offensichtlich wohl fühlte. Aber zugleich dachte er auch an Serena, für die er dasselbe empfand wie André für Malcolms Tochter, auch wenn er sich das bisher nicht hatte eingestehen wollen, und plötzlich war es ihm fast unerträglich, die beiden weiter anzusehen. Mit einem plötzlichen Ruck stand er auf und fragte in ungeduldigem Ton: »Wie lange wollen wir eigentlich noch hier herumsitzen und die Zeit vertrödeln? Ich will jetzt zu Serena.«
»Das geht nicht«, antwortete Juan. »Malcolm will –«
»– sowieso zu ihr«, ertönte Malcolms Stimme von der Tür her. »Ich muß mit Denholm reden, und wahrscheinlich ist er wieder bei ihr.«
Malcolm, Trautman und dann auch Singh betraten das Zimmer. Mike drehte sich zu ihnen herum.
»Dann begleite ich dich«, sagte er zu Malcolm.
»Das ist vielleicht keine so gute Idee«, sagte Trautman, aber Malcolm unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. »Warum nicht? Ich habe nichts dagegen. Ihr könnte alle mitkommen, wenn ihr möchtet.«
»Nein«, sagte Trautman. »Ich bin… ein wenig müde.
Ich würde am liebsten zurück ins Haus auf der Klippe gehen. Was ist mit euch?«
Die Frage galt Juan, Ben und Chris, die einhellig nickten. Nur André fügte hinzu: »Ich bleibe noch hier, wenn ich darf. Ich komme dann später zusammen mit Mike nach.«
»Ihr müßt nicht zurück dorthin«, sagte Malcolm. »Das Haus ist nur für Neuankömmlinge gedacht. Ihr könnt hier in der Stadt bleiben, gleich jetzt, wenn ihr wollt.« »Vielleicht… später«, antwortete Trautman. »Morgen oder übermorgen. Aber wir brauchen noch ein paar Tage, denke ich.«
Malcolm wirkte enttäuscht, versuchte aber nicht noch einmal, Trautman und die anderen zum Bleiben zu überreden. Auch Mike war überrascht – so gemütlich war die zugige Hütte auf der Klippe nun wieder nicht, daß er besonders wild darauf gewesen wäre, noch eine oder zwei weitere Nächte dort zu verbringen. Erneut hatte er das Gefühl, daß mit Trautman und den anderen irgend etwas nicht stimmte. Daß sie ihm etwas verheimlichten. Aber er schob den Gedanken auch diesmal beiseite. Allein die Aussicht, nun endlich mit Serena sprechen zu können, hob seine Laune bereits wieder merklich. Er war sicher, nun mit ein paar Worten das Mißverständnis von gestern aus der Welt schaffen zu können.
Mike hatte ganz automatisch damit gerechnet, daß Singh ihm folgen würde, denn der Inder ließ ihn normalerweise keinen Schritt tun, ohne ihn zu begleiten – was Mike manchmal ziemlich auf die Nerven ging, aber der Sikh nahm seine Aufgabe als Leibwächter nun einmal ernst. Aber zu seiner Überraschung blieb auch Singh bei Trautman und den anderen zurück. Mike war es allerdings nur recht. Was er mit Serena zu besprechen hatte, das ging auch den Inder nichts an. Aber er wunderte sich doch ein bißchen über den plötzlichen Sinneswandel seines Leibwächters.
Serena bewohnte eines der größten Gebäude der Stadt, das sich nahe des Waldrandes am gegenüberliegenden Rand der Lichtung erhob. Zwei mit altertümlichen Vorderladern bewaffnete Männer hielten vor der Tür Wache, traten aber beiseite, als Malcolm und Mike sich näherten. Dabei zögerten sie einen winzigen Moment, gerade lange genug, um Mike merken zu lassen, daß sie nicht ganz sicher waren, ob sie sie nun passieren lassen sollten oder nicht.
Im Inneren des Gebäudes war es so dunkel, daß er im ersten Moment kaum etwas sah. Dafür hörte er sofort die aufgeregten Stimmen von zwei oder drei Männern, die offenbar miteinander stritten. Bevor er jedoch auch nur ein Wort verstehen konnte, flitzte ein schwarzer Schatten auf ihn zu und sprang ihn mit solcher Wucht an, daß er rückwärts taumelte und wahrscheinlich gestürzt wäre, hätte Malcolm nicht schnell die Hand ausgestreckt und ihn gehalten. Mike griff instinktiv zu und hielt das schwarze Fellbündel fest, das sich mit spitzen Klauen in seine Brust gekrallt hatte – und schnurrend den Kopf an seinem Gesicht rieb.
»Astaroth!« keuchte er. »Würdest du… freundlicherweise… die Krallen… aus meiner Haut nehmen?«
Der Kater gehorchte allerdings nicht sofort, und er machte auch keine Anstalten, von Mikes Arm herunterzuspringen, sondern kuschelte sich ganz im Gegenteil gemächlich in seiner Armbeuge zusammen.
Schön, dich endlich wiederzusehen,sagte Astaroths lautlose Stimme in Mikes Gedanken.Ich habe schon
gedacht, du kommst gar nicht mehr.
Mike war ziemlich überrascht. Daß Astaroth ihn mochte, war kein Geheimnis – aber der Kater war normalerweise viel zu stolz, um sich seine Gefühle – noch dazu für einen Menschen! – so deutlich anmerken zu lassen.
