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– Männer, Frauen, aber auch Kinder und Alte. Von den knapp dreihundert Mitgliedern des Volkes waren sicher zweihundertfünfzig vor den Toren der alten Stadt erschienen, um Serena bei ihrem Krieg gegen die Fischmenschen zu unterstützen. Und wie es aussah, waren sie ihr geradewegs in den sicheren Tod gefolgt.
Der Platz vor dem Tor war eine Falle.
Es waren Hunderte und aber Hunderte von Fischmenschen, die Serena und ihrem zusammengewürfelten Heer hier aufgelauert hatten. Der Kampf konnte erst vor kurzem entbrannt sein, aber der Widerstand des Volkes begann schon jetzt zu erlahmen. Dutzende von ihnen lagen bereits reglos auf dem Boden, und dasHäufchen Überlebender wurde unbarmherzig weiter zusammengetrieben. Die Menschen wehrten sichtapfer, mit Schwertern, Gewehren, Messern oder auch einfach nur Knüppeln, aber die Übermacht war einfach zu groß. Wäre Serena nicht gewesen, dann wären sie wahrscheinlich schon im ersten Augenblick einfach überrannt worden.
Das Mädchen stand im Zentrum des kleiner werdenden Kreises Verzweifelter, die den Ansturm der Fischmenschen aufzuhalten versuchten, und sie hatte ihre magischen Kräfte nunmehr vollends entfesselt. Direkt über ihr blitzte und wetterleuchtete es ununterbrochen in der Luft. Serenas Gestalt war von blauen Flammen umgeben. Sie stand da wie ein lebendig gewordener Racheengel, der gekommen war, um einen uralten Kampf zu Ende zu bringen. Ihre Hände spien blaue Funken, und wo immer diese einen der Angreifer trafen, wurde er von den Füßen gerissen und mit fürchterlicher Kraft zu Boden geschleudert.
Und trotzdem bestand am Ausgang des Kampfes nicht der geringste Zweifel. Die Übermacht war zu gewaltig. Mike entdeckte Denholm und auch Malcolm unmittelbar neben Serena. Beide wehrten sich mit verbissener Kraft gegen die Angreifer, denen es immer wieder gelang, den Ring der Verteidiger zu durchbrechen und Serena direkt zu attackieren, aber auch ihre Gegenwehr wurde bereits schwächer.
»Serena! Nein! Hör auf!«schrie Mike. Er rannte verzweifelt auf Serena zu, so schnell er konnte, und ihm wurde dabei nicht einmal bewußt, daß sich die Reihen der Fischmenschen vor ihm teilten. Keines der riesigen Geschöpfe, von denen jedes einzelne in der Lage gewesen wäre, ihn mühelos zu überwältigen, griff ihn an. Und auch Denholms Leute wichen vor ihm zurück, so daß er unbehelligt bis zu Serena vordringen konnte.
»Hört auf!« schrie er immer wieder. »Hört alle auf! Das ist doch Wahnsinn!«
Und etwas Unheimliches geschah. Als wären seine Worte ein Befehl gewesen, gegen den es keinen Widerspruch gab, erlosch der Kampf rings um ihn herum. Die Fischmenschen zogen sich ein Stück von ihren schon fast besiegten Gegnern zurück, und Denholms Krieger ließen ihre Waffen sinken. Es war, als hielte die Schlacht für einen Moment den Atem an.
Auch Serena hatte die Arme gesenkt. Ihre Hände hatten aufgehört, blaues Feuer zu verschleudern, aber ihre Gestalt war noch immer in einen Mantel knisternder, kalter Glut gehüllt. Ihre Augen schienen zu brennen, während sie Mike anstarrte.
»Du bist also immer noch da«, sagte sie hämisch. »Hast du dich endlich entschieden, zu welcher Seite du gehörst? Ich wußte, daß du ein Feigling bist, aber ich habe nicht geglaubt, daß du auch ein Verräter bist!«
»Serena!« Mike blieb zwei Schritte vor dem Mädchen stehen
und rang keuchend nach Luft. »Ihr müßt aufhören!« fuhr er
mühsam fort. »Sie sind nicht eure Feinde!«
»Ach?« Serena lachte böse. Sie deutete auf die reglosen, blutenden Gestalten auf dem Boden. »Und wie nennst du das?«
»Bitte, hör mir zu!« sagte Mike verzweifelt. »Ihr werdet alle sterben, wenn ihr diesen Kampf fortsetzt!«
»Dann sterben wir eben!« antwortete Serena. »Das ist immer noch besser, als Sklaven dieser Bestien zu sein!« »Aber sie sind nicht eure Feinde!« antwortete Mike in beschwörendem Ton. »Sieh doch!«
Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf André und Sarah, die ihm gefolgt waren, jetzt aber in einiger Entfernung stehenblieben. »Sie haben ihnen nichts getan!«
Serena musterte André und Sarah verblüfft, und Malcolm stieß einen Schrei aus, rannte an Mike vorbei und schloß seine Tochter in die Arme.
