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ke drehte sich herum.
Er konnte spüren, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.
Er hatte sich nicht getäuscht – die Geräusche, die er gehört hatte, waren die des anlegenden Bootes und seiner Insassen gewesen, die auf die NAUTILUS übergesetzt hatten. Aber es waren nicht Singh und André, die gekommen waren.
Unter der Tür stand Serena.
Sie lächelte, aber es war ein Lächeln, das Mike einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. In der rechten Hand, die sie in Trautmans Richtung ausgestreckt hatte, hielt sie etwas Kleines, Schimmerndes.
»Was… was willst du denn hier?« fragte Ben überrascht.
Serena ignorierte ihn und kam langsam näher. »Ich habe euch doch gesagt, daß das hier einmalmeinSchiff war«, sagte sie spöttisch. »Und ich kenne mein Eigentum. Ohne diesen Steuerkristall fährt das Schiff nirgendwohin, wußtet ihr das etwa nicht?«
Mike erkannte nun, was Serena in der Hand hielt. Es war tatsächlich eine Art Kristall, wenn auch von sehr sonderbarer Form. In seinem Inneren pulsierte ein schwaches, bläuliches Licht. Es sah fast aus, als hielte Serena ein winziges, schlagendes Herz in der Hand.
»Nein«, antwortete Ben. Seine Stimme klang jetzt trotzig. »Aber vielen Dank, daß du es uns vorbeibringst.«
Er trat von seinem Platz neben Trautman herunter und ging mit energischen Schritten auf Serena zu. Das Mädchen blieb stehen und blickte ihn eisig an, und Ben stockte plötzlich im Schritt.
»Ihr wolltet also fliehen«, sagte Serena. In ihrer Stimme lag ein harter Klang. »Habt ihr wirklich gedacht, ich merke es nicht? Ihr müßt noch dümmer sein, als ich geglaubt habe!«
»Nicht annähernd so dumm wie du«, grollte Ben. Er gab sich einen sichtlichen Ruck und trat herausfordernd auf Serena zu. »Gib den Kristall her. Vielleicht lassen wir dich dann sogar laufen.« »Ben!« sagte Trautman scharf.
Aber seine Warnung kam zu spät. Serena schloß die Faust um den Kristall, als Ben danach greifen wollte, und im gleichen Augenblick wurde Ben Wie von einer unsichtbaren Hand ergriffen und mit solcher Wucht quer durch den Salon geschleudert, daß er gegen die Wand prallte und hilflos zu Boden sackte. Serena würdigte ihn nicht einmal eines Blickes, sondern ging auf Trautman zu. Ihre Augen schienen zu brennen.
»Ihr Narren«, fuhr sie fort. »Dabei hättet ihr vielleicht sogar wirklich eine Chance gehabt, hättet ihr diese dumme Katze nicht zurückgeschickt.«
Also hatte Astaroth sie doch verraten, dachte Mike. Er war sehr enttäuscht. Er hatte dem Kater getraut.
Serena blieb stehen und wandte ihre Aufmerksamkeit nun ihm zu. Ein spöttisches Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Du begreifst anscheinend noch schwerer, als ich dachte«, sagte sie. »Wenn es dich beruhigt – Astaroth hätte sich eher das Fell abziehen lassen, ehe er euch verraten hätte. Ich habe einfach seine Gedanken gelesen, weißt du?«
Mike starrte sie betroffen an. Natürlich, dachte er. Warum kamen sie eigentlich immer erst zum Schluß auf das Nächstliegende? Serena konnte Astaroths Gedanken ebenso mühelos lesen wie ihre. Er tat dem Kater im stillen Abbitte dafür, daß er ihn verdächtigt hatte, und Serena mußte wohl auch diesen Gedanken lesen, denn der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde noch geringschätziger.
»Genug jetzt«, sagte sie. »Mit diesem verräterischen Katzenvieh beschäftige ich mich später. Jetzt zu euch.« Sie warf einen kalten Blick in die Runde. »Kommt ihr freiwillig mit zurück, oder muß ich euch zwingen?« Einen Moment lang war Mike ernsthaft in Versuchung, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen. Immerhin waren sie zu fünft, während Serena allein gekommen zu sein schien, soweit er erkennen konnte. Aber dann blickte er zu Ben hinüber, der sich stöhnend wieder aufrichtete, unverletzt, aber benommen, und er begriff, wie sinnlos es war.
»Stimmt«, sagte Serena abfällig. »Ebenso sinnlos wie diese Flucht. Was habt ihr eigentlich gedacht, wie weit ihr kommt?«
»Was hast du mit André und Singh gemacht?« fragte Mike anstelle einer Antwort.
