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»Gas«, antwortete Trautman hart. »Das Wasser hat seine chemische Zusammensetzung geändert. Es ist jetzt eine tödliche Säure. Wenn du hineinspringen würdest, würde es dir in ein paar Sekunden das Fleisch von den Knochen ätzen! Außerdem setzt der See ein tödliches Gas frei -wie wir ja gerade mit eigenen Augen gesehen haben.«
»Aber ... aber wie ist denn das möglich?!«, fragte Serena stockend.
»So ungewöhnlich ist das gar nicht«, antwortete Trautman. »So etwas passiert oft, bevor oder nachdem ein Vulkan ausbricht. Es hat schon Hunderte von Toten in solchen Fällen gegeben.« Seine Miene verdüsterte sich. »Wäre es hier nicht so vollkommen windstill, dann wären wir alle jetzt vielleicht auch schon tot. Du hast gesehen, wie schnell das Gas wirkt! Ich begreife nicht, wieso uns Delamere nicht gewarnt hat! Er hätte es sofort sehen müssen!« »Wo ist er überhaupt?«, fragte Serena. »Jacques?« Mike sah sich suchend um, zuckte aber nur mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Wenn er es recht bedachte, hatte er ihn gar nicht mehr gesehen, seit sie den Krater verlassen hatten. Genauer gesagt: Seit sie die Höhle verlassen hatten. »Wie lange wird das andauern?«, fragte Serena und deutete auf den See.
Als Trautman antworten wollte, zitterte der Boden unter ihren Füßen; ganz sacht nur, aber spürbar. Und in der nächsten Sekunde kam auch in die Oberfläche des Sees Bewegung. Wellen kräuselten das Wasser, dann stiegen eine Anzahl faustgroßer, ölig schimmernder Blasen an seine Oberfläche und zerplatzten. Aus ihrem Inneren drang grauer Dunst, der sich mit der trägen Nebelschicht verband, die über dem See schwebte.
Und was das Schlimmste war: Mike spürte eine ganz sanfte, warme Berührung im Gesicht. Wind.
Die Luft war nicht mehr still. Vom Meer her war ein ganz leichter Wind aufgekommen. Der Gasnebel über dem See begann sich zu bewegen. Noch sehr langsam. Der Wind hatte noch nicht genug Kraft, das Gas, das viel schwerer war als Luft, nennenswert zu bewegen, aber wenn er auch nur ein bisschen zunahm, dann würde er die tödlichen grauen Schwaden genau in ihre Richtung treiben!
Trautman hatte die Gefahr wohl im selben Moment begriffen wie er, denn er wandte sich mit einem erschrockenen Laut an Ah'Kal und deutete gleichzeitig zum Krater hinauf. »Wir müssen hier weg!«, keuchte er. »Schnell! Wenn der Wind zunimmt, dann werden wir alle sterben!«
Ah'Kal reagierte im ersten Moment gar nicht. Sekunden vergingen, in denen er nichts tat als dazustehen und aus aufgerissenen Augen auf die grauen Schwaden über dem See zu starren. Seine Lippen zitterten. »Ogdy hat unsere Gebete nicht erhört«, flüsterte er. »Aber warum? Was haben wir falsch gemacht? Warum zürnt Ogdy seinen Kindern?« Mike blickte mit klopfendem Herzen weiter auf den See hinab. Die graue Nebelbank wuchs so schnell, dass man dabei zusehen konnte. Wogende Ausläufer des Nebels griffen wie Schlangenarme mit unzähligen Fingern auf das Ufer hinauf und begannen sich in ihre Richtung zu tasten. Der Wind nahm zu. »Ah'Kal, bitte!«, sagte Trautman eindringlich. »Es sind nicht eure Götter, die euch zürnen. Das da ist nur eine Naturkraft, die außer Kontrolle geraten ist, glaub mir! Ich kann es dir erklären, aber es geht nicht, wenn wir alle tot sind!« Der alte Häuptling sah ihn traurig an. »Warum müsst ihr immer an allem zweifeln?«, fragte er. »Selbst wenn ihr es mit eigenen Augen seht? Was sind die Götter anderes als die Kräfte der Natur?« »Vielleicht hast du sogar Recht«, sagte Serena hastig. »Doch selbst wenn es so ist, kann es nicht der Wille eurer Götter sein, dass ihr einfach aufgebt und auf den Tod wartet! Ogdy hat euch nicht verschont, damit ihr resigniert, sondern damit ihr um euer Leben kämpft!«
