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DER TIGER IN NÖTEN
Der Säbelzahntiger Achr trottete ziellos dahin. Einst Anführer eines ganzen Rudels gefährlicher Raubtiere, hatte er sich schon als Herrscher über das Volk der Käuer gesehen. Dann aber war er vom Höhlenlöwen Grau zweimal hintereinander überlistet und besiegt worden. Von diesem Fremdling, der Gott weiß woher gekommen war und sich im Zauberland auf die Seite des Tapferen Löwen geschlagen hatte!
Die Erinnerung an diese Schmach bedrückte den Säbelzahntiger sehr, das war ihm deutlich anzusehen. Seine sonst so runden Backen hingen schlaff herab, verdeckten fast völlig die langen spitzen Hauer, und die traurig gesenkten Barthaare erinnerten an einen alten Staubwedel.
Andererseits war aber auch zu erkennen, daß Achr schon im nächsten Augenblick vor Zorn zu explodieren drohte. Man brauchte nur seinen Schwanz zu betrachten, der wild von einer Seite zur anderen ausschlug, so als wollte das Tier mit der Quaste seine Spuren verwischen.
Doch seine Gegner hielten ihn offenbar nicht einmal einer Verfolgung für würdig. Niemand weit und breit, der sich ihm an die Fersen geheftet hätte! Der Höhlenlöwe Grau war mit dem Tapferen Löwen und den fünf Säbelzahntigern, dem ehemaligen Rudel Achrs, auf dem Weg in die Große Wüste, wo die besten Handwerker des Zauberlandes und die Außerirdischen vom Planeten Rameria den Katamaran »Arsak« bauten.
Mit diesem Katamaran sollte die Suche nach dem Seemann Charlie Black aufgenommen werden, der irgendwo im Golf von Mexiko Schiffbruch erlitten hatte.
Doch Achr gehörte keineswegs zu denen, die beim ersten Rückschlag aufgaben oder mit dem vorliebnahmen, was ihnen irgendwelche dahergelaufenen Löwen großmütig überließen! Er schmiedete Rachepläne gegen seine Erzfeinde und gegen die ungetreuen Tiger, die ihn verraten hatten.
Freilich waren das für einen allein, ja sogar für einen wie ihn, ziemlich viele Gegner. Ich muß mir Verbündete suchen, sagte sich Achr.
Andererseits – was für Gleichgesinnte gab es denn im Zauberland noch. Die Sechsfüßer, früher ungebärdig und gefürchtet, waren längst zahm geworden, und der Drache Oicho völlig harmlos. Er hielt außerdem Freundschaft mit dem Scheuch, dieser lächerlichen Strohpuppe, und mit dem inzwischen fast ganz eingerosteten Eisernen Holzfäller.
Der Säbelzahntiger lief dahin, hing seinen düsteren Gedanken nach und bemerkte nicht, daß er plötzlich an jener Fallgrube angelangt war, zu der er seinerzeit den Höhlenlöwen gelockt hatte. Er konnte nicht mehr anhalten und stürzte selber hinein.
Im Grunde hätte Achr dem Löwen dankbar sein müssen, denn Grau hatte bei seinem Sturz damals ein Loch in die Grubenwand geschlagen, durch das man entkommen konnte. Dahinter lag ein uralter unterirdischer Gang. Der Tiger allein hätte es nie geschafft, sich aus dieser Falle zu befreien, er war zu schwach.
Achr entdeckte die Öffnung und schlüpfte hindurch. Bald darauf stieß er auf Graus Spuren. Sie führten nach rechts, und er folgte ihnen in der Annahme, am Gelben Backsteinweg herauszukommen, wo die Begegnung mit dem Löwen stattgefunden hatte. Doch das sollte sich als Irrtum erweisen. Grau hatte sich nur anfangs rechts gehalten, dann jedoch die Richtung gewechselt. Er wollte den Käuern zu Hilfe eilen und hatte die Säbelzahntiger zu Recht in ihrer Nähe vermutet.
Überzeugt, den richtigen Weg zu nehmen, achtete der Tiger bald nicht mehr auf die Spuren. Er trabte den Gang entlang, der immer tiefer ins Erdinnere führte.
Das beunruhigte den Tiger zunächst nicht besonders. Nur Durst bekam er langsam, und auch gegen eine kleine Mahlzeit hätte er nichts einzuwenden gehabt. Erst als die Staubschicht unter seinen Pfoten dicker wurde, bemerkte er, daß es keinerlei Spuren mehr gab. Er verlangsamte seinen Lauf.
»Bin ich etwa doch in die falsche Richtung gerannt?« schimpfte Achr. »Da hat mich dieser hinterhältige Löwe also erneut genarrt! Na warte, Grau, das zahl ich dir heim!«
Achr blieb stehen und wollte schon kehrtmachen, doch sein Lauf hatte mehr Staub aufgewirbelt, als ihm lieb sein konnte; die Wolke benahm ihm fast den Atem. Er fauchte wütend und zog sich etwas zurück. Da würde er wohl warten müssen, bis die Luft hier unten wieder einigermaßen klar war.
Er legte sich hin, um einige Augenblicke auszuruhn. Doch daran war nicht zu denken. Die Staubschwaden glitten unaufhaltsam auf ihn zu, so daß er schnaufend und spuckend noch weiter zurückwich. Der Boden wurde immer abschüssiger, und so vorsichtig er auch vorankroch, um nicht noch mehr Schmutz aufzuwirbeln – die Wolke folgte ihm.
Nachdem er wütend, aber natürlich vergebens seinen Widersacher Grau an die eigene Stelle gewünscht hatte, setzte er sogar zu einigen Sprüngen an, um endlich wieder atmen zu können. Das allerdings endete mit einem neuen Reinfall. Beim dritten oder vierten Satz nämlich prallte er in der Dunkelheit unvermutet und voller Wucht gegen eine Felswand.
Achr setzte sich erschrocken auf seine Hinterbacken, sah unzählige Sterne kreisen. Um wieder zur Besinnung zu kommen und zu überprüfen, ob er sich etwas verstaucht oder gar gebrochen hätte, bewegte er mehrmals den Kopf hin und her. Zum Glück schien noch alles in Ordnung zu sein. Nur daß er jetzt wohl endgültig in der Falle saß: von hinten kam der Staub immer näher, vorn aber waren die Felsen.
Achr lief gehetzt umher, in der verzweifelten Hoffnung, ein Schlupfloch zu finden. Doch seitlich und vorn gab es nichts als undurchdringliches Gestein. So lang der unterirdische Gang auch war, hier schien er plötzlich zu enden.
Wozu dann aber ein so ausgedehnter, vielleicht gar nicht zufällig entstandener Tunnel? Ob es an dieser Stelle einen Durchgang gegeben hatte, der später zugemauert worden war? Möglicherweise um ungebetene Gäste abzuhalten?
Achr machte sich hastig daran, die Wand vor ihm genauer zu untersuchen. Vielleicht entdeckte er einen Riß, einen Spalt, den er verbreitern konnte. Warum sollte es ihm nicht gelingen, sich hindurchzuzwängen und auf der anderen Seite ans Tageslicht zu gelangen. Der Höhlenlöwe hatte das schließlich auch geschafft.
Doch bei dieser Arbeit wirbelte er nur neuen Schmutz auf, und auch die Schwaden hinter ihm holten ihn wieder ein. Schon waren Nase und Maul voller Staub.
Verzweifelt schlug Achr mit den Tatzen und seinen mächtigen Säbelzähnen auf die steinerne Wand ein. Wider Erwarten gelang es ihm nach und nach, in einem breiten Streifen Splitter und ganze Brocken herauszulösen. Ein Spalt öffnete sich, und unvermittelt wurde es heller in der Höhle. Ein kaltes milchiges Licht drang zu ihm herein.
Von seinem Erfolg beflügelt, arbeitete der Tiger emsig weiter. Hinter dem Spalt befand sich eine Art durchsichtiger Barriere. Achr klopfte ein großes Stück davon frei – das Ganze schien so etwas wie eine Mauer zu sein, die sich im Laufe von Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden mit einer dicken Schicht von Kalk und Schmutz bedeckt hatte. Sie bestand nicht aus Steinen, sondern aus einem glasähnlichen unzerbrechlichen Material, das seinen Schlägen standhielt. Die Wand klirrte und dröhnte unter den wuchtigen Hieben, trug aber nicht den kleinsten Kratzer davon. Im Gegenteil, als Achr nicht nachließ, sie immer heftiger zu attackieren, brach er sich die Spitze eines seiner prachtvollen Säbelzähne ab. Da endlich gab er seine sinnlosen Bemühungen auf und setzte sich erschöpft auf den Boden.
Der Staub hatte ihn mittlerweile eingeholt und hüllte nicht nur ihn selbst ein, sondern die ganze Höhle mitsamt dem so mühsam bloßgelegten Fenster. Es hätte für den Tiger die Rettung bedeuten können, denn dahinter lockte die Freiheit, eine ganze unterirdische Welt. In der Ferne sah man einen Fluß und eine Landschaft mit Tälern und Hügeln.
Doch das alles war für ihn unerreichbar. Er war gefangen, und der Staub setzte sich in seiner Nase fest, in den Augen, ja sogar in der Kehle.
Achr mußte husten, auf einmal erschien ihm sein gewaltiger Zorn, sein Groll auf den Tapferen Löwen und den Höhlenlöwen, der so unvermittelt im Zauberland aufgetaucht war, klein und nichtig. Eigentlich lohnt sich der Streit nicht, dachte er, es gibt Wichtigeres, ich sollte mich mit ihm vertragen. Immerhin lebten schon unsere Vorfahren zusammen und sind miteinander ausgekommen.
DIE RETTUNG
In diesem Augenblick geschah etwas Sonderbares. Kaum war der Tiger friedfertig geworden, kaum hatte er das Böse und Feindselige aus seinen Gedanken verdrängt, spürte er ein Kribbeln in seiner vom Staub ganz trockenen und heißen Nase. Er streckte vorsichtig die Pfote aus und stellte zu seiner großen Überraschung fest, daß die Barriere verschwunden war. Der Weg nach vorn war urplötzlich frei, und auch das Atmen wurde wieder leichter. Frische kühle Luft kitzelte angenehm seine Nüstern. Achr sauste beglückt los.
Doch er kam nicht weit. Noch halb blind von dem gräßlichen Staub, der hinter ihm zurückblieb, machte er einige Sätze, übersah aber einen unvermittelt vor ihm auftauchenden Abgrund. Vergeblich versuchte er, mitten im Sprung anzuhalten, es gelang nicht.
Hals über Kopf stürzte Achr zum zweitenmal an diesem unglückseligen Tag in die Tiefe. Nur mit Mühe federte er den Fall ab, blieb danach wie betäubt am Boden liegen.
Damit waren die Schrecken dieses Tages allerdings noch lange nicht ausgestanden. Der Tiger hatte sich kaum etwas von seinem Sturz erholt, da befand er sich schon wieder in der Luft. Besser gesagt, er spürte, wie er am Schlaffittchen gepackt und hochgehoben wurde. Das war ihm seit frühester Kindheit nicht mehr widerfahren. Ja, jemand hielt ihn in die Höhe und wendete ihn hin und her, als wollte er sich vergewissern, was für ein seltsames Spielzeug ihm zugefallen war.
Der Tiger irrte sich nicht. Er sah ein Paar riesiger Augen auf sich gerichtet, die ihn neugierig musterten. Eine entsprechend große Nase saß darunter, ein gewaltiger Mund, und das alles gehörte zu einem Gesicht von beträchtlichen Ausmaßen. Ein Riesenkerl mit mächtigen Fäusten hielt Achr gepackt.
Aufs äußerste erbost, daß man ihn wie ein Hündchen behandelte, setzte sich der Tiger zur Wehr. Er riß fauchend den Rachen auf, schlug mit den starken Tatzen nach dem fremden Gesicht, um dem Kerl die Nase zu zerfetzen, ihm die Augen auszukratzen. Ein für allemal sollte ihm die Lust vergehen, einen Säbelzahntiger am Kragen zu packen. Doch der Riese ließ sich nicht überrumpeln. Blitzschnell brachte er seine Nase aus der Gefahrenzone, Achr dagegen bekam einen Klaps auf die Schnauze, der sich gewaschen hatte. Tränen der Kränkung traten ihm in die Augen, und der Schmerzensschrei, der seiner Kehle nun doch entfuhr, hörte sich an wie das Zischen eines schwelenden Holzscheits, wenn es ins Wasser getaucht wird.