»Das ist… ein Trick«, sagte Serena. »Ein Köder, damit wir uns ergeben und sie kampflos gewinnen!«
»Nein!« antwortete Mike. »Bitte, Serena, glaub mir. Sie sind nicht eure Feinde. Das sind sie nie gewesen. Das Wesen, das ihr denAltennennt, will nicht euren Tod. Er will nur wiederhaben, was ihm gehört!«
Serena maß ihn mit einem langen, mißtrauischen Blick. Sie sagte nichts, und in ihren Augen glomm noch immer dieses verzehrende Feuer – aber darinnen war auch plötzlich noch etwas anderes, das Mike Mut machte, weiterzusprechen.
»Du hattest recht, als du behauptet hast, daß deine Vorfahren diese Stadt hier errichtet haben«, sagte er. »Aber sie haben
sich dabei einer Kraft bedient, die ihnen nicht gehörte.«
»Unsinn!« widersprach Serena heftig, aber in einem Tonfall, der Mike endgültig davon überzeugte, daß er die Wahrheit sprach.
»Nein, Serena«, widersprach er. »Die magischen Kräfte der Atlanter haben nie ihnen gehört. Sie haben sie gestohlen. Sie haben den Weg in eine andere Welt gefunden und etwas von dort mitgebracht, was ihnen nicht gehörte. Und du weißt, daß es so ist.«
Serena schwieg. Auch die anderen sagten nichts, und ein fast atemloses Schweigen begann sich über dem Platz auszubreiten, der noch vor kurzem vom Lärm der Schlacht und den Schreien der Verletzten und Sterbenden widergehallt hatte.
»Dieser Ort hier ist das Tor in ihre Welt«, fuhr Mike fort, nun leiser, aber noch immer mit erhobener Stimme, so daß seine Worte weithin hörbar waren. »Es ist kein Zufall, daß ihr alle hier seid. Das Wesen, das uns hierhergebracht hat – das euch alle hergebracht hat – hat nach euch gesucht. Nach Menschen wie euch, in denen noch etwas vom Erbe der Atlanter schlummerte.«
Serena schwieg weiter. Der Ausdruck von Haß war aus ihrem Gesicht verschwunden.
»Sie alle sind in irgendeiner Form Nachkommen der alten Atlanter«, fuhr Mike fort. »Deshalb hat die Qualle die Schiffe angegriffen, auf denen sie waren, und sie hierhergebracht. Und deshalb hat sie auch die NAUTILUS angegriffen. Nicht vorher. Nicht in all den Monaten, in denen wir allein an Bord waren, und nicht in all den Jahren, in denen mein Vater auf ihr gefahren ist.
Erst alsduan Bord gekommen bist, hat sie sich auf unsere Spur geheftet. Du weißt, daß es so ist.«
»Und?« sagte Serena trotzig. »Was ändert das?«
»Alles«, antwortete Mike. Er deutete auf Sarah. »Sich sie dir an. Ihr ist nichts geschehen. Er hätte sie töten können, vollkommen mühelos. Aber er hat es nicht getan. Er hat sich nur genommen, was ihm gehört. Mehr will er nicht, und mehr hat er nie gewollt.« Er hob die Stimme noch ein wenig mehr. »Gebt ihm zurück, was ihm gehört, und er wird euch in Frieden gehen lassen, das verspreche ich euch. Er will nicht eure Leben. Er will nur die magische Kraft, die in euch schlummert. Er braucht sie, denn ohne sie kann er nicht leben.«
Mike schwieg eine Sekunde, dann atmete er tief ein und fuhr, wieder leiser, aber jetzt direkt an Serena gewandt, fort: »Und dasselbe gilt für dich. Er wird dir nichts tun. Wenn es dein Tod wäre, den er wollte, hätte er dich längst vernichtet.«
Serena riß die Augen auf. »Du weißt ja nicht, was du da redest!« keuchte sie. »Du verlangst tatsächlich von mir, daß ich… daß ich dort hineingehe und mich diesem… diesemUngeheuerausliefere? Dem Monster, das mein gesamtes Volk ausgelöscht hat?!«
»Aber das hat es nicht, Serena«, sagte Mike sanft. »Es waren die magischen Kräfte deiner Vorfahren, die ihnen am Ende zum Verhängnis wurden. Die Magie, die nicht die ihre war und mit der sie nicht richtig umzugehen verstanden.«
Serena schwieg. In ihrem Gesicht tobte ein Sturm einander widerstrebender Gefühle. Sie zitterte.
»Du weißt, daß ich die Wahrheit sage«, sagte Mike leise. »Du hast es die ganze Zeit über gewußt, nicht wahr? Bitte, Serena! Diese alte Feindschaftmußenden. Geh und gib ihm zurück, was ihm gehört, und all diese Menschen hier werden endlich in Frieden leben können. Du brauchst die Magie nicht. Keiner von uns braucht sie. Sie hat schon einmal zum Untergang eines Volkes geführt. Willst du wirklich, daß es wieder geschieht?«
Serena zitterte immer heftiger. »Nein«, flüsterte sie.