Noch einmal zögerte Ah'Kal und sah Serena lange und durchdringend an. Schließlich senkte er den Kopf zu einem schweren, aber entschiedenen Nicken. »Du hast Recht«, sagte er. »Es ist nicht Ogdys Wille, dass wir hier auf den Tod warten. Wäre es das, hätte er uns schon oben am Heiligen See getötet.« »Worauf warten wir dann noch?«, fragte Trautman. »Wir müssen zurück zum Krater! Dort oben kann uns das Gas nicht erreichen!«
Endlich setzten sie sich in Bewegung. Es kam Mike fast absurd vor, dass sie nun denselben Weg wieder hinaufrannten, den sie gerade erst vorsichtig hinunterbalanciert waren. Und auch Ogdy -oder wer auch immer die Regie in diesem Drama führte -schien nicht unbedingt damit einverstanden zu sein. Der Berg zitterte noch immer. Mike war nicht sicher, ob das Zittern wirklich zugenommen hatte oder er es sich nur einbildete, aber er war jetzt vollkommen sicher, ein dumpfes Grollen und Knirschen zu hören, das tief aus dem Schoß der Erde heraufdrang; als zerbrächen dort unten Felsen von der Größe einer Stadt. Oder als versuche etwas, sich mit unwiderstehlicher Gewalt seinen Weg zur Erdoberfläche hinaufzubahnen ...
Mike sah wieder nach Norden. Die beiden Rauchsäulen am Horizont hatten sich nicht verändert. Aber er hatte ja schon mehr als einmal erlebt, wie jäh die Erde wieder beginnen konnte Feuer zu speien. Er fragte sich, was sie tun sollten, wenn der giftige Atem des Sees sie auch dort oben am Krater erreichen sollte oder der zweite Kratersee im Inneren des Berges ebenfalls anfing giftiges Gas zu speien. Wo war nur Jacques? Delamere hätte ihnen vielleicht sagen können, was sie tun mussten um in Sicherheit zu sein. Aber der Vulkanologe war und blieb verschwunden.
Sie erreichten wieder den Gipfel des Vulkans. Mike erschrak, als er in den Krater hinabblickte. Auch das Wasser des zweiten Kratersees schimmerte in einem unheimlichen, giftigen Grün, über dem eine dunstige Nebelschicht hing. Sie war nicht annähernd so dicht wie die unten und sie wuchs auch nicht in so erschreckendem Tempo, aber Mike zweifelte nicht daran, dass sie trotzdem genauso tödlich war. Hier würden sie keinen Schutz finden.
Sein Blick irrte verzweifelt umher. Der Wind hatte weiter zugenommen und trieb den tödlichen Nebel rascher den Berg hinauf. Was sollten sie tun, wenn er tatsächlich bis hierher kam? Das Schicksal des Hundes hatte ihnen deutlich gezeigt, wie schnell das Gas wirkte ...
»Um Gottes willen!«, keuchte Serena plötzlich. »Da! Delamere!«
Ihr ausgestreckter Arm deutete in den Krater hinab, und als Mikes Blick der Geste folgte, stockte auch ihm für einen Moment der Atem.
Jacques war genau in diesem Augenblick aus der Höhle getreten, in der sie vorhin alle gemeinsam Schutz gesucht hatten. Seine Hände und Arme waren bis über die Ellbogen hinauf mit Schlamm verschmiert. Er erstarrte, als er den See sah. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck puren Entsetzens. »Aber natürlich ...«, murmelte Trautman. Er machte eine Bewegung, als wolle er sich mit der Hand auf die Stirn schlagen, führte sie aber nicht zu Ende. »Blauer Ton! Warum habe ich es nicht gleich begriffen?!« »Blauer Ton?«, wunderte sich Mike. »Später!« Trautman winkte ab, bildete mit beiden Händen einen Trichter vor dem Mund und schrie aus Leibeskräften: »Jacques! Kommen Sie her! Schnell! Das Gas kommt den Berg herauf!«
Es war nicht einmal zu erkennen, ob Delamere seine Worte überhaupt hörte oder die Gefahr, in der er schwebte, in diesem Moment von selbst begriff. Auf jeden Fall fuhr er plötzlich herum, stürmte ein paar Schritte den Hang hinauf und wandte sich dann in ihre Richtung.