Achr kochte vor Wut. Er begann sich nach Kräften zu winden und schlug seine Krallen in die Hand, die ihn festhielt. Nein, er war keine Hauskatze, das bewies das ohrenbetäubende Gebrüll, das sein Prankenhieb auslöste. Die große Hand ließ los, und Achr sauste ein drittes Mal in die Tiefe.
Also wirklich, heute war ganz und gar nicht sein Tag, er kam aus dem Fallen einfach nicht heraus! Bloß daß er diesmal zum Glück weich landete: in einem dunklen, weich federnden Verlies. Der Riese trug nämlich einen Sack bei sich, in den der Tiger stürzte!
Später wurde Achr herausgeschüttelt und fand sich auf dem Boden einer riesigen Höhle wieder, die den Riesen als Heimstatt diente. Augenblicklich war er auf den Beinen, bereit, sich mit Krallen und Zähnen gegen jeden Angriff zu verteidigen.
Diesmal sah der Tiger bereits drei Augenpaare auf sich gerichtet. Die Säulen aber, von denen er im ersten Moment geglaubt hatte, sie würden das Dach abstützen, erwiesen sich als drei Beinpaare. Sie standen so dicht beieinander, daß dem Gefangenen nicht die geringste Chance auf eine Flucht blieb.
Der Tiger setzte sich aufs Hinterteil, zeigte drohend seine spitzen Hauer und brüllte furchteinflößend:
»A-a-ch-ch-r-r-r!«
Als Antwort ertönte eine Stimme, die so laut hallte, daß sie den Tiger fast betäubte.
»Schau mal, Mama, wie lustig er ist. Er faucht sogar ein bißchen!«
Es war die Stimme eines Riesenmädchens, die in den Ohren der Mutter vielleicht niedlich, für ihn jedoch wie ein Donnergrollen klang. Achr klemmte den Schwanz ein.
Armer Tiger! Seine gefährlichen Zähne schreckten niemanden, und das drohende Gebrüll, das den Bewohnern des Zauberlandes fast das Blut in den Adern gefrieren ließ, war für die Riesen hier nichts als ein possierliches Gepiepse.
Wie Achr später erfuhr, wohnte in dieser Höhle eine kleine friedliche Familie vom Stamme der Uiden. Diesen Namen hatten sich die Riesen vor unendlich langer Zeit selbst gegeben. Zur Familie gehörten drei Personen: Papa A, der unterwegs auf den Tiger gestoßen war und ihn im Sack hergebracht hatte, Mama Ara und das Mädchen Ah.
Sie lebten in dieser Höhle, solange die kleine Ah denken konnte, und das waren immerhin fast sieben Riesenjahre. Schon vorher aber waren sie hier zu Hause gewesen, in diesem unterirdischen Tal, am Ufer eines unterirdischen Flusses. Freilich empfanden sie selbst weder das Tal noch den Fluß als unterirdisch, denn sie waren noch nie nach oben gelangt, zur Erdoberfläche. Für sie waren es einfach der Dunkle Fluß und das Tal. Nur Papa Ar erzählte manchmal vom Großvater, der wiederum von seinem Vater gehört hätte, irgendwo gäbe es noch eine andere Welt. An dieses Gerücht hatten aber schon die Alten nie so recht geglaubt, sondern alles für müßiges Geschwätz gehalten. Sie fühlten sich wohl in ihrem Tal, wo es trocken und warm und der Fluß reich an Fischen war. Was wollten sie mehr?
Lediglich eine entfernte Verwandte Ahs, eine zänkische Alte, hatte an allem etwas auszusetzen gehabt. Als sie dann eines Tages aus der Höhle verschwand und nicht mehr wiederkam, waren alle erleichtert.
Das Mädchen Ah liebte ihr Tal ebenfalls, nur fühlte sie sich manchmal ein bißchen einsam. Besonders wenn die Erwachsenen ihrem langweiligen Tagwerk nachgingen. Nun habe ich endlich jemanden zum Spielen, dachte das Mädchen erfreut, während sie das drollige kleine Tier betrachtete. Wie ulkig das Kerlchen doch aussieht mit seinen winzigen spitzen Zähnen, die aus der Schnauze ragen, und mit seinem gestreiften Fell!
»Wir wollen ihn Achr nennen«, schlug sie vor, »er hat sich ja selbst so vorgestellt. Außerdem erinnert sein Name an den von Großvater Aracha.«
Gegen diesen Vorschlag hatte niemand etwas einzuwenden, und so wurde der Säbelzahntiger zum zweitenmal auf den Namen Achr getauft, zu Ehren des ihm unbekannten Großvaters.
Das Mädchen Ah war höchst zufrieden, als das Tierchen, kaum daß sie es mit seinem Namen ansprach, sofort den Kopf hob und sie anschaute. Sie wollte, beflügelt von ihrem Erfolg, seinen Rücken streicheln, doch der Tiger sträubte derart bedrohlich sein Fell, daß sie von ihrem Vorhaben abließ. Schließlich waren die Kratzer auf der Hand ihres Vaters nicht zu übersehen.
Und tatsächlich überlegte Achr auch einen Augenblick, ob er nicht nach dem Finger der Kleinen schnappen sollte. Doch war es vielleicht erst einmal besser, abzuwarten.
Als Ah dann vermutete, das kleine Tier könnte Hunger und Durst haben, hatte der Tiger nichts einzuwenden. Wirklich, er konnte eine Stärkung gebrauchen, der Magen knurrte ihm, und der Hals war ganz ausgetrocknet.
Das Mädchen stellte ihm eine Schüssel mit Wasser hin und warf ihm ein »Fischchen« vor die Füße, das nur wenig kleiner war als er selbst. Um diesen Gründling zu bändigen, der noch lebte und erbost mit dem Schwanz schlug, mußte Achr alle Kräfte aufbieten. Doch schließlich trug er den Sieg davon, sättigte sich und löschte auch seinen Durst, indem er die Schüssel Wasser leertrank. Damit gab er zu verstehen, daß er seine Rolle als zahmes Haustier zumindest fürs erste annahm.
Als das Mädchen ihn dann streichelte und auch hinterm Ohr kraulte, ließ er es großmütig zu. Zwar sträubte sich ihm bei der ersten Berührung noch gewaltig das Fell, doch nach und nach fand er Gefallen daran, genoß es schließlich sogar.
Hätten die Bewohner des Zauberlandes seinerzeit Gelegenheit gehabt, den Säbelzahntiger zu streicheln – wer weiß, vielleicht hätte sich sein Schicksal anders gestaltet, und er wäre ebenso zahm geworden wie die Sechsfüßer oder der Drache Oicho.
Wie dem auch sei, in der Höhle der Uiden herrschten Eintracht und Friede, und Achr fügte sich gern in sein Schicksal. Mehr noch, er und das Mädchen Ah wurden bereits kurze Zeit später richtig dicke Freunde.
DER NÄCHTLICHE ZWEIKAMPF
Erschöpft von seinen anstrengenden Abenteuern, fiel der Tiger, kaum daß er gegessen und getrunken hatte, in einen tiefen Schlaf. Er schlief den ganzen restlichen Tag hindurch und auch noch die halbe Nacht. Bis er plötzlich von einem seltsamen Geräusch erwachte. Es war ein Raunen und Zischeln, eine Art »Schu-a, schu-a«, das in seine Träume drang.
Achr öffnete einen Spaltbreit die Augen, und da er, wie alle Katzen, im Dunkeln ausgezeichnet sehen konnte, entdeckte er sofort ein merkwürdiges Tier, das auf ihn zukroch. Es bewegte sich schemenhaft und nahezu lautlos, nur das leise unheilvolle Zischen war verräterisch. Offenbar ein Raubtier, das auf Beute aus war und sich schon seines Erfolges sicher glaubte.
Doch der Tiger Achr war alles andere als eine Beute! Er setzte, im Gegenteil, zum Sprung an. Sobald das unbekannte Geschöpf in Reichweite war, schnellte er blitzschnell nach vorn. Für ihn war, wie für jeden Tiger, der erste Satz entscheidend. Es mußte ihm gelingen, auf dem Rücken des Gegners zu landen, dann war der Sieg schon halb errungen.
Und Achr erreichte sein Ziel. Das Tier, auf einen Angriff nicht vorbereitet, verharrte überrascht. Sein Zischen ging in ein zorniges Brüllen über, als der Tiger so unverhofft auf seinem Schuppenpanzer aufprallte. Von dem plötzlichen Gewicht wurde es zu Boden gedrückt.
Doch es raffte sich sofort wieder auf, hetzte hin und her, um den Gegner abzuschütteln. Dabei peitschte es die Luft mit seinem langen Schwanz, an dessen äußerstem Ende sich ein spitzer, gezackter, an eine Harpune erinnernder Dorn befand. Ein giftiger Dorn – hätte er sich in den Körper des Tigers gebohrt, es wäre sein Ende gewesen.
Achr hielt sich nur mit größter Mühe auf dem Rücken des Angreifers, der ganz und gar mit diesem Panzer versehen war. Sogar der Schwanz und der Hals waren mit dicken Hornplatten bedeckt.
Dann zog das Ungetüm jäh den Kopf ein und bäumte sich wie ein Stier auf, um den ungebetenen Gast endlich abzuwerfen.
Der Tiger konnte sich nicht halten, seine Krallen rutschten auf dem glatten Panzer ab. Achr klatschte zu Boden, war aber in Sekundenschnelle wieder auf den Beinen und griff diesmal von hinten an. Mit aller Wucht schlug er seine Zähne in den Schwanz, knapp neben dem giftigen Stachel, und ließ nicht mehr los.
So wogte der Kampf auf Leben und Tod hin und her, ohne eine Entscheidung zu finden. Das Schuppentier hätte sicherlich gern den Rückzug angetreten, doch Achr hielt es fest gepackt.
Diese gefährliche Auseinandersetzung wäre wohl noch eine Zeitlang so weitergegangen, hätte ihr nicht Papa Ar ein Ende bereitet. Er war von den ungewöhnlichen Geräuschen wach geworden und hatte Licht gemacht, um zu sehen, was los war.
Aber das ist ja eine Schua! dachte er erschrocken. Wie ist dieses kreuzgefährliche Biest bloß hierher geraten? Ein Glück, daß die Katze aufgepaßt hat, sonst hätte das Schlimmste passieren können. Denn mit ihrem scharfen Gebiß und dem Giftstachel war die Schua auch für Riesen lebensbedrohlich.
Das Schuppentier begriff, daß es ihm nun an den Kragen ging, und unternahm einen letzten Versuch, zu entkommen. Es riß sich mit aller Kraft von Achr los, wobei es allerdings den Schwanz einbüßte. Plötzlich frei, stürzte es Hals über Kopf davon und aus der Höhle. Im eigenen Bau würde es seine Wunden lecken und abwarten, bis ihm ein neuer Schwanz samt Giftstachel gewachsen war.
Endlich gelang es auch dem Tiger, seine Hauer aus den Hornplatten zu lösen. Er sprang zur Seite und beobachtete die letzten Zuckungen des jetzt selbständigen Schwanzes. Der peitschte noch einmal die Luft, wand sich und kam endlich zur Ruhe. Achr ließ, gewissermaßen als Zeichen seines Sieges, ein triumphierendes Gebrüll ertönen, rannte ein Stück zur Seite und streckte sich ermattet aus.
Ar ging zu ihm. Im Fackelschein glühten die gelben Augen des Tigers wie zwei kleine Kohlestücken.
»Bist ein Prachtkerl«, sagte Ar freundlich, »ein ganz braves Tier.« Er hockte sich neben Achr und strich ihm übers Fell, das noch immer ein bißchen gesträubt war. Dann entfernte er sich kurz und kam mit einem Fisch zurück, legte ihn vor den Tiger hin.
