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Von Trautman,antwortete Astaroth ungerührt.Ich habe seine Gedanken gelesen.
Mike gab auf. Es hatte sehr wenig Sinn, mit einer Katze zu diskutieren. Das war schon bei einer ganz normalen Katze ein fast aussichtsloses Unterfangen. Bei Astaroth bedeutete es reine Zeitverschwendung. Er wandte sich Serena zu.
Das Mädchen lag völlig reglos da, so wie es die ganze Zeit über dagelegen hatte – die Woche, die vergangen war, seit sie sie an Bord der NAUTILUS gebracht hatten, und auch die ungezählten Jahrhunderte zuvor, die sie schlafend in ihrer Kuppel auf dem Meeresgrund verbracht hatte. Er dachte wieder daran zurück, wie sie Serena in einem gläsernen Sarg schlafend gefunden hatten, und er fragte sich, ob es wirklich Zufall war, daß ihn das Bild so an das Märchen von Dornröschen erinnerte.
Vielleicht ist es genau anders herum,sagte Astaroth.Man sagt doch, daß jede Legende einen wahren Kern hat, oder? Denk mal darüber nach.Dann fügte er hinzu:Entschuldige.
Mike sah den Kater zwar böse an, aber er war wirklich verärgert. Es dauerte eben eine Weile, bis man sich an die Tatsache gewöhnt hatte, in der Gesellschaft eines Wesens zu sein, das jeden Gedanken so deutlich vernahm wie ein laut ausgesprochenes Wort. Mike lächelte dem Kater zu und legte Serenas Hand behutsam auf das Bett zurück. Sie reagierte auch darauf nicht, nur die Augen hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich leicht, wie bei einem Menschen, der einen besonders intensiven Traum hat. Mike fragte sich, ob Serena träumte? Und wenn ja, was?
Dastut sie,sagte Astaroth.Oder was glaubst du sonst, woher der Sturm kommt, vor dem ihr seit einer Woche davonzurennen versucht?
Das war die Antwort auf eine andere Frage, die sich Mike insgeheim auch schon gestellt hatte, und diese Antwort führte zu einem schrecklichen Gedanken:
»Willst du damit sagen, daß sie die ganze Zeit über geträumt hat?« fragte er verstört. »Die ganzen Jahre? «
Darauf antwortete der Kater nicht. Aber sein Schweigen war Antwort genug, und das tiefe Entsetzen, das von Mike Besitz ergriffen hatte, wurde noch stärker.
Er war erleichtert, als in diesem Moment an der Tür geklopft wurde und Singh, der hünenhafte SikhKrieger, die Kabine betrat – übrigens ganz wie Mike zuvor, ohne eine Antwort auf sein Klopfen abzuwarten.
»Herr.« Singh machte eine tiefe Verbeugung. »Trautman bittet Euch, zu ihm in den Salon zu kommen.« Er warf einen nervösen Blick auf das Bett, und Mike war nicht ganz sicher, wem er galt: dem Mädchen oder seinem einäugigen schwarzen Beschützer. »Ich bleibe so lange hier und vertrete Euch.«
Dasist nicht nötig,sagte Astaroths Stimme in Mikes Gedanken.Ich passe auf sie auf. Sie wird nicht aufwachen.
Mike stand auf. »Ich komme«, sagte er. »Und vergiß bitte denHerrn.«Den letzten Satz hatte er rein automatisch hinzugefügt. Seit der Sikh in sein Leben getreten war und sich als sein Leibwächter, Beschützer und Diener vorgestellt hatte, versuchte Mike ihm sein unterwürfiges Benehmen abzugewöhnen; ebenso beharrlich, wie Ghunda Singh all diese Versuche ignorierte.
»Wie Ihr wünscht, Herr«, antwortete Singh mit einer abermaligen Verbeugung. Mike verdrehte die Augen, sparte sich aber jedes weitere Wort, was dieses Thema anging. Statt dessen sagte er: »Du brauchst nicht hierzubleiben. Astaroth paßt schon auf sie auf.«
Singh sagte nichts, aber Mike sah ihm seine Erleichterung deutlich an. Wie allen an Bord – Mike und vielleicht Trautman ausgenommen – waren sowohl der Kater als auch das Mädchen Singh ein wenig unheimlich. Wortlos wartete er, bis Mike die Kabine verlassen hatte, und folgte ihm dann.