»Stimmt irgendwas nicht?« fragte Mike.
Astaroth blickte ihn aus seinem einzigen Auge scharf an.Da freut man sich, dich wiederzusehen, und du witterst gleich wieder Lug und Trug,sagte er beleidigt.Typisch Mensch! Aber was habe ich eigentlich erwartet?
Mike grinste flüchtig. Er war wohl doch etwas zu mißtrauisch gewesen. Das war ganz der alte, knurrige Astaroth, wie er ihn kannte und mochte. Mit einem Unterschied: Der Kater machte auch jetzt keine Anstalten, wieder zu Boden zu springen, sondern drehte sich auf den Rücken und begann wohlig zu schnurren, so daß Mike ihn wie ein Baby in der Armbeuge trug, als er Malcolm folgte, der mittlerweile weitergegangen war.
Er kam jedoch nur einen Schritt weit, denn er gewahrte abermals eine Bewegung aus den Augenwinkeln und blieb wieder stehen.
Mike riß überrascht die Augen auf, als er sah, was da vor ihm aufgetaucht war.
Es war eine Katze, ein wenig kleiner als Astaroth und von viel schlankerem Wuchs. Ihr Fell war etwas länger als das einer normalen Katze und so flauschig, daß sich in ihrer Ahnenreihe wohl irgendwo eine Angorakatze verbergen mußte. Sie war schwarzweiß gemustert, und ihr Gesicht erinnerte an das eines Harlekins: weiß mit schwarz umrandeten Augen und einem schwarzen Fleck auf dem Kinn. Sie schien von Mikes Anblick ebenso überrascht zu sein wie er von ihrem, denn sie blieb mitten in der Bewegung stehen und wich dann einen Schritt zurück. Ihr Schwanz bewegte sich nervös.
»Hallo!« sagte Mike überrascht. »Wer bist du denn?« Er ließ sich in die Hocke sinken und streckte die freie Hand nach der Katze aus, aber diese wich einen weiteren Schritt vor ihm zurück. Der Blick ihrer großen, leuchtendgrünen Augen verfolgte mißtrauisch jede von Mikes Bewegungen.
Jedenfalls war es das, was er im ersten Moment glaubte – bis ihm klar wurde, daß die Katze in Wahrheit wohl eher Astaroth anstarrte, nicht ihn. »Ihr beide habt euch wohl schon angefreundet, wie?« fragte er lächelnd. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Kleine. Astaroth und ich sind Freunde, weißt du?«
Er streckte wieder die Hand nach der Katze aus, aber sie reagierte darauf nur mit einem warnenden Fauchen.
»He!« sagte Mike. »Was ist los? Du fürchtest dich doch nicht etwa vor mir?«
Sag mal – sehe ich das richtig, daß du dich gerade mit einer Katze unterhältst?fragte Astaroth spöttisch.Anscheinend hast du doch mehr abbekommen, als ich dachte.
Mike warf dem Kater, den er auf dem Arm hatte und der sich darüber mokierte, daß er sich mit einer Katze unterhielt, einen ärgerlichen Blick zu, stand aber hastig auf und ging weiter. Er sah aus den
Augenwinkeln, daß die schwarzweiße Katze ihm folgte, konzentrierte sich aber wieder auf die Stimmen, die aus dem Raum vor ihm drangen. Sie hatten bei Malcolms Eintreten nur einen Moment gestockt, sprachen aber jetzt noch lauter weiter. Und was Mike sah, als er ebenfalls den Raum betrat, das ließ ihn jeden Gedanken an den Kater auf der Stelle vergessen. Denholm, Malcolm und zwei weitere Männer standen sich wie Kampfhähne gegenüber. Es sah aus, als würden sie sich jeden Moment aufeinanderstürzen wollen.
»… völlig verrückt!« sagte Denholm gerade. »Die Fischmenschen sind unsere Feinde! Das sind sie schon immer gewesen, solange es Menschen hier gibt! Man kann nicht mit ihnen reden!«
»Und woher willst du das wissen?« fragte Malcolm in kaum weniger scharfem Ton. »Bisher hat es niemand versucht, oder?«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Das einzig verrückte hier ist, den Fischmenschen dazubehalten! Wir müssen ihn freilassen, und zwar auf der Stelle!«
»Damit er mit seinen Brüdern und Schwestern zurückkommt und sie uns angreifen?« gab Denholm zornig zurück. »Das heute morgen am Strand –«
»War eine riesige Dummheit«, unterbrach ihn Malcolm. Er deutete auf einen der Männer, die neben Denholm standen. »Du solltestihnbestrafen! Wir leben seit Jahren in Frieden mit den Fischmenschen. Das wird sich jetzt vielleicht ändern, nur weil dieser Hitzkopf geglaubt hat, den Helden spielen zu müssen!«
»Wir haben uns nur gewehrt!« verteidigte sich der Mann.
»Gewehrt?« Malcolm lachte. »Wer soll das glauben? Zwölf Männer gegen drei Fischmenschen, das nenne ich nicht gewehrt! Sie haben euch ja nicht einmal angegriffen!«
»Natürlich haben sie das!« protestierte der andere. »Sie sind plötzlich aus dem Meer aufgetaucht –«