»Hier, friß, hast es dir verdient.«
Der stolze Säbelzahntiger aber, der die Sechsfüßer und den Drachen Oicho stets verachtet hatte, weil sie den Menschen dienten, empfand plötzlich Befriedigung, jemandem von Nutzen gewesen zu sein.
Ar löschte die Fackel wieder, und Stille kehrte ein.
Als am anderen Morgen der Rest der Familie beim Frühstück beisammensaß, erzählte Papa Ar von dem nächtlichen Ereignis, und der Tiger wurde erneut mit guten Worten, aber auch mit Leckerbissen überhäuft.
Bei meinen Krallen und Zähnen, dachte Achr, während er sich genüßlich die Backen vollstopfte, eigentlich ist es ganz schön, geliebt und geachtet zu werden!
Nachdem alle gegessen hatten, ging das Mädchen Ah spielen. Endlich brauche ich nicht mehr allein los, dachte sie, kann Achr mitnehmen. Nur schade, daß er nicht spricht.
Sie rannten aus der Höhle, die nicht allzu weit vom Fluß entfernt lag.
»Das ist der Dunkle Fluß«, erklärte das Mädchen respektvoll. »Niemand weiß, wo er entspringt und wo er endet.«
Sie liefen an dem leicht abschüssigen Ufer entlang. In seiner Neugier wagte sich der Tiger bis unmittelbar ans Wasser; er wollte prüfen, wie es schmeckte. Doch das Mädchen Ah rief erschrocken:
»Geh nicht zu dicht heran, die Lange Glua könnte dich aufspüren! Das würde uns beiden schlecht bekommen.«
Aber die Warnung kam zu spät. In der Mitte des Flusses, wo das Wasser einen deutlich sichtbaren Strudel bildete, wölbte sich plötzlich eine große Blase auf. Im selben Moment erschien ein flacher Kopf an der Oberfläche, der an den einer Schlange erinnerte, aber viel größer, ja geradezu riesig war. Ein starrer Blick aus runden Telleraugen traf den Tiger, dann setzten sich Kopf und Hals ganz sacht auf Achr und das Mädchen zu in Bewegung. Kurz darauf hatte der Kopf, auf dem Wasser dahingleitend, schon die Hälfte des Weges zum Ufer zurückgelegt, während der Hals noch immer kein Ende fand. Doch die beiden hatten auch kein Interesse daran, herauszufinden, wie lang er wirklich war. Sie rannten davon, möglichst weit vom Fluß fort.
Das Mädchen Ah wagte nicht einmal, nach hinten zu schauen; sie fürchtete, der Kopf des Ungeheuers könnte sie jeden Augenblick im Genick packen. Ihr war, als spürte sie schon seinen Atem im Nacken.
Der Atemhauch war auch keine Einbildung, nur stammte er glücklicherweise nicht von Glua, sondern von Ahs Spielgefährten Achr. Der Tiger, der natürlich viel schneller laufen konnte als das Mädchen, hielt sich absichtlich hinter ihr, um sie zu beschützen, falls der Schlangenkopf allzu neugierig werden sollte. Der aber dachte anscheinend gar nicht daran, sie zu verfolgen. Als Achr das erkannte, lief er um das Mädchen herum und stellte sich ihr in den Weg.
Die kleine Ah jedoch rannte so schnell, daß sie gegen den Tiger prallte und hinfiel.
»Was kommst du mir denn in die Quere?!« schimpfte sie ärgerlich, war aber sofort wieder auf den Beinen, strich das Kleid glatt und betrachtete den Kratzer an der Hand, den sie sich bei dem Sturz zugezogen hatte. »Willst du vielleicht, daß mich die Glua zu fassen kriegt?«
Achr leckte ihr schuldbewußt das Knie, das gleichfalls ein wenig aufgeschlagen war.
»Ich wollte dir nur klarmachen, daß uns niemand auf den Fersen ist«, murmelte er verlegen.
»Was denn, du kannst sprechen?!« Das Mädchen schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. »Wieso hast du das nicht schon früher verraten?«
»Es gab keinen Grund dafür«, erwiderte Achr bescheiden. »Aber du brauchst nicht erstaunt zu sein. Ich komme schließlich aus dem Zauberland, und dort können alle sprechen: Menschen, Tiere und Vögel. Sogar der Weise Scheuch und der Eiserne Holzfäller.«
Ah beugte sich zu Achr hinunter, packte ihn bei seinen runden Backen und drückte ihm einen begeisterten Schmatz direkt auf die Nasenspitze.
Verwirrt, zugleich aber auch zufrieden, schüttelte der Tiger den Kopf und die Hände des Mädchens ab, wobei er ihr mit seiner rauhen Zunge flüchtig und wie unabsichtlich über die Wange strich.
Ein so freundliches Verhalten gereichte einem einstmals gefürchteten Räuber und Anführer eines ganzen Rudels von Säbelzahntigern nun gewiß nicht zur Ehre. Achr baute insgeheim darauf, daß ihn niemand sah und keiner im Zauberland je etwas davon erfuhr. Andererseits war er aber liebebedürftig wie alle Katzen, selbst wenn er seinen Kopf für sich hatte!
Das Mädchen Ah dagegen, noch immer verblüfft und aufs höchste beglückt, daß sie jemanden hatte, mit dem sie nicht nur spielen, sondern sich auch unterhalten konnte, plapperte munter drauflos. Sie erzählte dem Tiger, daß die Bewohner im Uidenland schon seit Urzeiten von der Existenz der langhälsigen Glua wüßten. Sie war, soweit man zurückdenken konnte, in dem Dunklen Fluß zu Hause, verschwand zwar manchmal für einige Zeit, tauchte dann aber urplötzlich wieder auf. Man munkelte sogar, die zänkische Alte sei damals nicht freiwillig davongelaufen, sondern von der geheimnisvollen Glua entführt worden.
Der Säbelzahntiger seinerseits erinnerte sich an eine Geschichte, die von seinen Vorfahren überliefert war. Danach war eines Tages eine Riesin namens Arachna im Zauberland aufgetaucht, von der niemand wußte, woher sie kam. Wegen ihrer Boshaftigkeit und ihrer Greueltaten hatte der Große Zauberer Hurrikap sie in einen mehrere tausend Jahre währenden Schlaf versenkt. Nach dieser Zeit aber war sie wieder erwacht und hatte aus Rache einen dichten Nebel über das ganze Zauberland gebreitet. Die Bewohner nannten ihn den Gelben Nebel. Sie wären fast an ihm zugrunde gegangen.
Achr deutete auch an, diese Riesin und Ahs zänkische Urahnin könnten ein und dieselbe Person sein, das jedoch wollte das Mädchen nicht glauben.
Während der Tiger von seiner Heimat erzählte, dem fernen Zauberland, spürte Ah sein Heimweh. Und obwohl sie ihren neuen Spielgefährten gewaltig vermissen würde, beschloß sie, ihm bei seiner Rückkehr zu helfen.
Eine gewisse Rolle spielte dabei wohl auch der unbestimmte Wunsch, selber mal einen Blick auf dieses Oberirdische Reich zu werfen. Auf jene Welt voller Helligkeit, wo eine freundliche Sonne schien, weiches grünes Gras wuchs und so sympathische kleine Geschöpfe herumsprangen wie dieser furchtlose Achr.
Wenn diese Riesin in der oberen Welt wirklich meine böse Ahnin war, dachte sie unvermittelt, hat die Große Glua sie vielleicht doch entführt. Oder sie wurde vom Dunklen Ruß ins Zauberland gespült…
»Falsch, mein kleines Mädchen, ganz falsch!« flüsterte es da plötzlich neben ihr.
Ah fuhr erschrocken herum. Hinter einem der hier verstreut herumliegenden Steine entdeckte sie einen mächtigen Kopf. Es war das Haupt der Glua.
DIE GROSSE SCHLANGE
Das Mädchen Ah schrie auf und wich entsetzt zurück. Langsam, den Blick gebannt auf den Kopf gerichtet, der vielleicht zuschnappen würde, schob es sich Schritt um Schritt nach hinten. Nur möglichst weg von der Glua! Doch sie kam nicht weit, ihre Fersen stießen plötzlich an ein Hindernis. Sie wäre hingefallen, hätte nicht etwas Weiches und Federndes, das an ein elastisches Seil erinnerte, sie aufgefangen. Das Mädchen bekam es mit den Händen zu fassen und erschrak noch heftiger: das vermeintliche Tau war glitschig naß und nichts anderes als der zum Halbkreis geformte Schwanz der Schlange.
»Immer mit der Ruhe, meine Kleine, schön vorsichtig, sonst tust du dir noch weh«, zischte die Schlange leise und mit gedehnter Stimme. »Der Glua kann man nicht entkommen, schau nur richtig hin!«
Ah blickte sich um und stellte fest, daß die ganze Lichtung, auf der sie haltgemacht hatten, von der Schlange eingenommen wurde. Dabei hatten sie geglaubt, ihr entwischt zu sein!
Die Glua schickte eine sanfte Wellenbewegung durch ihren langgezogenen Körper, so daß ihre wunderschöne perlmuttfarbene Schuppenhaut sichtbar wurde.
Ah verfolgte fasziniert dieses Wellenspiel, das sich über die ganze Lichtung hinweg fortsetzte. Ihr wurde direkt schwindlig davon.
Der Säbelzahntiger dagegen hatte sich angriffslustig zum Sprung geduckt. Bei den ersten zischenden Lauten der Schlange glaubte er noch, es erneut mit einer gefährlichen Schua zu tun zu haben, und auch als er seinen Irrtum erkannte, gab er sich nicht geschlagen. Er lauerte auf eine Gelegenheit, sich in der Schwanzspitze der Glua festzubeißen. Doch diese Gelegenheit kam nicht. Im Gegenteil, die Glua packte ihn mit eben diesem Schwanzende und hob ihn hoch in die Luft.
»Wer wird denn so wagemutig sein, mein Kätzchen!« sagte die Schlange spöttisch und beobachtete belustigt, wie der Tiger verzweifelt, aber völlig erfolglos mit den Beinen strampelte. »Willst du wieder abstürzen wie neulich, als du zu uns ins Tal gepurzelt bist? Das würde deinen Pfötchen gar nicht gut bekommen. Beruhige dich, ich fresse weder kleine Mädchen noch winzige Tiere, schon gar nicht, wenn sie so tapfer sind wie du. Übrigens schmecken sie mir auch nicht, selbst die boshafte Urahnin von Ah hab ich am Leben gelassen.«
»Dann kannten Sie meine Vorfahrin also, hatten mit ihr zu tun?« fragte das Mädchen, deren Neugier sogleich über die Furcht siegte. »Was ist mit ihr passiert?«
Die Glua lachte:
»Immer langsam, meine Kleine!« zischte sie. »Mit der Zeit wirst du schon noch erfahren, was du wissen willst.« Sie setzte den Tiger wieder auf die Erde.
»Du scheinst dich gut auszukennen«, sagte Achr. »Wenn du wirklich so allmächtig bist, wie es scheint, dann hilf mir zurück ins Zauberland. Bestimmt weißt du über die Tür in dem unterirdischen Gang Bescheid, die sich damals so unerwartet vor mir geöffnet hat.«
»Natürlich weiß ich, was es mit dieser Tür auf sich hat«, erwiderte die Glua. »Aber ein zweites Mal wird es dir nicht gelingen, dort hindurchzuschlüpfen.«
»Und weshalb nicht?« fragte der Tiger unzufrieden. »Nimmst du etwa an, ich sei hier unten im Land der Uiden dicker geworden?«
»Ganz und gar nicht!« Die Schlange lachte zischelnd. »Aber die Tür gibt nur dem den Weg frei, der eine Wandlung vom Bösen zum Guten durchmacht. Erinnere dich, was du seinerzeit in deiner Todesangst gedacht hast. Weißt du es noch?«
Natürlich wußte Achr das. Die furchtbaren Minuten im unterirdischen Gang, als er fast am Staub erstickt wäre, würde er nie vergessen!