Sie gingen die Treppe wieder ein kurzes Stück hinauf und wandten sich dann nach rechts, um in den Salon zu gelangen – ein Wort, hinter dem sich weit mehr verbarg als nur ein gemütlicher Aufenthaltsraum. Das war er auch, aber in ihm befanden sich auch das Steuer und die beiden Pulte mit den kompliziert anmutenden Kontrollinstrumenten der NAUTILUS – eine Unzahl von Schaltern, Hebeln, Skalen, Zeigern und allerlei anderen technischen Gerätschaften, bei deren bloßem Anblick einem schon schwindlig werden konnte. Unter Trautmans Anleitung hatten Mike und die anderen in den letzten Wochen gelernt, einige dieser Geräte zu bedienen, aber das bedeutete nicht, daß sie ihm deshalb weniger unheimlich gewesen wären.
Der Rest des Raumes wurde von einer Anzahl kleiner Tische und Sessel, behaglicher Sofas und Pulte beherrscht, die den Raum tatsächlich zu einem Salon machten, in dem man sich sofort wohl fühlte. Und schließlich war da das gewaltige, runde Fenster, das fast eine ganze Seite des Raumes einnahm. Jetzt war es durch einen schweren Samtvorhang verschlossen, aber wenn er aufgezogen war, bot sich dem Betrachter ein wahrhaft phantastischer Anblick. Durch das Fenster konnte man direkt ins Meer hinaussehen, in die Tiefen einer Welt, die vor ihnen vielleicht noch keines Menschen Auge erblickt hatte. Mike stand manchmal stundenlang hier und betrachtete das fremde, von vielfältigen Lebewesen bevölkerte Universum jenseits des zollstarken Glases.
Heute jedoch schenkte er dem Fenster nicht einmal einen flüchtigen Blick. Trautman und die anderen standen hinter den Instrumentenpulten. Auf Trautmans Gesicht lag ein besorgter Ausdruck.
»Was ist los?« fragte Mike. »Sind wir schon aufgetaucht?«
»Nein«, antwortete Trautman, ohne von seinen Instrumenten aufzublicken. »Und ich fürchte, das werden wir so schnell auch nicht.«
Mike durchquerte den Salon mit raschen Schritten und trat neben ihn. Chris, der jüngste seiner vier Freunde, die es zusammen mit ihm auf die NAUTILUS verschlagen hatte, nickte ihm flüchtig zu, während Ben, Juan und André keinerlei Notiz von ihm zu nehmen schienen. Sie alle starrten ebenso gebannt wie Trautman auf das Instrumentenpult.
»Was ist los?« fragte Mike noch einmal.
Anstelle einer Antwort deutete Ben mit einer Kopfbewegung auf die runde Glasscheibe, der ihrer aller Aufmerksamkeit galt. Das Bild, das in leuchtenden Grüntönen darauf zu sehen war, schien im ersten Augenblick keinen Sinn zu ergeben. Mike und die anderen jedoch konnten es entziffern, nachdem Trautman ihnen die Funktion des Gerätes erklärt hatte – für das übrigens jeder Seefahrer auf der Welt ohne Zögern seine rechte Hand gegeben hätte. Der kreisende Lichtstrahl, der von der Mitte des Schirmes ausging, zeigte die genaue Position und Größe von allem, was sich im Umkreis mehrerer Meilen um die NAUTILUS befand.
Mike zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er den länglichen Lichtfleck sah, der in regelmäßigen Abständen am Rand der Scheibe aufleuchtete und wieder erlosch. Und dann wurde aus seinem Erstaunen jäher Schrecken, als er begriff, wiegroßdas sein mußte, was da als harmloser Lichtpunkt auf dem Schirm erschien. »Und ich dachte, wir wären ihn endlich los«, seufzte Ben. »Dieser Kerl wird allmählich wirklich lästig.«
Seine Worte bezogen sich auf Kapitän Winterfeld, den deutschen Kriegsschiffkommandanten, der sie – und vor allem die NAUTILUS – vom ersten Tag an gejagt hatte. Ihr letztes Zusammentreffen mit ihm lag eine gute Woche zurück, und sie
waren ihm nur mit knapper Not entkommen.
»Du glaubst, das ist Winterfeld?« fragte Mike.
»Wer soll es sonst sein?« Ben schnaubte. Niemand an Bord
mochte Winterfeld. Die meisten hier hatten Angst vor ihm, aber Ben haßte den Deutschen regelrecht. Mike nahm sich nicht zum ersten Mal vor, Ben irgendwann einmal zu fragen, warum er alle Deutschen so sehr verachtete. Aber jetzt war nicht der Moment dafür, und außerdem fuhr Ben bereits fort: »Wir hätten diesen Kerl mitsamt seinem Kahn auf den Meeresgrund schicken sollen, wo er hingehört.«
Mike ersparte sich eine Antwort. Der »Kahn«, von dem Ben sprach, war ein Schlachtschiff mit Dutzenden von Geschützen und einem Rumpf aus zentimeterdickem Stahl. Selbst für ein Schiff wie die NAUTILUS ein Gegner, der ein paar Nummern zu groß war.