»Keine Angst«, antwortete Serena. »Sie sind an einem Ort, an dem sie keinen Schaden mehr anrichten können. Aber ihnen ist nichts geschehen. Das könnte sich allerdings ändern, wenn ihr weiter so unvernünftig seid. Also?«
»Geh zum Teufel!« stöhnte Ben. »Lieber schwimme ich nach Hause, ehe ich mich dir ergebe!« »Gar keine schlechte Idee«, antwortete Serena. »Du –« »Genug!« unterbrach sie Trautman. »Wir kommen mit zurück. Du hast gewonnen.«
Wie sich zeigte, hatte Serena wohl doch nicht ausschließlich auf ihre magischen Kräfte vertraut, denn sie war nicht allein gekommen. Draußen auf dem Gang warteten vier Bewaffnete, und ein weiteres halbes Dutzend Männer hatte auf dem Deck der NAUTILUS Aufstellung genommen und geleitete sie zu dem Ruderboot, das neben dem Schiff angelegt hatte. Keiner von ihnen sprach, während sie die Strickleiter hinunterkletterten und sich im Heck des Bootes versammelten, aber Mike spürte auch so, wie wenig den Männern das gefiel, was sie tun mußten. Serena gebot vielleicht im Moment über eine kleine Armee, aber es war keine, die ihrgernegehorchte. Trautman hatte recht – früher oder später würde sie begreifen müssen, daß sie diesem Volk nicht einfach ihren Willen aufzwingen konnte. Aber Mike begann zu fürchten, daß es dann vielleicht zu spät war. Irgend etwas Schreckliches würde geschehen, das spürte er einfach.
Und seine düstere Vorahnung sollte sich nur zu schnell erfüllen…
Sie erreichten den Strand und gingen noch immer wortlos von Bord. Die Männer, die Serena begleiteten, hielten einen fast respektvollen Abstand zu ihnen, und Mike war plötzlich auch beinahe sicher, daß sie sie nicht gewaltsam hindern würden, abermals zu fliehen. Aber welchen Sinn hätte das schon? Serena besaß noch immer den Kristall, der offensichtlich so etwas wie den Zündschlüssel der NAUTILUS darstellte, und ohne das Schiff hatte eine Flucht keinen Sinn – es gab nichts, wohin sie fliehen konnten.
»Ganz recht«, sagte Serena spöttisch. »Schade, daß du das erst jetzt einsiehst. Du hättest ein nützliches Mitglied unserer Gemeinschaft werden können.« Mike sah sie traurig an. Serenas Worte machten ihn nicht wütend, er empfand plötzlich etwas wie Mitleid mit dem Mädchen, das offensichtlich gar nicht begriff, was es sagte und was es mit seinen Worten und Taten anrichtete.
Serena mußte wohl auch diesen Gedanken gelesen haben, denn sie sah für einen Moment sehr betroffendrein. Dann blitzte es zornig in ihren Augen auf. Aber sie sagte zu Mikes Überraschung nichts mehr, sondern drehte sich mit einem Ruck um und ging weiter.
Sie waren gerade wieder einige Schritte gegangen, als plötzlich am Kopf der kleinen Kolonne Aufregung entstand: Ein Mann war zwischen den Korallenbäumen aufgetaucht und rannte heftig gestikulierend und lautstark Serenas Namen rufend auf sie zu. Mike registrierte erschrocken, daß er aus einer frischen Platzwunde im Gesicht blutete.
»Da stimmt etwas nicht!« sagte Trautman besorgt. »Verdammt, ich wußte, daß etwas passiert!«
Ohne darauf zu achten, ob Serena dies gefiel oder nicht, liefen sie dem Mann entgegen. Mike erkannte ihn jetzt – er hatte zu denen gehört, die den Fischmenschen ins Dorf gebracht hatten. Und er war so erschöpft und außer Atem, daß er keuchend vor Serena auf die Knie niedersank und sekundenlang nach Luft rang, ehe er überhaupt ein verständliches Wort herausbekam.
»… angegriffen«, stammelte er. »Sie haben uns… überfallen, gleich nachdem… Ihr fort wart, Herrin!«
»Was?« Serena machte eine ungeduldige Geste. »Sprich deutlich, Kerl! Was ist passiert?!«
Der arme Bursche duckte sich wie unter einem Hieb und sah Serena angstvoll an. Aber er riß sich zusammen und begann – zwar noch immer stockend, aber jetzt klar verständlich zu erzählen: »Die Fischmenschen, Herrin! Sie… sie haben die Stadt angegriffen, kurz nachdem Ihr weggegangen seid. Wirhaben uns gewehrt, so gut wir konnten, aber es waren zu viele, und die Überraschung war auf ihrer Seite! Viele von uns sind… verletzt.«
»Die Fischmenschen?!« entfuhr es Serena. »Was haben sie getan? Was wollten sie?«
»Sie haben den Gefangenen befreit«, antwortete der Mann. »Sie kamen von allen Seiten! Es waren bestimmt fünfzig, und sie waren bewaffnet. Wir haben tapfer gekämpft, aber sie –«
»Und ihr habt sie wieder gehen lassen?« unterbrach ihn Serena. »Fünfzig von diesen… diesen Tieren gegen euch alle! Ihr seid mehr als zweihundert! Was seid ihr nur für erbärmliche Feiglinge!«
»Wir konnten nichts tun!« verteidigte sich der Mann. Seine Stimme zitterte noch immer, aber jetzt mehr vor Angst als aus Schwäche. »Sie sind schreckliche Krieger! Jeder von ihnen kämpft mit der Kraft von fünf Männern. Wir haben es versucht, aber Ihr… Ihr müßt mir glauben, daß wir es nicht konnten. Sie haben den Gefangenen befreit und…«
»Ja?« fragte Serena lauernd, als er nicht weitersprach.