Der Berg bebte, schüttelte Delamere ab wie ein Hund ein lästiges Insekt und stieß ein unheimliches, knirschendes Grollen aus. Mike behielt nur mit großer Mühe das Gleichgewicht, sah aber, wie Jacques hilflos wieder in den Krater hinunterkugelte und schließlich mit einem gewaltigen Platschen im Wasser landete.
Aber das Wunder geschah: Delamere musste wohl geistesgegenwärtig genug gewesen sein, den Atem anzuhalten, denn er sprang nach kaum einer halben Sekunde wieder auf die Füße und rettete sich mit einem gewaltigen Satz ans Ufer. Seine Hosenbeine qualmten. Das Wasser, das sich in ätzende Säure verwandelt hatte, begann den Stoff aufzulösen und Mike wagte sich gar nicht vorzustellen, wie Jacques' Beine darunter aussahen. Trotzdem rannte Delamere, so schnell er konnte, um den See herum. Seine Beine verschwanden dabei bis über die Knie in grauem Nebel, der nun auch aus diesem See immer schneller emporstieg, aber da das Gas schwerer als Luft war, blieb er von seiner tödlichen Wirkung noch verschont.
»Verschwindet!«, schrie er. »Rettet euch! Der Vulkan bricht aus!«
Wie um seine Worte zu bestätigen, erbebte die Insel in diesem Augenblick unter einem weiteren, noch heftigeren Schlag. Diesmal wurde Mike von den Füßen gerissen und nur Singhs rasches Zugreifen bewahrte ihn davor, zu Delamere in den Krater hinuntergeschleudert zu werden. Das Zittern und Beben des Berges hielt an und das Grollen des erwachenden Vulkans war nun so laut, dass eine Verständigung fast unmöglich wurde.
Unter den Pahuma brach endgültig Panik aus. Niemand musste sie mehr auffordern, sich in Sicherheit zu bringen. Ihre Ergebenheit ihrem Feuergott gegenüber reichte wohl doch nicht so weit, dass sie in aller Ruhe stehen blieben und auf Ogdys Gnade vertrauten. Schreiend und in kopfloser Flucht stürmten sie den jenseitigen Hang des Berges hinunter und Delameres Leute schlossen sich ihnen an. Nur Delameres Frau, Mike und die drei anderen blieben noch für einen Moment zurück.
»Rennt!«, brüllte Delamere. »Bringt euch in Sicherheit! Ich schaffe es schon!«
Mike bezweifelte das. Der See hinter Jacques brodelte und
zischte mittlerweile wie ein Kochtopf, der zu lange auf dem Herd gestanden hatte, und überall im Fels des Kraterinneren entstanden plötzlich Risse, aus denen Geysire aus kochendem Dampf quollen. Delamere hatte Recht: Der Vulkan brach aus. »Weg hier!«, schrie Trautman. »Schnell!« Singh und Serena wandten sich auch sofort um, aber Delameres Frau rührte sich nicht von der Stelle, sondern machte sogar Anstalten, in den Krater hinunter zu ihrem Mann zu klettern. Trautman riss sie gewaltsam zurück, brauchte aber trotzdem noch Singhs Hilfe, um sie dazu zu bewegen, den Kraterrand zu verlassen. Serena und Mike schlossen sich ihnen an, aber nicht, ohne noch einen letzten Blick in den Krater hinunter geworfen zu haben. Beinahe wünschte sich Mike, es nicht getan zu haben. Der See brodelte und zischte immer heftiger und tief am Grunde des giftgrünen Wassers war ein neues, grellrotes Licht erschienen, das rasend schnell an Intensität zunahm. Delamere hatte bereits die Hälfte des Hanges erklommen, hatte aber auf dem immer heftiger zitternden Boden mehr und mehr Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Mike kam sich fast vor wie ein Verräter, ihn einfach im Stich zu lassen. Aber es gab nichts, was sie für ihn tun konnten. So schnell, wie es der immer heftiger zitternde Boden zuließ, stürmten sie den lavabedeckten Hang hinunter. Das unheimliche Grollen wurde immer lauter und nun mischte sich noch ein immer lauter und schriller werdendes Pfeifen hinein, das ihre Ohren marterte. Plötzlich wurde das Licht rot. Ein ungeheueres Donnern und Krachen erklang und Mike konnte regelrecht spüren, wie die gewaltige Spannung des Berges unter ihren Füßen wich. Im Laufen drehte er den Kopf und sah zum
Gipfel
zurück. Er sollte das Bild nie wieder im Leben wirklich vergessen.
