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»Worauf wartest du?« rief Ben vom Boot aus. Er hatte eines der großen Ruder ergriffen und stemmte es bereits in den Sand, um das Boot ins freie Wasser zu stoßen.
»Fahrt schon vor«, antwortete Mike. »Ich komme nach, sobald ich kann.«
»Was soll das heißen?« Ben ließ das Ruder wieder sinken, und auch Juan und Singh sahen Mike erschrocken an. Einzig Trautman wirkte nicht überrascht. »Wir haben keine Zeit für irgendwelchen Unsinn!«
»Ich gehe und hole André«, antwortete Mike entschlossen. Er deutete auf die Alte Stadt. »Macht die NAUTILUS seetüchtig.
Ihr könnt André und mich dort drüben abholen. Ich werde euch
schon finden.« »Bist du verrückt geworden?« entfuhr es Ben. »Du weißt ja nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben ist!«
»Das werde ich schon herausfinden«, antwortete Mike. Er wandte sich um, lief aber noch nicht los, sondern tauschte einen Blick mit Trautman. Der weißhaarige alte Mann sah sehr besorgt drein, aber Mike las in seinen Augen, daß er nicht versuchen würde, ihn zurückzuhalten. Vielleicht war er der einzige, der spürte, daß Mike tat, was er tun mußte. Er würde es sich nie verzeihen können, wenn sie André jetzt einfach hier zurückließen.
»Ich schätze, ich brauche eine Stunde, um die Stadt zu erreichen«, fuhr er fort. »Gebt mir eine weitere Stunde. Wenn ich bis dahin nicht dort drüben bin, braucht ihr nicht mehr auf mich zu warten.«
Und damit lief er los, so schnell, daß weder Ben noch einem der anderen die Zeit blieb, ihn noch einmal zurückzurufen.
Er kam besser voran, als er gedacht hatte, so daß die Stunde, von der er gesprochen hatte, noch nicht einmal annähernd vorüber war, als er sich der Alten Stadt näherte. Der Weg war zwar weit, aber er blieb auf dem Strand, und er war ein ausdauernder Läufer, so daß er allmählich die Hoffnung zu fassen begann, vielleicht doch noch vor Serena und ihrer Armee anzukommen, um…
Ja, was eigentlich zu tun?
Mike hatte sich die Frage bis zu diesem Zeitpunkt ganz bewußt nicht gestellt, vielleicht, weil er gespürt hatte, daß er die Antwort darauf nicht so einfach finden würde. Aber nun, wo er sich den gewaltigen, einwärts geneigten Mauern der zyklopischen Stadt näherte, mußte er es, ob er wollte oder nicht.
Mikes Mut sank, während er sich vorsichtig an eine der zahllosen Lücken in der Stadtmauer heranschob und hindurchspähte. Von weitem hatte er sie für eine Art Festung gehalten, wuchtig und kompakt, aber nicht viel größer als die Stadt, in der Denholm und das Volk lebten. Aber das stimmte nicht. Die riesige Wand, die sich vor ihm scheinbar bis in den Himmel erhob, war eine Stadtmauer, hinter der sich ein wahres Labyrinth von Häusern, Türmen und sonderbaren, ineinanderverschachtelten Gebäuden erstreckte. Ihr Alter mußte unvorstellbar sein, und die Zeit hatte ihre Spuren darin hinterlassen: Hier gähnte eineÖffnung, durch die die NAUTILUS hätte hindurchfahren können, da ein Riß, der von weitem nur wie eine dünne Linie ausgesehen hatte, aber reichte, ihn bequem passieren zu lassen, dort war ein Loch hineingebrochen, als hätte jemand mit einem gigantischen Hammer auf die Wand eingeschlagen. In die Stadthineinzukommen war nicht das Problem.
Aber wie um alles in der Welt sollte er André in diesem Irrgarten finden? Wenigstens war von den unheimlichen Bewohnern der Stadt nichts zu sehen – die schwarzen Straßen lagen wie ausgestorben vor ihm, nirgends war Bewegung, nirgends Leben. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.
Einen Moment später wurde aus diesem Gefühl Gewißheit,
denn er hörte ein leises Rascheln, und dann tauchte ein schwar
zer, struppiger Schatten neben ihm auf.
»Astaroth!« murmelte Mike überrascht. »Was machst du denn hier?«
Das frage ich mich auch,antwortete der Kater spöttisch.Wahrscheinlich das, was ich in letzter Zeit andauernd tun muß – ich helfe dir aus der Patsche.