»Ich habe daran gedacht, daß mein Streit mit den Löwen unsinnig war und daß wir uns in Zukunft besser vertragen sollten«, brummte er.
»Stimmt«, bestätigte die Schlange. »Du hast dich besonnen, wenn auch erst im letzten Augenblick. Die unsichtbare Wand hat sich geöffnet, weil du einsichtig warst. Doch dieses Wunder geschieht nur einmal. Zur Rückkehr steht dir dieser Weg nicht mehr zur Verfügung.«
Der Tiger legte betrübt den Kopf auf die Vorderpfoten. Das Mädchen Ah beugte sich über ihn und strich ihm tröstend übers Fell.
»Sei nicht traurig, Achr«, sagte sie beschwörend, »wir werden einen anderen Weg zurück ins Zauberland finden, Glua wird uns bestimmt dabei helfen.« Sie schaute die Schlange bittend an.
»Nun ja, der Dunkle Fluß hat zum Glück keine Ahnung von dieser Geschichte«, murmelte die Glua kaum hörbar. »Also wird er mich auch nicht hindern, etwas zu unternehmen.« Und lauter: »In Ordnung, ihr könnt auf mich zählen. Es gibt tatsächlich einen anderen Weg nach oben.«
»Aber wo ist er?« rief das Mädchen aufgeregt. »Ich kenne das Tal der Uiden wie meine Jackentasche, habe aber nirgends auch nur das kleinste Schlupfloch entdeckt. Oder sind alle Türen nach draußen verzaubert wie der unterirdische Gang, den Achr benutzt hat?«
»Und was ist mit dem Dunklen Fluß?« erinnerte die Glua. »Du hast dem Tiger selbst erzählt, daß niemand weiß, wo er seinen Anfang nimmt und wo er endet!«
»Der Fluß? Ich kann doch gar nicht schwimmen!« sagte das Mädchen erschrocken. »Und das Wasser ist so tief, so reißend.«
Der Tiger war gleichfalls wenig begeistert, schwimmen zu müssen. Wie alle Katzen, machte er sich das Fell nur ungern naß.
»Dafür schwimme ich wie ein Fisch«, sagte aufmunternd die Schlange. »Einen anderen Weg aus dem Unterirdischen Reich gibt es nicht!«
Sie setzte sich wieder in Bewegung, glitt zurück zum Fluß. Ah und Achr folgten ihr.
Zum erstenmal in ihrem Leben trat das Mädchen ganz dicht an den Fluß heran. Doch sie bemerkte die rasante Strömung und bekam noch mehr Angst.
Der Tiger streckte vorsichtig eine Pfote ins Naß, schüttelte angewidert die Tropfen ab und wich zurück. Dieser Strom flößte ihm keinerlei Vertrauen ein.
Nur die Glua fühlte sich ausgezeichnet. Sie glitt elegant in die Fluten, wobei sie ihren Körper ringförmig aufrollte, bis nur noch die Schwanzspitze an Land war. Der Kopf dagegen ragte ein Stück aus dem Wasser.
Sie spornte die beiden an:
»Na los, nur Mut, ihr braucht keine Furcht zu haben!«
Bevor sie es sich versehen hatten, wurden das Mädchen und der Tiger mit der Schwanzspitze in das Nest aus Ringen befördert, das die Schlange für sie gebildet hatte. Sie saßen darin wie in einem runden Gummiboot. Zielstrebig ging es stromabwärts, fort aus dem Tal der Uiden.
»Oje, ich habe nicht einmal meinen Eltern Bescheid gesagt!« rief das Mädchen ein bißchen verspätet.
Doch das Boot, das die allmächtige Glua aus ihrem Körper geformt hatte, befand sich bereits in der Mitte des Dunklen Flusses.
Obwohl die Schlange ihre Körperringe so fest wie möglich aneinanderpreßte, sickerte Wasser durch einige Ritzen und füllte das Boot allmählich. Es reichte Ah, die auf dem obersten Ring saß, schon fast bis an die Knie. Achr aber sah sich genötigt, wie eine Katze auf den Armen des Mädchens Zuflucht zu suchen. Anfangs hatte er sich mit seinen Krallen selber am Bootsrand festgehalten, doch das kitzelte die Glua.
»Wenn du das nicht läßt«, drohte sie, »rolle ich mich auseinander, und dann könnt ihr zusehn, wie ihr ins Zauberland kommt.«
»Aber dein Boot ist ziemlich löchrig«, nahm Ah ihren Freund in Schutz. »Wenn das so weitergeht, finden wir uns sowieso im Wasser wieder.«
»Keine Bange«, sagte die Schlange beschwichtigend, »höher steigt das Wasser nicht. Nasse Füße mußt du allerdings in Kauf nehmen.«
Die Glua schwamm, den Kopf hoch aufgereckt, wie ein Schwan. Allmählich richteten sie sich ein. Ah und der Tiger wurden mutiger, klammerten sich jetzt weniger ängstlich aneinander und hielten neugierig nach allen Seiten Ausschau.
DIE BEGEGNUNG MIT ARACHNA
Das Tal der Uiden lag mittlerweile weit hinter ihnen, die Ufer waren höher und schroffer geworden. Das Wasser, zwischen Felswänden eingezwängt, strömte nun schneller dahin. Weiter vorn aber teilte sich der Dunkle Fluß in zwei Arme. Die drei glitten genau auf eine Insel zu, die in der Mitte lag und ihn spaltete.
Die Glua kannte diese Stelle ganz offensichtlich, denn sie schwenkte mit ihren beiden Gästen zielstrebig nach rechts ab.
Als sie auf Höhe der Insel waren, bot sich ihnen ein Anblick, der den Tiger an heimische Gefilde erinnerte: Das Eiland hatte jetzt flache sandige Ufer, und überall waren mächtige Findlinge verstreut.
Direkt am Wasser aber stand eine riesengroße Frau. Ihre langen, aufgelösten Haare flatterten im Wind, und ihre Augen waren unverwandt auf die Ankömmlinge gerichtet. Selbst aus dieser Entfernung konnte man die Bosheit und Arglist in ihrem Blick erkennen, der jetzt allerdings auch Erstaunen und unverhohlene Freude ausdrückte.
Die Riesin fuchtelte mit den Armen und schrie, wobei sie zwischendurch drohend die Fäuste schüttelte:
»Zu Hi-ilfe! Rettet mich! Ihr sollt mich mitnehmen!«
Obwohl Ah dieser Frau noch niemals begegnet war, spürte sie, daß es sich um keine völlig Fremde handelte. Schon allein wegen ihrer Körpermaße gehörte sie eindeutig zum Stamme der Uiden.
Soll das etwa die sagenumwobene Urahnin sein, die vor langer Zeit auf so geheimnisvolle Weise verschwunden ist? dachte das Mädchen. Wie hat sie bloß die Jahrhunderte überlebt? Wär schon nicht schlecht, sich mal mit ihr zu unterhalten.
Die Riesin beugte sich, als das Boot vorbeiglitt, blitzschnell herüber und versuchte, danach zu greifen.
Die Glua schüttelte energisch den Kopf und wich scharf zur Seite aus. Durch diese heftige Bewegung drehte sie sich samt ihren Gästen und stand nun quer zur Strömung. Um sich wieder in Fahrtrichtung zu bringen, schlug sie heftig mit dem Schwanz, doch darauf hatte die Riesin nur gewartet. Sie packte den Schwanz der Schlange mit beiden Händen und rief triumphierend:
»A-a-ah, jetzt kommt ihr mir nicht mehr davon!«
Zunächst kämpfte die Frau vergeblich gegen die Glua, die sich ihr energisch widersetzte. Die Schlange war stark, und wahrscheinlich wäre die Riesin unterlegen, hätte sie nicht einen Felsblock entdeckt, um den sie den Schwanz wickeln konnte. Sie verknotete ihn sogar, so daß die Glua gefangen war. Das Boot löste sich Ring um Ring auf.
»Haltet euch fest, Kinder«, zischte die Glua, so laut sie konnte, »dieses verdammte Weibsbild rollt mich total auf!«
Dieser Warnung hätte es nicht erst bedurft. Das Mädchen und der Tiger klammerten sich verzweifelt an den Hals der Schlange, was jedoch nicht verhinderte, daß sie pudelnaß wurden.
Die Glua dachte gar nicht daran, sich der Riesin zu ergeben. Im Gegenteil, jetzt, da sie nicht mehr krampfhaft das Boot zusammenhalten mußte, konnte sie sich voll auf den Kampf mit ihr konzentrieren.
Arachna aber – denn es handelte sich in der Tat um die böse Hexe, die der Tiger erwähnt hatte – wollte nichts als zurück zur Erde. Nach ihrem Versuch damals, sich zur Herrscherin über das Zauberland aufzuschwingen, war sie vom Eisernen Ritter Tilli-Willi und dem Riesenadler Karfax besiegt worden. Sie war von der Todesklippe gestürzt, und alle hatten sie für tot gehalten.
Warum habe ich sie bloß aufgefangen und auf diese unbewohnte Insel gebracht, dachte die Glua ärgerlich. Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit!
Damit, daß Arachna die Schlange am Felsen festband, hatte sie ihr jedoch gleichzeitig eine Stütze gegeben. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es der Glua, den Körper aus dem Fluß zu schleudern, so daß sie wie ein Pfahl über dem Wasser aufragte.
Ah und der Tiger mußten das Manöver mitmachen, wurden auf diese Weise aber wenigstens aus dem nassen Element befreit.
Der Riesin dagegen gefiel die Sache weniger. Wie sollte sie die Schlange nun zwingen, auf ihre Wünsche einzugehen? Sie würde sich bestimmt bald wieder losreißen.
Arachna überlegte fieberhaft, und erfinderisch wie sie war, kam ihr auch eine Idee. Wenn sich das Mädchen und der Tiger am Hals der Glua festhalten konnten, warum dann nicht sie? Schließlich war sie viel stärker. Sie mußte nur den gewaltigen Sprung wagen.
Wenn ich die Schlange nicht verfehle, dachte Arachna, hat sie gar keine andere Wahl, als mich mitzunehmen.
Der Sprung gelang. Die Schlange, die begriff, was die Riesin beabsichtigte, sah zunächst keine Möglichkeit, sie an Land zurückzuwerfen. Sie würde dabei nur die beiden Passagiere gefährden, die ohnehin alle Mühe hatten, sich an ihrem nassen, glitschigen Hals festzuhalten.
Doch dann griff sie zu einer List. Zwei Höcker oben an ihrem Hals formend, zwischen denen sie das Mädchen und den Tiger sicher einbettete, richtete sich die Glua erneut zu voller Höhe auf. Sie hoffte, die Riesin würde keinen Halt mehr finden und abrutschen. Wenn sie nicht vorher absprang, würde sie auf den Stein prallen, an dem sie den Schwanz festgebunden hatte. Das würde ihr eine Lehre sein!
Aber die Schlange irrte sich. Arachna verstand sich hervorragend aufs Klettern. Die Riesin umklammerte mit Armen und Beinen den Leib der Glua und kraxelte, statt abzurutschen, behende immer höher.
Inzwischen ragten die beiden Halshöcker so hoch in die Luft, daß Ah unter sich kaum noch etwas erkennen konnte. Als die Schlange dann noch mit dem Kopf in eine dichte Wolkendecke über den Felsgipfeln eintauchte, vermochte das Mädchen überhaupt nichts mehr zu sehen. Und erst nachdem die Glua diesen Nebel, der an Schlagsahne erinnerte, durchbrochen hatte, begriff der Tiger plötzlich, wohin es sie verschlagen hatte!
»Das ist ja die Todesklippe!« fauchte er mit gesträubtem Fell, denn der Ort war gefürchtet. Aber gleich darauf wurde ihm bewußt, dem Unterirdischen Reich entronnen zu sein und sich nun wieder im Zauberland zu befinden.
Alle Bewohner des Zauberlandes kannten diese Klippe, die so furchterregend war, weil sie sich über einem bodenlosen Abgrund erhob.