Das Gas schien den Vulkankrater mittlerweile vollends auszufüllen und quoll in trägen, schweren Schwaden über seinen Rand, wie Dampf aus einem überquellendem Kochtopf. Wie durch ein Wunder jedoch hatte es Delamere geschafft: Er erschien in genau diesem Moment auf dem Kraterrand, fast bis zu den Hüften in brodelnden Gaswolken watend, aber noch am Leben.
Und dann glühte der Krater hinter ihm in grellem, intensiv rotem Licht auf. Eine gigantische Lavasäule schoss brüllend in den Himmel hinauf. Für den Bruchteil einer Sekunde war Delameres Gestalt noch als schwarze Silhouette vor dem grellglühenden Hintergrund zu sehen, und dann war er einfach verschwunden. Immer mehr und mehr Lava raste über ihnen in den Himmel und statt Gas quollen nun brodelnde Flammen über den Kraterrand. Mike blickte entsetzt in den Himmel. Die Lava schoss mit der Geschwindigkeit einer Dampflokomotive nach oben, aber sie würde nicht lange dort bleiben. Was sie bisher noch gerettet hatte, war die schiere Wucht des Ausbruchs, der die Lavabrocken weit über sie hinwegschleuderte, sodass die ersten Trümmer fast am Fuße des Berges niederkrachten, so weit sie nicht noch weiter geschleudert wurden und weit draußen im Meer einschlugen. Die Kraft der Eruption nahm immer noch zu. Der Lärm war unvorstellbar und der Boden zitterte und wankte so heftig, dass es Mike immer schwerer fiel, sich auf den Beinen zu halten. Zwei oder drei Schritte unter ihnen stürmten die Insulaner dahin. Immer wieder stürzte einer von ihnen, rappelte sich hoch oder schlitterte sich hilflos überschlagend ein gutes Stück weiter talwärts. Wie durch ein Wunder war noch immer niemand ernsthaft zu Schaden gekommen, aber Mike war klar, dass diese Glückssträhne nicht mehr ewig anhalten konnte. Und selbst wenn -er fragte sich voller neuem, plötzlichem Schrecken, wohin sie sich eigentlich wenden wollten? Der Vulkan grenzte an dieser Seite der Insel unmittelbar ans Meer. Es gab nichts, wohin sie flüchten konnten. Trotzdem rannten sie weiter, so schnell sie es wagten, um auf dem abschüssigen Grund nicht den Halt zu verlieren. Serena stürmte unmittelbar neben Mike einher, während Trautman und Singh ein paar Schritte zurückgefallen waren um Delameres Frau zu stützen. Sie versuchte jetzt zwar nicht mehr sich loszureißen und zum Krater zurückzulaufen, doch dafür schien sämtliche Kraft aus ihr gewichen zu sein. Trautman und Singh mussten sie richtig vorwärts ziehen.