Die Situation war zu ernst, als daß Mike Zeit damit verschwendet hätte, auf Astaroths herablassenden Ton einzugehen. Er war erleichtert wie selten zuvor, den Kater zu sehen. »Was ist mit der NAUTILUS?« fragte er. »Haben sie sie flottbekommen?«
Selbstverständlich,antwortete Astaroth.Mit dem Ersatzkristall war es gar kein Problem. Ich soll dirsagen, daß sie in genau einer Stunde hier sind. Serena wird vor Wut explodieren, wenn sie ihr Schiffdavonfahren sieht. Schade, daß ich nicht dabeisein kann, um den Anblick zu genießen.
Mike wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Stadt zu, und erneut machte sich ein Gefühl von Mutlosigkeit in ihm breit. Die Stadt schien jedesmal größer zu werden, wenn er hinsah. Mike schätzte, daß sich in diesem Labyrinth einige zehntausend Menschen verstecken konnten, ohne daß er eine Chance hätte, sie zu finden.
Stimmt,sagte Astaroth in fast fröhlichem Ton.Wenn du mich nicht hättest, wärst du aufgeschmissen – aber das kennen wir ja schon.
»Soll das heißen, du weißt, wo er ist?« fragte Mike.Nein,antwortete Astaroth.Aber ich weiß, wo der Alte ist. Ich
habe die Gedanken der Beklop… na, du weißt schon, gelesen. Und ich verwette mein linkes Auge, daß André und das blonde Menschenjunge auch dort sind.
Astaroth hatte kein linkes Auge, was seinen Worten nicht gerade viel Überzeugungskraft gab, aber Mike war von sich aus schon zu dem gleichen Schluß gekommen wie der Kater. »Und wo?« fragte er.
Es gibt ein großes Gebäude genau im Zentrum der Stadt,erwiderte Astaroth.Es sieht aus wie eine Pyramide. Dort drinnen ist er.Er huschte zwischen Mikes Beinen hindurch und trat durch die Öffnung in der Stadtmauer.Kommst du mit, oder ziehst du es vor, mich allein die ganze Arbeit tun zu lassen?
Mike hätte das in diesem Moment tatsächlich liebend gerne getan. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dem Kater zu folgen. Die bloße Nähe der Stadt erfüllte ihn mit Unbehagen, und der Gedanke, sie zubetreten,mit purer Angst. Von weitem hatte die Stadt unheimlich und düster gewirkt, aber aus der Nähe war sie ein zu Stein gewordener Alptraum. Die vorherrschende Farbe war Schwarz, aber es war ein Schwarz von einer Tiefe, die etwas in ihm zu berühren und zum Absterben zu bringen schien.
Die Architektur war fremd und furchteinflößend. Manche der Gebäude, an denen sie vorüberkamen, sahen beinahe normal aus, andere wiederum waren kaum als Häuser zu erkennen, sondern schienen vielmehr etwasLebendigeszu sein. Die Welt, durch die sie sich bewegten, folgte auch nicht der gewohnten Geometrie. Alle Linien und Winkel stimmten irgendwie nicht, und jeder Fußbreit Boden strahlte ein Gefühl der Fremdartigkeit aus, das Mike schaudern ließ. Diese Stadt war nicht von Menschen errichtet worden, und vor allem: Sie war nichtfürMenschen errichtet worden. Mike begriff plötzlich, warum Denholm und die anderen so weit von ihr entfernt auf der anderen Seite der Bucht lebten. Es hätte gar nichts mit den Fischmenschen zu tun. Sie hätten hier gar nicht leben können, selbst wenn es ihre unheimlichen Bewohner nicht gegeben hätte.
Irgend etwas ist hier. Es macht mir angst.
Plötzlich blieb Mike stehen. Er hatte eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, aber als er sich umdrehte und genauer hinsah, war da nichts.
Was ist?fragte Astaroth alarmiert.
»Nichts«, antwortete Mike. »Ich muß mich… getäuscht haben. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.« »Aber das hättest du ja gespürt, oder?«
Zu seiner nicht geringen Beunruhigung antwortete Astaroth nicht, sondern begann sich nur ebenfalls mißtrauisch umzublikken, so daß Mike schließlich weiterging. Nach ein paar Schritten blieb er wieder stehen und hob die Hand. »Dort!« sagte er. »Das muß die Pyramide sein, von der du gesprochen hast.«
Er deutete auf ein schwarzes, gewaltiges Bauwerk, das sich über den Dächern der Häuser vor ihnen erhobund eigentlich nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Pyramide hatte. Aber obwohl Astaroth nicht auf seine Worte reagierte, wußte Mike, daß dies ihr Ziel war. Das Gebäude strahlte die gleiche Fremdartigkeit und Kälte aus wie die gesamt Stadt, nur viel intensiver. Es bereitete Mike schon Unbehagen, es nur anzusehen.