Wie sich nun herausstellte, war dieser Abgrund gar nicht bodenlos! Er führte nur in ein ganz anderes Land, ins Unterirdische Reich der Uiden. Aber da nie jemand lebend dorthin gelangt oder gar zurückgekehrt war, überraschte es auch nicht, daß keiner etwas von der Existenz dieses Reiches wußte. Nur ein Wunder in Gestalt der Großen Glua hatte die Riesin Arachna seinerzeit erretten und dem Tiger Achr jetzt die Rückkehr in seine Heimat ermöglichen können. In seiner Begleitung aber durfte das Uidenmädchen Ah zum erstenmal in ihrem Leben das Oberirdische Reich betrachten: den blauen Himmel, die orangen leuchtende Sonne, die Berge im Licht, die Wälder und die Große Wüste.
Zweifelsohne hätte das Zauberland den Tiger Achr mit Vergnügen wieder aufgenommen, zumal er jetzt geläutert war. Auch den Gast aus dem Unterirdischen Reich der Uiden, das Mädchen Ah, hätte es willkommen geheißen. Die Riesin Arachna dagegen wünschte man dort ganz bestimmt nicht wiederzusehen. Aber leider hielt sich die Hexe nicht daran und tat alles, gleichfalls nach oben zu gelangen.
Die Glua hatte sich zu ihrer ganzen Größe aufgerichtet, um die beiden Passagiere auf der Todesklippe abzusetzen. Sie vibrierte vor Anspannung wie eine straff gespannte Saite, ihr Kopf beschrieb gewaltige Kreise in der Luft, so daß es den Tiger und das Mädchen um ein Haar gegen den Felsen geschlagen hätte.
Das aber hinderte Arachna nicht daran, wie eine Riesenraupe am Körper der Schlange emporzuklettern. Sie erinnerte sich, daß sie vor langer, langer Zeit von diesem Felsen in die Tiefe gestürzt und auf wundersame Weise von der Großen Glua mitten im Fluge aufgefangen worden war. Deshalb hoffte sie, auf demselben Wege, nur eben in umgekehrter Richtung, wieder zurück ins Zauberland zu gelangen, wo sie neue Bosheiten ersinnen und sich wie früher vom Volk der Zwerge bedienen lassen konnte.
Endlich hatte die Glua es geschafft, Ah und den Tiger weich auf dem Gipfel der Todesklippe abzusetzen. Sie wollten sich gerade voneinander verabschieden, als urplötzlich die Riesin aus der weißen Wolkenschicht auftauchte. Nicht mehr lange, und sie würde gleichfalls den Gipfel erreichen!
»Lauft schnell weg!« zischte die Glua. Dann schleuderte sie Arachna mit einer letzten Kraftanstrengung gegen die Felswand.
Die Schlange war so erschöpft von all diesen Mühen, daß sie gleich darauf entkräftet in sich zusammenfiel. Bloß gut, daß Arachna meinen Schwanz am Uferstein festgebunden hat, dachte sie, ich würde in den Fluten ertrinken.
DIE VERFOLGUNG
Alles ging so furchtbar schnell, daß keiner der Beteiligten auch nur zum Luftholen kam. Ehe sie sich’s versahen, war die Schlange wieder in dem milchigen Nebel versunken, das Mädchen und der Säbelzahntiger lagen auf dem flachen Plateau der Todesklippe, während die Riesin wie betäubt den steinigen Abhang hinunterrollte.
Nun waren sie ganz auf sich gestellt.
Das Mädchen Ah sprang sofort auf die Beine und schaute sich mit großen, vor Staunen weit geöffneten Augen in der neuen, für sie völlig ungewohnten Umgebung um. Ihr wäre nie und nimmer in den Sinn gekommen, daß ihr hier, in dieser freundlichen Welt, eine Gefahr drohen könnte.
Die Begeisterung des Tigers dagegen hielt sich in Grenzen. Zwar freute er sich, wieder zu Hause zu sein, doch sein Raubtierinstinkt blieb wach und ließ ihn zunächst vorsichtig nach allen Seiten spähen.
Er entdeckte schnell die Riesin, die reglos auf dem Abhang lag, und er mißtraute dieser Reglosigkeit; schließlich war Arachna für ihre Hinterlist bekannt. Er selbst würde mit ihr ja noch einigermaßen fertig werden, doch das arglose Mädchen Ah war ihr ausgeliefert. Er kannte die Geschichte vom Gelben Nebel und wußte, wozu die Riesin fähig war. Ihr mißfiel bestimmt, daß es Augenzeugen für ihre schmachvolle Ankunft im Zauberland gab, und gewiß wollte sie so lange wie möglich unentdeckt bleiben, um neue Gemeinheiten auszuhecken. Also würde sie alles daran setzen, ihn und Ah auszuschalten, damit niemand etwas von ihrer Anwesenheit verraten konnte.
Achr war also zur Verteidigung bereit, klopfte mit der Schwanzspitze schon ungeduldig auf die Erde. Doch die Riesin am Abhang dachte vorerst nicht daran, über sie herzufallen! Es sah eher so aus, als würde sie an gar nichts denken. Sie regte sich nicht, gab keinerlei Lebenszeichen von sich.
Vielleicht ist sie tot? sagte sich der Tiger hoffnungsvoll, und einen solchen Gedanken konnte man ihm fast nicht verübeln.
Ah dagegen schlug vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen und rannte schnurstracks zu der Riesin.
»Laß mich los«, protestierte Ah, »vielleicht braucht sie unsere Hilfe!«
»Aber Arachna ist böse und gefährlich.«
»Erst einmal müssen wir feststellen, ob sie sich verletzt hat.«
»Na gut, aber dann geh ich voran«, erklärte der Tiger entschieden. Er staunte selber, wie nachgiebig er geworden war.
Achr sprang voraus und näherte sich behutsam der Riesin. Arachna lag tatsächlich in einer tiefen Ohnmacht. Sie hatte sich beim Klettern total verausgabt, und der Aufprall auf die Steine hatte ihr das Bewußtsein genommen. Doch sie atmete, und von einer Verletzung war nichts zu sehen.
»Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden«, beharrte Achr, »schließlich hat uns auch die Schlange Glua zur Flucht geraten. Wacht Arachna erst mal auf, ist es womöglich zu spät. Außerdem wird sich ihre Ankunft ohnehin bald herumsprechen. Im Zauberland wachen Tausende von Augen und Ohren über alles, was geschieht. In der Luft kreisen die Riesenadler mit Karfax an der Spitze, und es gibt die Vogelpost der Krähe Kaggi-Karr. Auf dem Boden wiederum sind die Zwerge allgegenwärtig; sie tarnen sich so geschickt, daß man sie selbst bei genauem Hinschauen nicht entdeckt. Unter der Erde schließlich tummelt sich das Mäusevolk der Königin Ramina.«
Wer wußte besser als die einstige Raubkatze Achr, daß die Bewohner des Zauberlandes stets auf der Hut vor allen möglichen Feinden waren.
Ah sah unschlüssig den Tiger an, dessen Fell sich vor Besorgnis sträubte, dann richtete sie den Blick wieder auf Arachna. Die Zauberin lag schmutzig und mit wirrem Haar noch immer leblos da, ihr Gesicht wirkte trotz der Ohnmacht böse und hinterhältig.
Achr hat recht, dachte das Mädchen, er kennt die Riesin besser als ich und weiß, wozu sie fähig ist. Außerdem stimmt es ja, bisher habe ich nur Schlechtes über sie gehört! Deshalb sagte sie entschlossen:
»Also gut, laß uns fliehen. Doch wir wollen dem ersten, dem wir begegnen, mitteilen, daß hier am Abhang eine Frau liegt, die Hilfe braucht.«
Der Tiger war einverstanden. Er wollte die Bewohner des Zauberlandes ja gleichfalls von der Ankunft der Hexe in Kenntnis setzen. Sollten sie selbst entscheiden, wie sie mit ihr verfuhren.
Doch plötzlich hielt er in seinen Überlegungen inne und dachte verwirrt: Aber wo soll ich überhaupt hin? Die Leute hier werden mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, denn sie kennen mich ja nur als gefährlichen Räuber. Außerdem bin ich in Begleitung eines Riesenmädchens, das dazu noch Ähnlichkeit mit Arachna besitzt. Meine Chancen werden sich dadurch bestimmt nicht verbessern.
Achr seufzte bekümmert. Wär schon nicht übel, jetzt dem Höhlenlöwen Grau und den fünf Säbelzahntigern zu begegnen, dachte er. Mit denen würde ich sicherlich eine gemeinsame Sprache finden…
Genau, das war es! Die Löwen und das Rudel waren zur Grenze zwischen dem Zauberland und der Großen Wüste aufgebrochen, wo sich der Tunnel zum Planeten Rameria befand; der Tiger hatte sie damals belauscht. Dort waren die Ramerianer mit Grau gelandet, dorthin waren der Tapfere Löwe, der Eiserne Holzfäller, der Weise Scheuch und die anderen Bewohner des Zauberlandes geeilt. Auch der Drache Oicho hatte diesen Ort angeflogen, immer aufs neue schwer beladen mit irgendwelchem Gerät. Wie die Vögel erzählten, wollten die Außerirdischen ein Schiff bauen.
Alles klar, sagte sich Achr. Wenn schon vor Arachna fliehen, dann dorthin! Die Truppe, die sich da versammelt hat, ist so groß, daß sie es sogar mit der Riesin aufnehmen kann. Falls es ihr in den Sinn kommt, Ah und mich zu verfolgen.
Nun war er etwas zuversichtlicher. Er warf einen letzten prüfenden Blick auf die Hexe und lief los. Das Mädchen schloß sich ihm an.
Sie hatten einen mehrstündigen Weg vor sich, der über steinige Pfade immer bergab führte. Für Achr war die Strecke nicht besonders schwierig, er hatte nur Sorge, Ah könnte stolpern oder gar abrutschen. Doch schon bald stellte er beruhigt fest, daß die kleine Uidin ganz hervorragend mit dem felsigen Grund zurechtkam. Aufgewachsen im Unterirdischen Reich, war sie mit Gestein und Hügeln bestens vertraut.
Das Mädchen selbst aber, vertieft in den Anblick dieser neuen herrlichen Welt, nahm die Schwierigkeiten gar nicht wahr. Unten angelangt, stand sie staunend, ja geradezu hingerissen, vor einer Baumgruppe, und gleich im ersten Wäldchen, das sie erreichten, tat sie sich an Beeren und Früchten gütlich, die hier in großen Mengen wuchsen.
Achr durchstreifte inzwischen das Unterholz und kam nach einer Weile gleichfalls zufrieden zurück. Er leckte sich noch die Lippen von dem schmackhaften Braten, den er ergattert hatte.
Bald darauf gelangten sie an einen Bach mit kristallklarem Wasser, und der Tiger wußte, daß es bis zu ihrem Ziel nicht mehr weit war.
Plötzlich vernahmen sie einen gewaltigen Schrei, der als Echo von Berg zu Berg widerhallte. Wie angewurzelt blieben die beiden stehen und schauten sich um.
Arachna war wieder zu sich gekommen, hatte sich an Ah und den Tiger erinnert und die Verfolgung aufgenommen. Sie eilte mit Riesenschritten, ohne auf Hindernisse zu achten, den Berg hinunter und riß dabei ganze Geröllawinen mit sich. Wie sie so, über die Spalten und Felsvorsprünge setzend, zielstrebig näherkam, erinnerte sie an eine Gewitterwolke, die wenig Gutes verhieß.
»Bloß weg hier!« rief der Tiger dem Mädchen zu und sauste los. Ah, die nicht seine Sprungkraft besaß, aber größere Schritte machen konnte, folgte ihm ohne Schwierigkeiten.
Es war eine Art Wettrennen zwischen ungleichen Gegnern, denn Arachna hatte sich schnell von den erlittenen Strapazen erholt. Unter anderen Bedingungen hätte es dem Mädchen sogar Spaß gemacht, frei dahinzulaufen, nicht überall an Grenzen zu stoßen wie in ihrem unterirdischen Tal. So dagegen überwog die Furcht. Obwohl ihr andererseits nicht in den Sinn wollte, daß eine aus ihrem Stamm etwas Schlimmes mit ihnen vorhaben sollte.