Hinter ihm zerriss eine neue, noch gewaltigere Detonation den Berg. Mike sah nach oben und schrie erneut vor Schreck auf, als er sah, dass ein ganzer Teil des Kraterrandes zusammengebrochen war. Zerborstene, rot und weiß glühende Felstrümmer begannen hinter ihnen den Berg herabzustürzen, manche langsam und in großen, dröhnenden Lawinen, andere so schnell wie Geschosse, sodass es kaum noch möglich schien, ihren Kurs vorauszuberechnen und ihnen auszuweichen. Einer der rot glühenden Brocken verfehlte Mike so knapp, dass ihn die Hitze aufschreien ließ, ein anderer streifte Serenas Kleid und setzte seinen Saum in Brand, obwohl er ihn kaum berührte. Die Pahuma spritzten in Panik auseinander, als die tödliche Steinlawine in ihre Reihen fuhr. Mike konnte nicht erkennen, ob es auch diesmal allen gelang, sich noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Über ihnen begann sich der Kraterrand in immer rascherem Tempo aufzulösen. Der größte Teil der Felstrümmer rutschte nach rechts und links ab und würde nicht einmal in ihre Nähe kommen, aber schon drohte die nächste Gefahr: Der Vulkan hörte auf Feuer und kochende Lava in die Luft zu schleudern, doch durch die Lücke im Kraterrand schob sich jetzt eine träge, grellglühende Woge aus geschmolzenem Gestein. Sie schien sich nur langsam zu bewegen, aber Mike wusste, wie sehr dieser Eindruck täuschte. Wenn die Lava erst einmal mit ganzer Kraft aus dem Krater herausbrach, würde sie rasch schneller werden und schließlich mit einem Tempo von zwei-oder dreihundert Kilometern zu Tal rasen.
Es wurde immer dunkler und der Lärm nahm immer noch weiter zu, auch wenn Mike das noch vor wenigen Sekunden für unmöglich gehalten hätte. Der Himmel bezog sich so schnell mit schwarzen, brodelnden Wolken, als hätte jemand die Sonne abgeschaltet. Das einzige Licht kam von dem Flammen speienden Höllenschlund hinter ihnen, sodass Mike schon nach Sekunden das Gefühl hatte, sich durch einen Albtraum zu bewegen, in dem es nichts als vollkommene Schwärze, aufloderndes grelles Licht und grotesk verzerrte, hüpfende Schatten gab. Glutflüssige, bizarr geformte Finger aus Lava brodelten aus dem zerborstenen Kraterrand und der Boden, über den sie sich bewegten, wurde immer heißer. An einigen Stellen brach der Felsen auf und kochend heißer Dampf oder rot glühendes Gestein spritzten heraus. Mike spürte, wie der vermeintlich so massive Fels unter seinen Schritten zu knirschen begann und dann zerbrach wie eine Eierschale! Ein fast metergroßes Stück des Bodens löste sich in zahllose Bruchstücke auf und darunter kam ein Strom rot glühender, zähflüssiger Lava zum Vorschein. Mike schrie vor Schreck und Schmerz laut auf, warf sich verzweifelt nach vorne und prallte mit Gesicht und Händen auf glühend heißen Stein. Für eine endlose, grauenhafte Zehntelsekunde schwebten seine Füße nur Zentimeter über dem brodelnden Lavastrom.
Im buchstäblich allerletzten Moment beugte sich Serena zu ihm herab, krallte die linke Hand in seine Schulter und die rechte in sein Haar und riss ihn mit solcher Kraft in die Höhe, dass er erneut vor Schmerz schrie, gleichzeitig aber auch auf die Füße stolperte. Sein rechter Schuh brannte. Mike raste weiter, so schnell er konnte, stampfte mit aller Kraft mit dem Fuß auf und schaffte es irgendwie, die Flammen zu ersticken, ehe sie seine Haut erreichen und ihn wirklich verletzen konnten.
Und dann war ihre Flucht vorbei. Sie hatten den Fuß des Berges erreicht und unter ihnen lag nichts mehr als ein zehn Meter tiefer, senkrechter Abgrund und das tobende Meer, das an den Klippen zu weißer Gischt auseinander spritzte. Ein Sprung dort hinunter wäre Selbstmord.
Aber welche Wahl hatten sie schon? Mike sah noch einmal zum Krater hinauf und erkannte, dass genau in diesem Moment das geschah, was er schon die ganze Zeit über befürchtet hatte: Der Kraterrand brach endgültig auseinander und eine gewaltige
Springflut aus fast weißer Lava ergoss sich über die Flanke des Berges. »Springt!«, schrie Mike.