»Aber ich… ich kann nicht. Ich glaube dir nicht.«
Sie mußte in Mikes Gedanken längst gelesen haben, daß er die Wahrheit sagte. Aber Mike verstand auch, warum sie sich noch immer gegen diese Erkenntnis zu wehren versuchte. Niemals zuvor konnte ihr eine Entscheidung so schwer gefallen sein wie diese. »Dann frag ihn.« Mike deutete auf Astaroth. »Er war dabei. Er wird dir bestätigen, daß ich die Wahrheit sage.«
Serena blickte den Kater lange an. Sie rührte sich nicht, und auch Astaroth stand vollkommen reglos da, aber allen war klar, daß zwischen dem Mädchen und dem einäugigen Kater eine stumme Zwiesprache stattfand. Und schließlich drehte sich Serena wieder zu Mike herum und nickte.
»Also gut«, sagte sie. »Ich… gehe. Aber ich habe furchtbare Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Sarah. Sie hatte sich aus der Umarmung ihres Vaters gelöst und kam auf Serena zu. »Ich werde dich begleiten. Er hat mir nichts getan, und er wird auch dir nichts tun. Ich weiß es.« Sie lächelte Serena aufmunternd zu und hielt ihr die ausgestreckte Hand entgegen, und nach einer Sekunde des Zögerns griff Serena danach. Die beiden Mädchen drehten sich Hand in Hand herum und begannen auf die Alte Stadt zuzugehen. Einer der Fischmenschen vertrat ihnen den Weg und streckte die Hand nach Serena aus. Mikes Herz machte einen Sprung in seiner Brust, und ein Gefühl eisigen Entsetztens breitete sich in ihm aus.Hatte er sich getäuscht? Hatte Serena am Ende recht gehabt, und dies alles war nur eine Falle gewesen?Aber da löste sich die gewaltige Hand des Fischmenschen wieder von Serenas Schulter, und das Mädchen trat mit einem hörbaren Seufzen zurück und ließ Sarahs Hand los. »Was –?« begann Mike. »Geht«, sagte Serena. Sie atmete mühsam ein und wiederholte mit erhobener Stimme: »Geht in die Stadt. Alle. Gebt ihm zurück, was ihm gehört. Mike hat recht. Er wird euch nichts zuleide tun.« Aber niemand rührte sich. Hundert Augenpaare starrten Serena an, und schließlich war es wieder Mike, der die entscheidende Frage stellte:
»Und du?«
Serena lächelte matt. »Ich komme nach«, sagte sie. »Ich habe hier noch etwas zu tun.« Sie deutete auf den Fischmenschen und sah Mike dabei fest an. »Er hat es mir gesagt. Keine Sorge. Wir… wir haben seine Kräfte so lange mißbraucht, daß es jetzt auf eine Stunde mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Und vielleicht kann ich sie jetzt zum ersten Mal zum Guten einsetzen.«
Mike glaubte zu verstehen, was Serena meinte. Und nur einen Moment später wandte sie sich um, kniete neben einem der Verletzten nieder und legte ihm die Hand auf die Stirn. Wieder glühten ihre Finger in einem unwirklichen, blauen Licht, aber diesmal war es keine Zerstörung, die sie heraufbeschwor.
Während Das Volk, angeführt von Sarah und ihrem Vater Malcolm, die Stadt betrat und sich auf den Weg zu der schwarzen Pyramide im Zentrum machte, schritt Serena langsam über das Schlachtfeld und nutzte die geliehene Magie einer fremden Welt zum allerletzten Mal. Sie kniete neben jeder reglosen Gestalt nieder, berührte Männer, Frauen, Kinder, aber auch die gefallenen Fischmenschen, und der Strom von Magie, der aus ihren Händen floß, heilte Wunden, löschte den Schmerz und besiegte selbst den Tod.
Und schließlich, nachdem alle Verletzten aufgestanden waren, nachdem alle Wunden aufgehört hatten zu bluten und nachdem die unglaubliche Macht jener fremden, uralten Welt selbst die Toten wieder ins Leben zurückgeholt hatte, wandte sich die letzte Prinzessin von Atlantis um und betrat ebenfalls die Alte Stadt.
Es vergingen noch zwei Wochen, bis die Reparaturen an der NAUTILUS soweit beendet waren, daß sie die Stadt auf dem Meeresgrund ungefährdet wieder verlassen konnten. Zwei Wochen, in denen unglaublich viel geschehen war – Mike kamen sie im Rückblick vor wie zwei Jahre. Nicht nur Serena hatte sich in diesen beiden Wochen verändert. Auch das Leben des Volkes war nicht mehr, was es bisher gewesen war. Und würde es nie mehr sein.