Die Riesin kam immer näher, im allgemeinen gewann sie solche Wettrennen. Achr, der nach Verbündeten Ausschau hielt, spornte seine Freundin noch mehr an, denn sie mußten gleich am Ziel sein. Aber wo blieben der Tapfere Löwe, der Höhlenlöwe Grau, der gewaltige Drache Oicho? Niemand, nicht einmal ein Tiger seines ehemaligen Rudels, war zu sehen.
Armer Achr! Woher hätte er wissen sollen, daß der Katamaran »Arsak« längst fertiggestellt und auf große Fahrt gegangen war. Mit Kau-Ruck und Sor von der Rameria, durch die Große Wüste nach Kansas zu den Farmersleuten Smith. Dort hatte sich Chris, der Sohn der berühmten »Fee des Tötenden Häuschens« Elli, zu ihnen gesellt, und gemeinsam waren sie zum Golf von Mexiko aufgebrochen, um dort nach dem Einbeinigen Seemann Charlie Black zu suchen. Dieser alte Seebär war ja mit seinem Schiff auf ein Korallenriff gelaufen und gesunken. Doch auch der Höhlenlöwe Grau mit seinen Säbelzahntigern war weit weg. Die Tiere hatten längst Abschied von den Bewohnern des Zauberlandes genommen, die damals ihre Zelte am Bauplatz aufgeschlagen hatten und jetzt in einem abgelegenen Wäldchen lebten. Sie hätten im Kampf gegen Arachna allein allerdings sowieso nichts ausrichten können. Dazu hätten sie wenigstens den Eisernen Ritter Tilli-Willi gebraucht.
In der Ferne tauchte der Schwarze Stein des Zauberers Hurrikap auf, den der Tiger unbedingt erreichen wollte, weil dort der Eingang zum Tunnel war. Arachna hatte inzwischen den Berg hinter sich gelassen und war ihnen dicht auf den Fersen. Sie sprühte vor Zorn, daß die beiden ihr zu entkommen drohten. Wenn sie Achr und Ah nicht wieder einfing, würde bald jeder im Zauberland von ihrer Rückkehr wissen. Dabei hatte sie doch vor, seine aufsässigen Bewohner, all diese Käuer, Zwinkerer und Springer, ein für allemal zu unterwerfen. Schnell und ohne daß sie eine Ahnung von der Gefahr bekamen, sollte das gehen. Deshalb mußte sie den Tiger und das Mädchen um jeden Preis schnappen und zu sich in ihre alte Höhle bringen. Dort hausten ihre einstigen Diener, die Zwerge, die ihre Herrin ordentlich aufpäppeln würden. Sobald sie sich dann von allen Strapazen erholt hatte, würde sie ans Werk gehen.
Die beiden da vorn konnte Arachna übrigens gut für ihre Pläne gebrauchen. Sie hatte in Ah ihre Stammesgenossin erkannt und hoffte, sie ohne Mühe zur Mithilfe zu gewinnen. Auch Achr war gewiß kein Problem, sie glaubte seinen hinterhältigen Charakter genügend zu kennen. Das Tierchen würde sich bestimmt nicht lange bitten lassen, würde ihr seine Gefolgschaft nicht verweigern! Schade, daß sie nicht schon früher auf die Idee gekommen war, das Rudel der Säbelzahntiger für ihre Ziele einzuspannen.
Achr wendete inzwischen den Kopf gehetzt nach allen Seiten, in der Hoffnung, einen Menschen oder ein Tier zu entdecken. Doch vergeblich, die Gegend war wie ausgestorben. Was sollte er bloß machen? Fast hatte die Riesin sie schon eingeholt, ihr Hohnlachen klang ihm dröhnend in den Ohren:
»Gleich hab ich euch, meine Täubchen, wartet nur!«
»Na los«, rief Achr in letzter Not dem Mädchen zu, »beeil dich, lauf zu dem großen schwarzen Stein dort drüben und klettre hinauf!«
Ah wußte nichts von Hurrikap und dem Tunnel zur Rameria, dennoch folgte sie der Aufforderung. Die Worte der Hexe klangen wirklich nicht freundlich. Sie erreichte den Stein und sprang hinauf.
Achr aber half ihr, indem er sich der Riesin jäh in den Weg stellte. Er ließ sein lautestes Brüllen hören und sprang sie mit aller Kraft an. Dabei schnappte er nach ihrem Finger, so daß sie erschrocken zurückprallte und sich aufs Hinterteil setzte.
»Bleib schön hier sitzen, du alte Hexe«, fauchte der Tiger und jagte dem Mädchen hinterher.
»Das wirst du mir büßen!« schrie Arachna wütend und rappelte sich wieder auf.
Mit zwei, drei Schritten hatte sie Hurrikaps Stein erreicht, doch die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt.
ARACHNAS TRAUM
Die Riesin schüttelte ungläubig den Kopf. Sie traute ihren Augen nicht und beschloß deshalb, sich mit den Händen davon zu überzeugen, daß tatsächlich niemand mehr da war. Der mächtige Stein des Zauberers Hurrikap reichte ihr gerade mal bis zur Hüfte, und sie begann ihn abzutasten. Doch mit einemmal wurde sie von einem Sog erfaßt. Die Oberfläche des Felsbrockens gab nach, und obwohl Arachna verzweifelt Widerstand leistete, stürzte sie kopfüber in einen steinernen Tunnel.
Es war ja, wie wir aus früheren Geschichten über das Zauberland wissen, die Eigenart dieses verhexten Steins, jeden anzuziehen, der sich ihm näherte. Die Öffnung oben, die den Eingang zum Tunnel bildete, war für das Auge unsichtbar, der Schacht selber aber verband die Erde mit einem fernen Planeten, der Rameria. Ein Abzweig führte durch das sogenannte Elmenland sogar noch zur Irena, einem zweiten Himmelskörper.
Das Mädchen Ah und der Tiger Achr waren ebenfalls in den Tunnel gerutscht, hatten jedoch einen gehörigen Vorsprung. An eine Verfolgung durch die boshafte Arachna war deshalb nicht mehr zu denken.
Doch wie sich herausstellte, besaß der geheimnisvolle Stein noch eine andere Eigenschaft. Es war, als würde er mitsamt dem Schacht plötzlich verschwinden, sich in Luft auflösen. Im Moment, da die drei in ihn eingetaucht waren, setzte er sich in Bewegung und entführte die Riesin – nicht etwa zu einem fremden Planeten, sondern in die Vergangenheit! Der Tunnel reichte auf einmal um Tausende von Jahren bis in eine längst entschwundene Zeit zurück.
Dort wurde Arachna, die als letzte geschluckt worden war, jäh wieder ausgespuckt. Das alles aber geschah so unvermutet und schnell, daß sie nicht das geringste von dem ganzen Vorgang begriff.
Der Tiger und das Mädchen Ah eilten – so viel sei schon jetzt verraten – gleichfalls in die Vergangenheit, unverhofften Abenteuern entgegen. Sie trafen erneut auf die Schlange Glua und, wer würde es für möglich halten, sogar auf den Großen Zauberer Hurrikap! Arachna aber wurde mit ziemlicher Wucht in die Höhe geschleudert und plumpste wie ein Mehlsack zu Boden. Ihren Fliegenden Teppich, auf dem sie im Zauberland durch die Lüfte gesegelt war, ohne abzustürzen, hatte sie hier ja nicht zur Verfügung. Beim Aufschlag prallte sie mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor die Besinnung.
Sie lag eine ganze Weile in einem schlimmen Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen, konnte sich nicht vorstellen, wo sie war. Sie hatte überall blaue Flecken. Von dem Sturz taten ihr sämtliche Knochen weh, und der Boden, auf dem sie lag, war hart und steinig. Sie hätte sich gern erhoben, vermochte es aber nicht.
Dann drangen unvermutet längst vergessene Bilder auf sie ein. Es waren Erinnerungen, aber nicht etwa aus dem Zauberland, sondern aus einer unendlich fernen Vergangenheit. Sie war noch ein Kind, vielleicht so groß wie Ah, der sie vorhin nachgejagt war, und befand sich in einer weiten ebenen Landschaft. Berge ragten in der Ferne auf, riesige Steinblöcke lagen herum, und hinter einem Felsen hervor kam plötzlich eine Riesin auf sie zugerannt, die noch viel größer war als sie selbst. Sie gebärdete sich höchst unfreundlich, drohte ihr und schimpfte so laut, wie es Arachna lange nicht mehr erlebt hatte: »Nichtsnutziges Ding, Schmutzfink, Rumtreiberin, findest du dich endlich wieder zu Hause ein! Wo hast du so lange gesteckt, und was hast du in der Zwischenzeit angestellt? Dir werd ich zeigen, daß du zu gehorchen hast!« Sie fiel mit Püffen und Nasenstübern über Arachna her, von denen die schwächsten einem Kamel hätten die Höcker brechen können.
Arachna, völlig verblüfft, träumte weiter, daß sie aufsprang und sich ihrer Haut zu wehren begann, sich gegen die Schläge der anderen verteidigte.
»Was willst du von mir, weshalb verprügelst du mich«, rief sie, »ich habe dir nichts getan, ich kenne dich ja gar nicht!«
Doch das stimmte nicht, sie hatte selbst das Gefühl, diese Frau schon gesehen zu haben, und die Riesin brach auch gleich in ein Hohngelächter aus:
»Ich hör wohl nicht recht, mein Täubchen«, schrie sie, »du willst mich, deine leibliche Mutter Karena, nicht kennen?! Das ist der größte Blödsinn und die dümmste Behauptung, die mir je untergekommen sind. Du bist das mißratenste kleine Biest, das auf Erden herumläuft, auch wenn du ständig deine Unschuld beteuerst. Du bist genauso hinterlistig wie dein Vater Arachn, den ich glücklicherweise verlassen habe, bevor du zur Welt kamst!«
Arachna war regelrecht betäubt von diesem Wortschwall, und während die Frau weiterblaffte, sie erneut zu packen und schütteln versuchte, überlegte sie fieberhaft, was an der Geschichte wahr sein könnte. Ja, es stimmte, auch sie war einst ein kleines Mädchen gewesen, hatte eine Mutter gehabt, die mit ihr schimpfte und mit der sie sich stritt. Von der sie oft weglief, sich irgendwo versteckte. Eine große starke Riesin, wie diese hier, mit denselben Händen, denselben Gesichtszügen.
Arachnas Kopf brummte wie ein siedender Kupferkessel, doch der Traum brachte ihr immer neue Erinnerungen. An ein Land, in dem es rauh und unwirtlich war und wo es zwei Mühlen gab, die ständig Lärm machten. An eine Schlucht, über der stets dicke gelbe Wolken standen, und an ein riesiges steinernes Schloß, in dem sie und ihre Mutter Karena zu Hause waren.
Wirklich, es war beeindruckend, dieses Schloß mit seinen starken Mauern und dem hohen Turm. Von weitem glich es einem einfachen Felsen, war jedoch meisterhaft aus einem einzigen Granitblock herausgehauen. Je näher man diesem Felsen kam, desto deutlicher wurde, daß es sich um eine gewaltige Wohnstatt handelte. Man konnte sie gut und gern mit den majestätischen Ritterburgen des Mittelalters vergleichen, nur daß sie noch viel wuchtiger war. Zwar fehlte dem Schloß etwas die Eleganz, und es hatte keinerlei Schnörkel oder Verzierungen, dafür war es aber umso fester und stabiler.
Das Schloß hatte mehrere Säle und Schlafgemächer, lange dunkle Gänge und Gewölbe, in denen Arachna sich versteckte, wenn es wieder mal Krach gab. Und dann – richtig – waren da auch noch winzig kleine Gestalten, die überall herumrannten, in den Räumen, auf den Fluren und auf dem Vorplatz, so daß man höllisch aufpassen mußte, um keine von ihnen versehentlich zu zertreten.