Er wich drei, vier Schritte vom Abgrund zurück, raffte all seinen Mut zusammen und rannte los. Im allerletzten Moment schlug seine Panik doch noch zu und versuchte ihn von seinem Vorhaben abzubringen und wahrscheinlich hätte er wirklich versucht anzuhalten, wäre er nicht viel zu schnell dafür gewesen. Mit einem gewaltigen Satz katapultierte er sich selbst über die Kante, schien für einen unendlich kurzen, grauenhaften Moment reglos in der Luft zu hängen und stürzte dann wie ein Stein in die Tiefe. Eine Sekunde später durchbrach er die Wasseroberfläche mit der Wucht eines fallenden Steines, tauchte meterweit unter und wartete nur darauf, gegen ein Riff oder den felsigen Meeresboden geschleudert zu werden.
Stattdessen wurde er vom Sog der Wellen ergriffen und nach oben und ein gutes Stück von der Klippe weggezogen, ehe er prustend und nach Luft schnappend wieder durch die Wasseroberfläche brach. Rechts und links von ihm spritzte das Wasser auf, als die anderen seinem Beispiel folgten und das Risiko in dem tosenden Meer zu ertrinken oder gegen die Klippe geschleudert zu werden dem sicheren Tod in der Lava vorzogen.
Nach kurzem Suchen entdeckte er Serena nur ein kleines Stück weit entfernt. Trotz allem machte er sich um sie keine Sorgen. Serena schwamm so gut wie ein Fisch. Selbst eine noch viel stärkere Brandung hätte sie nicht in Schwierigkeiten gebracht. Die Dünung war auch nicht ihr Problem. Die Ebbe hatte eingesetzt, sodass die Wellen sie immer ein kleines Stückchen weiter von der Insel forttrugen, statt sie auf die Klippen zuzuschleudern. Aber nur ein paar hundert Meter über ihnen wälzte sich eine tödliche Lawine aus zwei-oder dreitausend Grad heißer Lava heran. Wenn sie keinen genügend großen Sicherheitsabstand zwischen sich und den Vulkan brachten, dann würden sie entweder von der niederstürzenden Lava getötet oder wenige Minuten danach bei lebendigem Leib gekocht werden. »Schwimmt!«, schrie Mike mit überschnappender Stimme. »Weg von der Insel! Schwimmt um euer Leben!«
Ihre Chancen, es zu schaffen, waren praktisch gleich null. Mike schwamm so schnell wie nie zuvor in seinem Leben und trotzdem hatte er das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Die Lava bewegte sich nicht ganz so schnell, wie er befürchtet hatte, aber immer noch viel, viel schneller, als nötig gewesenwäre, um ihnen auch nur eine hauchdünne Chance zum Überleben zu gewähren.
Sie waren sechzig oder siebzig Meter vom Ufer entfernt, als der Lavastrom die Klippe erreichte. Trotz der entsetzlichen Gefahr, die er bedeutete, war es ein Anblick von unbeschreiblicher Schönheit. Die Lava erreichte die Klippe und stürzte wie ein Wasserfall aus flüssigem Gold in die Tiefe. Ein strahlendes, unglaublich intensives und trotzdem mildes, goldfarbenes Licht überflutete das Meer und die tiefhängenden Wolken waren plötzlich nicht mehr schwarz, sondern leuchteten in einem intensiven, rotgoldenen Ton.
Eine Sekunde später berührte die Lava das Wasser und die ganze Insel verschwand hinter einem Vorhang aus weißem, brodelndem Dampf. Eine Woge ungeheuerer Glut schlug über Mike und den anderen zusammen; so grausam, dass er spürte, wie sich auf seinem Gesicht Brandblasen bildeten und sich seine Haare kräuselten, obwohl er bis zum Hals im Wasser war. Keuchend tauchte er unter, um den brennenden Schmerz auf seinem Gesicht zu löschen.