»Das ist nicht die LEOPOLD«, sagte Trautman ruhig. Er wirkte sehr angespannt.
Ben blickte ihn zweifelnd an. »Was soll es sonst sein? Das Ding erscheint seit einer Woche immer wieder auf dem Schirm. Es folgt uns, eindeutig. Und außer Winterfeld weiß auf der ganzen Welt niemand, daß es uns überhaupt gibt.«
»Es kann nicht die LEOPOLD sein«, beharrte Trautman. »Es ist groß, aber nicht so groß. Und es ist viel zu schnell. Die LEOPOLD würde nicht einmal die Hälfte dieser Geschwindigkeit erreichen.«
»Soll das heißen, daß es uns einholen kann?« fragte Juan. Trautman sah immer noch nicht auf. »Ich fürchte«, sagte er. Er zöger
te, und als er weitersprach, lag in seiner Stimme ein besorgter
Ton. »Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist schneller als wir. Viel schneller.« Er atmete hörbar ein, hob nun den Blick und sah Mike und die vier anderen der Reihe nach an.
»Und es kommt genau auf uns zu.«
Trautman hatte errechnet, daß der Verfolger ungefähr drei Stunden benötigen würde, um die NAUTILUS einzuholen. Sie hatten einen Teil dieser Zeit mit Mutmaßungen zugebracht, um was es sich bei ihrem unheimlichen Verfolger wohl handeln mochte: angefangen von einem Tier bis zu einem anderen Unterseeboot, mit dem Winterfeld sie jagte – aber hätte er ein solches gehabt, würde er kaum mehr versuchen, die NAUTILUS in seine Gewalt zu bringen. Schließlich hatten sie es aufgegeben.
Nun war die Zeit beinahe um. Mike und die anderen hatten sich vor dem großen Fenster versammelt und blickten gebannt hinaus. Die NAUTILUS war höher gestiegen und befand sich jetzt nur noch fünf oder sechs Meter unter dem Meeresspiegel, hoch genug, daß das Wasser rings um sie herum von blauem Licht durchdrungen war und sie ihren Verfolger wenigstens sehen konnten, wenn er heran war, aber gerade noch tief genug, um nicht von der Gewalt des Sturmes durchgeschüttelt zu werden, der das Meer über ihnen immer noch aufpeitschte.
»Seltsam«, murmelte André. »Wir müßten ihn doch schon sehen.« Er wandte sich zu Trautman um, der hinter den Kontrollinstrumenten stand.
Der weißhaarige Steuermann der NAUTILUS zuckte mit den Schultern. »Es ist jedenfalls ganz nahe. Aber ich kann nicht genau feststellen,wienahe.« Er runzelte die Stirn. »Das ist merkwürdig.«
»Was ist merkwürdig?« fragten Juan und Mike wie aus einem Mund. Sie drehten sich zugleich zu Trautman herum.
»Es… bewegt sich«, antwortete Trautman zögernd.
»Was für eine scharfsinnige Feststellung«, sagte Ben spöttisch. »Täte es das nicht, könnte es uns kaum einholen.«
»Das meine ich nicht«, antwortete Trautman ernst. »Es scheint sich… in sich zu bewegen, fast als…« Er brach ab, schüttelte den Kopf und lachte nervös. »Das ist Unsinn.«
Mike wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte, doch in diesem Moment stieß Ben einen überraschten Schrei aus, und Mike wandte sich schnell zum Fenster. Natürlich glaubte er, Ben hätte ihren Verfolger entdeckt, doch der Schrei des Engländers hatte einen anderen Grund. Sein ausgestreckter Arm wies zur Meeresoberfläche hinauf, und als Mikes Blick ihm folgte, da gelang es auch ihm nicht, einen überraschten Laut zu unterdrücken.
Der Sturm hatte aufgehört. Noch vor wenigen Sekunden hatte das Meer über ihnen gekocht, aber jetzt lag die Wasseroberfläche so glatt wie ein silberner Spiegel über ihnen. Man konnte sogar den Umriß der NAUTILUS erkennen, der sich darauf spiegelte.
»Aber das ist doch unmöglich!« sagte Juan. »So schnellkannsich ein Sturm doch gar nicht legen…« Er fuhr mit einer hastigen Bewegung zu Trautman herum. »Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Trautman. Er machte eine hilflose Geste. »Das Gerät muß defekt sein. Wenn das hier stimmt, dann hätte er uns bereits erreicht. Aber dort draußen ist nichts.«