Natürlich, das waren die Zwerge, von denen auf Arachnas Handfläche bequem ein Dutzend Platz gefunden hätten. Sie waren die Untergebenen Karenas, dienten ihr, sorgten dafür, daß die Riesin und ihre Tochter immer gut versorgt waren. Denn ungeachtet ihres geringen Wuchses, waren diese Wichte ganz normale und vor allem fleißige Leute. Sie erfüllten ernsthaft ihre Aufgaben und besaßen einen so natürlichen Stolz, daß Arachna überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sich über sie lustig zu machen.
Ja, die Zwerge – Männer, Frauen und sogar Kinder – waren stets dagewesen, wenn man sie brauchte. Unter ihnen gab es nicht nur Jäger und Landwirte, Erzgräber und Schatzsucher, Zimmerleute und geschickte Kunstschmiede, sie verstanden sich auch bestens auf die Hauswirtschaft, konnten ausgezeichnet kochen und backen. In ihrem Traum sah Arachna, die langsam aus ihrer Betäubung erwachte und im Unterbewußtsein merkte, daß ihr ungeheuer der Magen knurrte, die kleinen Kerle, wie sie Pfannen und Töpfe herbeischleppten. Sie brachten Brot, Fleisch, Kuchen und Wein, und das Mahl war so üppig, daß der Hexe aus dem Zauberland das Wasser im Mund zusammenlief.
DAS LAND TAUREKIEN
Doch was Arachna für einen Traum gehalten hatte, war bis zu einem gewissen Grad durchaus Wirklichkeit. Der Schwarze Stein des Hurrikap hatte sie tatsächlich ins Land ihrer Mutter Karena zurückgetragen. Vor Tausenden von Jahren, das ist in einem früheren Buch beschrieben, war sie von dort hergekommen, hatte großes Unglück über die anderen Bewohner des Zauberlandes gebracht. Nun war sie in ihre Kinderzeit zurückversetzt worden und in eine Lage geraten, die sie unmöglich hatte vorhersehen können.
Denn zwischen der herrschsüchtigen Riesin Karena und den sanftmütigen Zwergen stand es in diesen Tagen ganz und gar nicht zum besten. Die Zwerge waren die Ureinwohner dieses Landstrichs, sie hatten ihr Reich Taurekien genannt und bezeichneten sich selbst als Taureker. Keiner von ihnen hätte freilich sagen können, wann Karena in dieser Gegend aufgetaucht war. Dabei hielten sie das Andenken an ihre Vorfahren sehr hoch, führten eine genaue Chronik über sämtliche Geschehnisse.
Da aber niemand mehr wußte, wie lange die Riesin hier lebte, meinten die Zwerge, daß es schon immer so gewesen sei und sie folglich seit jeher ihre Untertanen wären.
Deshalb hätten sie es auch hingenommen, ihr zu dienen, wäre Karena nicht so böse, zänkisch und aufbrausend gewesen. Gutmütig wie diese kleinen Menschen waren, hätten sie ihr sogar freiwillig Gefolgschaft geleistet, hätte sich nicht ihr ganzer Stolz gegen die strenge, ungerechte Behandlung aufgebäumt, die ihnen widerfuhr. Karena bestrafte sie nämlich auf grausame Weise für jede noch so geringe Unachtsamkeit.
Doch was sollten sie tun. Gewiß, sie konnten einfach davonlaufen, sich verstecken – die Riesin würde sie ganz bestimmt nicht wiederfinden. Sie waren ja Meister der Tarnung! Wenn sie ihre grauen Capes und Zipfelmützen anlegten, waren sie auf dem steinigen Grund nicht mehr zu sehen. Außerdem gab es unzählige Bodenlöcher, Spalten und Höhlen, in die sie kriechen konnten. Selbst von ihresgleichen waren sie dann kaum zu entdecken, geschweige denn von der Alten aus ihrer gewaltigen Höhe herab.
Auf Dauer allerdings konnten sich die Taureker trotz allem nicht verbergen, es entsprach auch nicht ihrer Natur. Das größte Unglück aber sahen sie darin, daß Karena eine garstige Hexe war. Alle möglichen bösen Mächte waren ihr Untertan. Sie kannte unzählige Beschwörungsformeln, verstand es, Unheil und schlimme Krankheiten über die Zwerge zu bringen. Hatte sie jedoch einmal eine Formel vergessen, zog sie ihr großes Zauberbuch zu Rate. Darin war anscheinend alles Ungemach der Welt versammelt.
Außerdem besaß Karena einen großen Fliegenden Teppich, an dem wohl Generationen von Taurekern gewirkt hatten. Auf ihm flog sie in regelmäßigen Abständen ihre riesigen Besitztümer ab, um nach dem Rechten zu sehen.
Die Taureker dagegen bedienten, solange sie zurückdenken konnten, sowohl eine gewaltige Stein- als auch eine riesige Wassermühle. Sie machten den Lärm, an den sich Arachna in ihrem Traum erinnert hatte. Die Steinmühle zerkleinerte mit ihren von einem mächtigen Rad angetriebenen Mahlsteinen große Felsblöcke zu Staub. Diese Blöcke wurden vorher mühsam von den Felswänden abgeschlagen, die das flache Land Taurekiens umgaben. Auf diese Weise wollte Karena das Tal erweitern und über die Jahrtausende hin mehr Raum für sich schaffen. Das war ihr auch gelungen. Der von den Mahlsteinen aufsteigende gelbe Staub aber wurde über ein ganzes System von Rohrleitungen in die nahegelegene Schlucht gelenkt. Sie war sehr schmal, sehr tief und führte in vielen Windungen in eine unergründliche Ferne.
Die Wassermühle beruhte auf dem gleichen Prinzip. Sie wurde nicht etwa von einem Bach oder Fluß angetrieben, sondern schöpfte im Gegenteil Wasser mit vielen kleinen Schaufeleimern aus einem benachbarten See. Von einer unterirdischen Quelle gespeist, hätte dieser See Taurekien längst überschwemmt, wäre er nicht von den Zwergen stets auf dem gleichen Stand gehalten worden. Durch ein ebenfalls ausgeklügeltes Rohrsystem wurde das Wasser dann in die bereits erwähnte Schlucht geleitet. Beide Mühlräder aber wurden allein durch die Kraft der winzigen Menschen in Gang gehalten.
Die Stelle nun, wo das Wasser auf den gelben Steinstaub traf, bevor es ihn in die Schlucht hinunterspülte, war bei den Zwergen sehr gefürchtet. Mehr noch, sie war ihnen unheimlich, denn hier bildeten Steinstaub und Flüssigkeit einen dichten gelben Nebel. Er stand Tag und Nacht über der Schlucht und formte bei Wind die seltsamsten, grusligsten Gebilde. Sie erinnerten an Ungeheuer, die unablässig miteinander rangen, sich ineinander verkeilten und gegenseitig auffraßen. Wegen dieser undurchdringlichen Wolken wußte niemand, wie tief die Schlucht war und wie weit sie sich erstreckte. Denn jeder, der es wagte, in den Nebel einzudringen, erstickte darin. Das gleiche Schicksal ereilte übrigens auch alle, die bei ihrer Herrin in Ungnade gefallen waren. Sie wurden ergriffen und kurzerhand in die Schlucht geworfen.
Tag für Tag rückten zwei Zwergenheere zu den Mühlen aus. Sie kletterten ins Innere der Räder und ließen sie kreisen, indem sie von einer Strebe zur anderen klommen.
Die beiden Zwergentrupps wohnten getrennt, jeder für sich in einer eigenen Siedlung. Sie trugen auch zwei unterschiedliche Namen, die erst zusammengenommen die Bezeichnung des gesamten Zwergenvolkes bildeten. Die einen waren die Tau, die anderen die Reker.
Die Tau bedienten die gewaltige Steinmühle, die Reker waren für die große Wassermühle zuständig. Karena hatte diese Trennung einst eingeführt, um die Gruppen gegeneinander ausspielen zu können. Auf ihr spezielles Geheiß hin mußten sich die Zwerge sogar unterschiedlich kleiden – die Tau trugen Gelb, die Reker Blau.
Jede Stammesgruppe besaß ihren Ältesten. Den Tau stand ein gewisser Kastao vor, ein Männchen mit üppigem Bart, die Reker dagegen wurden von Antreno angeführt, dessen Bart zwar nicht ganz so üppig, dafür aber schön lang war. Die zwei waren keineswegs miteinander verfeindet, obwohl die Hexe Karena das ganz gern gesehen hätte. Sie sagte sich, daß es bestimmt besser war, wenn die beiden ihren Zorn gegeneinander richteten als gegen sie und ihre Mühlen.
Tau und Reker aber hielten Freundschaft. Sie besuchten sich gegenseitig, feierten gemeinsam, die jungen Männer und Frauen des einen Stammes konnten sogar in den jeweils anderen aufgenommen werden, wenn sie es wünschten. Zu diesem Zweck wechselten sie einfach die Farbe ihrer Kleider und zogen in das andere Lager.
All jene Zwerge, die in Karenas Schloß lebten und ihr unmittelbar dienten, trugen graue Gewänder. Sie bildeten keinen gesonderten Stamm, sondern legten morgens, wenn sie zur Arbeit erschienen, lediglich die entsprechende Kleidung an.
Die Taureker waren, wie erwähnt, freundliche Wesen, sie hatten ihr Schicksal lange geduldig ertragen, doch nun war der Tag gekommen, da sie den Entschluß faßten, der Hexe Karena den Kampf anzusagen.
Zur Nacht, als in beiden Siedlungen die Lichter verloschen waren und sich in Karenas Schloß die Hektik gelegt hatte, die dem Abendbrot und dem Zubettgehen der Hexe voranging, konnte man in einem kleinen Anbau der Steinmühle einen schwachen, rötlich glimmenden Lichtschein erspähen. Die beiden Mühlen ragten düster aus dem nächtlichen Dunkel auf, und wäre jemand mutig genug gewesen, um diese Zeit hierher zu kommen, er hätte durch ein schmales Fenster drei Taureker entdeckt. Sie saßen an einem Feuer, das direkt auf dem Steinfußboden entfacht worden war. Einer von ihnen trug die blaue Tracht der Reker – es war der Älteste Antreno. Der zweite Mann war Kastao, Abgesandter der Tau, und der dritte schließlich, ganz in Grau, war aus dem Schloß herbeigeeilt.
Die drei hatten sich hier zusammengefunden, um einen Aufstand gegen Karena vorzubereiten. Beginnen sollte es damit, daß am nächsten Tag niemand zur Arbeit erschien. Die Mühlräder würden zum erstenmal seit vielen hundert Jahren stillstehn. Sie hatten Tag für Tag nach neuer Nahrung, nach immer mehr Steinen und Wasser verlangt, nun war erst einmal Schluß damit.
Für die Hexe selbst aber hatten sich die drei Männer eine besondere Überraschung ausgedacht. Wenn sie am Morgen erwachte, sollte sie im Schloß keinen einzigen Diener vorfinden. Das Becken für ihr tägliches Bad würde leer bleiben, das Wasser zum Waschen eiskalt sein. Man würde kein Essen kochen und schon gar nicht die über Nacht ausgekühlten Gemächer heizen.
DIE KRIEGSERKLÄRUNG
Am nächsten Morgen erwachte Karena von einer Kälte, die sich sogar unter ihr dickes Federbett geschlichen hatte. Sie gähnte, streckte sich und stand fröstelnd auf. Ihre Tochter war nicht da, war nach einem Streit wieder einmal davongelaufen. Sollte sie, der Hunger würde das widerborstige Biest schon heimtreiben.
Nach alter Gewohnheit machte Karena ein paar Kniebeugen vor dem Bett, hüpfte ein paarmal auf und ab, um dann, ohne viel Federlesens, ins Badebecken zu springen. Es befand sich direkt im Schlafzimmer und war wunderbar zum Planschen geeignet. Der laute Knall, der ihrem Sprung folgte, hörte sich allerdings an, als sei ein großer Luftballon geplatzt. Karena war voller Wucht auf den Steinboden des Beckens geklatscht, in dem sich diesmal kein Wasser befand! Daß man es nicht gefüllt hatte, war noch nie passiert.