Der Mann senkte den Blick. Die Furcht vor dem, was er berichten mußte, war ihm deutlich anzusehen. »Das ist nicht das Schlimmste«, murmelte er schließlich. »Sie… sie haben Malcolms Tochter Sarah mitgenommen. Und den fremden Jungen vom Schiff.«
Die Stadt bot einen chaotischen Anblick. Schon als sie aus dem Wald heraustraten, konnte Mike erkennen, daß die meisten der armseligen Behausungen vollends zerstört waren: Die Dächer waren eingebrochen, bei einigen gar die Wände zerstört, als wäre eine tollwütige Elefantenherde quer über die Lichtung gestampft.
Und auch den Bewohnern des Ortes war es schlecht ergangen. Mike erschrak bis ins Mark, als er sah, wie viele der Männer und Frauen verwundet waren – sie hockten am Boden und hielten sich die Köpfe, manche trugen blutige Verbände um Arme, Beine oder Schädel, und es gab kaum ein Haus, aus dem nicht zornige Stimmen oder Wehklagen zu ihnen herausdrangen.
Mit weit ausgreifenden Schritten, so daß Trautman und die anderen Mühe hatten, mit ihm mitzuhalten, rannte Mike quer über die Lichtung auf Malcolms Haus zu. Der Anblick, den es bot, ließ sein Herz einen erschrockenen Sprung in seiner Brust machen, denn es war zweifelsfrei klar, daß hier das Zentrum der Schlacht gewesen sein mußte. Das Gebäude, das noch am ehesten an ein richtiges Haus erinnert hatte, war völlig verwüstet. Drei oder vier Wände waren niedergebrochen, und zwischen den Trümmern sahendie traurigen Überreste der zerstörten Einrichtung hervor. Malcolms Frau stand mit leerem Gesicht dort, wo einmal die Tür gewesen war, und hielt die Scherben eines Tonkrugs in den Händen, und Malcolm selbst stand zusammen mit Denholm und einigen anderen Männern nur ein paar Schritte abseits. Einige von ihnen trugen Gewehre und Schwerter bei sich, andere nur Knüppel oder rostige Messer, aber alle waren bewaffnet. Und fast alle waren verletzt.
»Malcolm!« rief Mike schon von weitem. »Was ist hier geschehen? Wo ist André?«
Der Angesprochene drehte sich mit einer müde wirkenden Bewegung zu ihm herum. Trauer, Schmerz und verhaltener Zorn standen in seinem Gesicht geschrieben, aber er gab Mike keine Antwort.
Im nächsten Augenblick erschien Serena an Mikes Seite und fragte in befehlendem Ton: »Stimmt es, daß die Fischmenschen deine Tochter entführt haben?«
Malcolm schwieg noch immer, so daß Denholm schließlich an seiner Stelle antwortete: »Ja, Serena. Sie sind aufgetaucht, kaum daß du gegangen bist. Wir konnten nichts gegen sie ausrichten.«
Serena wurde blaß, sei es, daß ihr die respektlose Anrede aufgefallen war, die Denholm plötzlich benutzte, sei es, daß ihr erst jetzt richtig bewußt wurde, wie vernichtend die Niederlage des Volkes gewesen war. Mike konnte sehen, wie sie dazu ansetzte, Denholm eine scharfe Erwiderung zu geben, doch dieser kam ihr zuvor. »Ich glaube, sie haben im Wald versteckt abgewartet, bis du fort warst. Oder der Gefangene hat sie auf irgendeine Weise verständigt. Der Angriff war zu gut vorbereitet, als daß es Zufall gewesen sein kann.« Er schloß die Augen und seufzte tief. »Wir hatten keine Chance. Sie waren über uns, ehe wir auch nur richtig begriffen, was geschah.«
»Hat es… Tote gegeben?« fragte Juan leise.
Denholm verneinte. »Aber viele sind verletzt, und es ist alles zerstört.« Seine Stimme schwankte, und für einen Moment schien er mit den Tränen zu kämpfen.