Und es war immer noch nicht vorbei. Immer mehr und mehr Lava stürzte über die Klippe. Die Hitze wurde unerträglich. Selbst das Wasser wurde heiß und der kochende Dampf schien seine Kehle zu verbrühen, wenn er atmete. Er spürte, wie nun auch der Ozean unter ihnen zu beben begann, als bräche der Meeresboden selbst auseinander. Der Lavastrom wurde immer heftiger. Statt eines Wasserfalls aus geschmolzenem Gestein war es nun eine Lawine, die sich weiter und weiter ins Meer hinein ergoss. Noch ein paar Minuten, begriff Mike, und die Lava würde sie selbst hier draußen erreichen, falls das kochende Wasser und der Dampf sie nicht vorher umbrachten. Wieder hatte Mike das Gefühl, dass sich der Meeresgrund unter ihnen bewegte, und diesmal war es eindeutig keine Einbildung. Etwas Riesiges, unvorstellbar Gewaltiges stieg vom Meeresboden zu ihnen empor-und dann brach ein gigantisches, grün schimmerndes Ungetüm mit Stacheln, Spitzen und riesigen leuchtenden Glotzaugen inmitten eines Berges aus Schaum durch die Meeresoberfläche! Es war die NAUTILUS. Das riesige Unterseeboot tauchte zwischen ihnen und dem Vulkan aus dem Meer und schützte die schwimmenden Menschen mit ihrem stählernen Leib vor der höllischen Glut, mit der Ogdy versuchte, seine Kinder zu verzehren.
Mike und Singh waren die Letzten, die auf das überfüllte Deck der NAUTILUS hinaufkletterten. Das
Schiff hatte sofort begonnen sich langsam von der Klippe zu entfernen, wobei es die im Wasser Schwimmenden mit seinem gewaltigen Rumpf einfach vor sich her schob; eine Vorgehensweise, die extrem gefährlich war, aber auch die einzige Möglichkeit darstellte. Die NAUTILUS vermochte die Männer und Frauen zwar vor der Lava zu beschützen, aber nicht vor dem kochenden Wasser, das sich rings um sie herum allmählich in Dampf zu verwandeln schien.
Als Mike sich mit allerletzter Kraft auf das Schiff hinaufzog, war die NAUTILUS schon fast eine halbe Meile von der Insel entfernt. Selbst hier war das Wasser bereits so warm, dass seine Oberfläche dampfte. Das Toben des Vulkans hatte noch mehr an Wut zugenommen. Der Krater glühte in einem grellen, unheimlichen Rot und spie immer mehr und mehr Lava. Mike war nicht sicher, ob Hathi ebenso spurlos von der Meeresoberfläche verschwinden würde wie die Insel, auf der sie Delamere gefunden hatten, aber allein der Anblick des Flammen speienden Kraters machte ihm klar, dass es sehr, sehr lange dauern würde, bis auf dieser Insel wieder Menschen leben konnten; wenn überhaupt. Sie würden eine neue Heimat für die Pahuma finden müssen. Im Moment war er aber einfach nur froh, noch am Leben zu sein. Jemand hatte ihm die Hand entgegengestreckt und ihm auf das Deck hinaufgeholfen, aber er hatte nicht einmal die Kraft, sich nach seinem Retter umzusehen. Zu Tode erschöpft sank er auf Hände und Knie, schloss die Augen und genoss für einige Sekunden nichts anderes als das wunderbare Gefühl, einfach einund ausatmen
zu können, ohne das Gefühl zu haben, geschmolzenes Glas in die Lungen zu saugen.
Als er endlich wieder den Kopf heben konnte, blickte er in ein pelziges schwarzes Gesicht, aus dem ihm ein einzelnes, gelbes Auge entgegensah.Das ist wieder mal typisch,sagte Astaroths Stimme in seinen Gedanken.Du warst wieder einmal der Letzte. Konntest du dir keine bessere Gelegenheit aussuchen, umein Dampfbad zu nehmen?
»Sehr witzig«, murmelte Mike. »Erklär mir lieber, wo du warst. Ich hätte dich gebraucht, weißt du?« »Sei lieber froh, dass er nicht bei euch geblieben ist«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Ohne Astaroth wärt ihr jetzt alle Fischsuppe.«