Das Gefühl wurde stärker, je weiter sie sich der Pyramide und damit dem Zentrum der Stadt näherten. Der Gedanke an sich mochte zwar vollkommen absurd sein, aber Mike war tief in sich immer mehr davon überzeugt, daß diese ganze Stadt irgendwie lebendig und die schwarze Pyramide im Zentrum so etwas wie ihr Herz war.
»Wo sind sie alle?« fragte er nach einer Weile.
Wer?erwiderte Astaroth.
»Die Fischmenschen«, antwortete Mike. »Sieh dich doch um. Diese Stadt ist groß genug für Zehntausende von ihnen. Wo um alles in der Welt sind sie?«
Es hatte nicht damit gerechnet, aber nach ein paar Sekunden antwortete Astaroth:Auf jeden Fall weit weg. Wären sie in der Nähe, würde ich ihre Gedanken spüren. Vielleicht sind sie Serena entgegengegangen.
Mike fuhr erschrocken zusammen. AufdiesenGedanken war er noch gar nicht gekommen – obwohl er an sich nahe lag. Er wollte nicht daran denken, was das bedeuten würde – die Vorstellung, daß vielleicht alles, was Astaroth und er taten, schon vergebens sein könnte, war einfach zu schrecklich.
Noch ein paarmal glaubte Mike, eine Bewegung zu gewahren, und zumindest einmal war er vollkommen sicher, einen Schatten davonhuschen zu sehen, aber sie erreichten die schwarze Pyramide im Zentrum der Stadt unbehelligt, und schließlich lag der Eingang zu dem unheimlichen Gebäude vor ihnen.
Mike zögerte, es zu betreten. Es gab keine Wächter, kein Tor, nicht das mindeste Hindernis – aber schon der bloße Gedanke, einen Fuß in den verzerrten, von Schatten erfüllten Korridor jenseits der Tür zusetzen, erfüllte ihn mit fast körperlicher Übelkeit. Er spürte, daß diese Pyramide so sehr Teil einer fremden, nicht für Menschen geschaffenen Welt war, daß er darin nicht würde existieren können; wenigstens nicht lange, und nicht, ohne einen Preis dafür zu zahlen.
Willst du umkehren?flüsterte Astaroths Stimme in seinen Gedanken.Ich könnte es verstehen. Mir ist auch nicht besonders wohl bei der Vorstellung, dort hineinzugehen.
Einen Moment lang war Mike tatsächlich versucht, genau das zu tun – umzukehren und so weit und so schnell zu laufen, wie er nur konnte. Aber André war dort drinnen, und wenn er schon hier draußen halb verrückt vor Angst und Entsetzen wurde, wie mußte es dann erst seinem Kameraden ergehen, der irgendwo in diesem Alptraum aus Stein und Schwärze gefangengehalten wurde?
Statt zu antworten, trat er mit einem entschlossenen Schritt durch die Tür hindurch. Astaroth folgte ihm, wenn auch zögernd.
Langsam bewegten sie sich durch den Gang, der sich hinter der Tür erstreckte. Mikes Herz klopfte zum Zerspringen. Alle seine Sinne schienen verrückt zu spielen – ihm war gleichzeitig heiß und kalt. Seine Augen schmerzten, und es war ihm unmöglich, irgendeinen Punkt in seiner Umgebung länger als eine Sekunde zu fixieren. Der Gang erstreckte sich vollkommen gerade vor ihnen, und trotzdem behauptete sein Gleichgewichtssinn, daß er bergauf ging; dann wieder hatte er das irrsinnige Gefühl, kopfunter an der Decke entlangzumarschieren… Er durfte nicht zu lange hier drinnen bleiben, das wußte er, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, tatsächlich den Verstand zu verlieren.
Auch sein Zeitgefühl verließ ihn. Seine Logik behauptete, daß sie erst wenige Augenblicke hier drinnen sein konnten, allerhöchstens ein paar Minuten, aber ihm kam es vor, als wären Stunden vergangen, als sie endlich das Ende des Korridores erreichten. Vor ihnen lag eine mächtige Tür aus schwarzem Stein, in die bizarre Bilder und Muster eingraviert waren, deren Anblick Mike schwindeln ließ. Das größte Problem aber war, daß sich der Gang vor dieser Tür gabelte und sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite nach wenigen Schritten vor einer weiteren, ebenso mächtigen Tür endete. Und Mike wagte es nicht, auf gut Glück loszugehen – wenn sie sich hier drinnen verirrten, würden sie nie wieder herausfinden.
»Kannst du sie spüren?« fragte er.