»Was habt ihr da gemacht, ihr elenden Wichte!« tobte sie. »Na wartet, ihr Halunken, das werdet ihr mir büßen! Wehe, wenn ich die Schuldigen erwische! Ich werde sie nicht nur in die Staubschlucht werfen lassen, ich werde…«
Sie erstickte fast vor Zorn, und ihr fiel nicht gleich ein, wie sie diese Taugenichtse noch bestrafen könnte.
»He, Wache!« rief sie schließlich und klatschte dreimal laut in die Hände. »Bringt sofort die Wassergießer zu mir, die für mein Bad zuständig sind. Ich will sie lehren, das Becken nicht zu füllen!«
Doch auch nachdem sie ihren Befehl dreimal wiederholt hatte, ließ sich niemand von den Dienern blicken. Nur das Echo hallte vielfach aus allen Ecken des ausgestorbenen Schlosses zurück.
»Sieh an«, grollte die Hexe, »diese Gauner machen heute anscheinend blau. Da reißen ja ganz neue Sitten ein.«
Karena sprang aus dem Becken und hastete, nur im Nachthemd, durchs ganze Schloß. Sie sauste von ihrem Schlafzimmer im obersten Stockwerk zum Speisesaal und von da bis hinunter in den Keller. »Tatsächlich«, murmelte sie, nun schon ziemlich verblüfft, »keine Zwergenseele!« Sie hatte sich im Laufe der Jahrhunderte total daran gewöhnt, daß man ihr beim Baden und Ankleiden half, ihr Essen und Trinken vorsetzte.
Dann rannte sie auf den Vorplatz, doch auch hier lag alles wie ausgestorben da. Weder Menschen noch Tiere weit und breit! Wie sich herausstellte, hatte der Schloßjäger Arkado sogar die Haustiere in die Steppe hinausgescheucht.
Das Küchenpersonal aber hatte sämtliche Lebensmittelvorräte in geheimen Gewölben versteckt, von denen Karena nicht die geringste Ahnung hatte. Der Zugang zu diesen Gewölben war so meisterhaft getarnt, daß ihn keiner entdeckte, es sei denn, er wüßte Bescheid.
Die Zwerge selbst, die im Schloß dienten, waren in ihre Siedlungen zurückgekehrt. Sie hatten ihre graue Kluft abgelegt und die Kleider ihres Stammes angezogen. Da die Riesin ihre winzigen Untergebenen sowieso nicht auseinanderhalten konnte, würde sie nie jemanden dort finden. Zumal die Taureker ehrliche und stolze Leute waren, die selbst unter Androhung der Todesstrafe keinen der Ihren verraten würden!
Karena überlegte kurz und kehrte dann entschlossen ins Schlafzimmer zurück. Sie ging zu ihrem Bett, vor dem ein hübscher Teppich lag. Es war ein Vorleger, der ihr auf angenehme Art die Füße wärmte, wenn sie
barfuß aus dem Bett stieg, der aber noch eine andere Eigenschaft besaß. Er vermochte sie über weite Entfernungen zu tragen, denn es war ihr Fliegender Teppich.
Die Hexe nahm in der Mitte Platz und befahl ihm, sie zur Siedlung an der Steinmühle zu bringen.
Schon von weitem war sie unangenehm von der ungewohnten Stille berührt, die hier herrschte. Weder das Dröhnen der Maschinen im Steinbruch war zu hören noch das Quietschen der Mühlräder.
Aber auch die Siedlung selbst wirkte wie ausgestorben. Sie lag still und verlassen da, nur über dem Haus des Ältesten Kastao wehte, laut flatternd, die große gelbe Fahne der Tau im Wind, die lediglich bei bedeutenden oder festlichen Anlässen gehißt wurde.
»Zur Wassermühle!« befahl Karena, und der Teppich schwenkte gehorsam zur zweiten Siedlung ab.
Dort erwartete sie das gleiche Bild: ein regloses Mühlrad, leere, ausgetrocknete Wasserrohre, und über dem Haus des Ältesten Antreno die blaue Fahne der Reker.
»Na wartet, meine Täubchen«, zischte die Hexe unheilvoll, »diese Bummelei wird euch teuer zu stehen kommen! Von nun an laß ich euch noch viel mehr schuften. Tag und Nacht. Ich habe genügend Mittel, euch die Mätzchen auszutreiben. Es wäre doch gelacht, wenn ich euch nicht zwingen könnte, meine Befehle auszuführen!«
»Nach Hause, auf dem schnellsten Weg nach Hause!« knurrte Karena ungeduldig und versetzte dem Teppich sogar einen Tritt. Sie konnte es nicht erwarten, wieder ins Schloß zu kommen, wo sich in einem kleinen Geheimversteck ihr berühmtes Buch befand. Darin waren Hunderte von Beschwörungsformeln aufgeschrieben, mit deren Hilfe sie sich die bösen Geister unterwarf und auf die sie jetzt all ihre Hoffnung setzte.
Der Teppich brachte Karena sicher nach Hause zurück. Nachdem er vor der Schwelle den Staub abgeschüttelt hatte, der ihm unterwegs zugeflogen war, sauste er, geschickt manövrierend, durch alle Etagen und Flure. Sich an besonders engen Stellen fast zu einem Rohr formend, landete er schließlich an seinem gewohnten Platz vor dem Bett.
Das kalte, unaufgeräumte Schlafzimmer wirkte niederdrückend auf Karena, so daß sie plötzlich das Gefühl hatte, die nächsten Jahrtausende einsam und allein, ohne die Diener und sogar ohne ihre Tochter, in diesem menschenleeren, unbehaglichen Schloß zubringen zu müssen.
Doch dann fegte sie diesen düsteren Gedanken weg und stürzte in die Zimmerecke, wo sich unter einer der fest verfugten Bodenplatten ihr Geheimfach befand. Sie drückte auf einen Knopf, von dem sie annahm, daß er nur ihr bekannt war. Die Platte, von einer Feder bewegt, glitt zur Seite und gab den Blick auf eine Vertiefung frei.
Dort allerdings blühte ihr eine neue Überraschung. Auf einem Seidenkissen lag – nicht etwa das erwartete Buch, sondern lediglich ein kleiner Zettel, ein lumpiges Stück Papier, das die Taureker ihrer Herrin Karena als Botschaft zugedacht hatten.
»Verdammt!« heulte die Hexe auf und stampfte in ohnmächtiger Wut mit den Füßen. »Sie haben mein Buch gestohlen! Diebe! Räuber! Banditen!«
In ihrem Zorn zerknüllte sie den Zettel, wollte ihn zum Fenster hinauswerfen. Doch es war zu, und so blieb das Papier auf dem Fensterbrett liegen.
Karena ließ sich schwer auf den Vorleger plumpsen. Der Teppich jedoch fing sie federnd ab und legte sie behutsam aufs Bett. Da krallte sie sich mit aller Kraft an ihm fest, als könnte auch er plötzlich verschwinden.
»Ein Glück, daß diese hinterhältigen Zwerge nur das Buch und nicht auch noch dich gestohlen haben«, sagte die Riesin und sprach zum erstenmal in einem freundlichen Ton mit ihrem treuen Teppich.
Allmählich kam sie zur Ruhe.
»Na schön«, sagte sie nach einer Weile, »wenn die Zwerge den Krieg wollen, sollen sie ihn haben. Ich bin auch ohne das Buch stark genug, mit diesen Wichten fertig zu werden. Schließlich besitze ich noch eine Geheimwaffe. Es wird Zeit, daß ich sie ausprobiere.«
Sie zog sich mit einiger Mühe an, stärkte sich recht und schlecht mit den Essensresten, die sie noch vom Vorabend an ihrem Bett fand. Sie nahm aus dem Krug zum Händewaschen einen Schluck kaltes Wasser und machte sich daran, einen Schlachtplan zu entwerfen.
KARENAS RACHE
Im Krieg ist es immer günstig, die Pläne des Gegners zu kennen. Karena erinnerte sich, die Botschaft der Zwerge weggeworfen zu haben, deshalb ging sie zum Fenster, um nach dem Zettel zu suchen. Sie entdeckte das zusammengeknüllte Papier, entfaltete es und las:
HOCHVEREHRTE HERRIN!
Noch nie in der Geschichte der Taureker haben wir aufbegehrt, doch heute wenden wir uns mit einer dringlichen Bitte an Euch. Was wir wünschen, ist nichts weiter, als daß Ihr uns so behandelt, wie es ehrliche und fleißige Leute verdienen. Es steht Euch nicht zu, uns wegen jedes noch so kleinen Vergehens oder einfach nach Eurem Belieben in die Staubschlucht zu werfen. Wir sind zwar klein von Wuchs, aber dennoch lebendige Menschen, die Gerechtigkeit verlangen! Dies ist unsere erste und letzte Bitte. Solltet Ihr dem Wunsch nicht nachkommen, werden die Mühlräder fortan stillstehen.
Wir hoffen, daß Ihr uns diese Güte gewährt, und schwören zum Dank dafür, Euch und Euren Nachfahren bis ins siebente Glied zu dienen! Doch erwarten auch wir, daß Ihr schwört, für immer Wort zu halten. Und zwar mit dem Großen Riesenschwur.
Voller Achtung verbleiben
Kastao, Ältester der Tau
Antreno, Ältester der Reker
Arkado, Schloßjäger.
»Das wäre ja noch schöner!« rief die Riesin, nachdem sie die über alle Maßen ehrerbietige Botschaft zur Kenntnis genommen hatte. »Ihr wißt ja gar nicht, was ihr von mir verlangt. Wie kann ich mir denn gewiß sein, daß ihr die Mühlräder dreht, wenn ich euch nicht bestrafe! Die aber müssen sich bewegen, sonst hat meine Herrschaft keinen Bestand.«
Gleich darauf begann sie giftig und höhnisch zu lachen. Den Großen Riesenschwur verlangen diese eingebildeten Taureker! Na ja, immerhin hab ich es geschafft, sie so zu zähmen, daß sie vor mir zittern. Sie haben es nicht einmal gewagt, mir ihr Anliegen persönlich vorzutragen. Sie wissen, wie schrecklich ich in meinem Zorn bin und daß ich sie auf der Stelle zu Staub zermahlen hätte.
Karena nahm erneut auf ihrem Teppich Platz und befahl ihm, sie noch einmal zur Steinmühle zu bringen.
Unterdessen hatten sich Kastao, Antreno und Arkado in aller Frühe in der Steinmühlensiedlung zusammengefunden, von wo aus sie das Schloß beobachteten. Sie sahen den Fliegenden Teppich vorbeisausen, auf dem drohend die Hexe stand: im Nachthemd, mit wirren, vom Wind gezausten Haaren und einer schauerlichen Grimasse, die nichts Gutes verhieß.
Kurze Zeit später bemerkten sie den Teppich abermals über ihrer Siedlung, nur daß Karena inzwischen recht und schlecht angezogen und halbwegs gekämmt war.
»Was sie wohl vorhat?« murmelte Kastao, der um die Sicherheit seines Dorfes fürchtete.
Der Teppich ging neben der Steinmühle nieder. Eine Zeitlang war von dort kein einziger Laut zu hören. Auch von der Riesin selbst konnten sie nichts entdecken.
Plötzlich jedoch war die Luft vom Gedröhn, vom Kreischen und Quietschen der Mahlsteine und Mühlräder erfüllt. Was hatte das zu bedeuten?
»Sieht aus, als wollte uns Karena die Arbeit abnehmen«, sagte Kastao spöttisch. Dann wurde er aber wieder ernst und fuhr, an Arkado gewandt, fort: »Wir sollten herauszufinden versuchen, was diese Hexe im Schilde führt.«
Arkado ließ sich nicht lange bitten, sondern brach umgehend zur Steinmühle auf. Als Jäger verstand er es ausgezeichnet, sich lautlos zu bewegen.
Eine Stunde später tauchte er wie ein Gespenst hinter Kastao und Antreno auf. Er berichtete, daß Karena in der Tat wie besessen und ganz allein große Steinbrocken zu Staub zermahlen, diesen in Säcke füllen und damit den Fliegenden Teppich beladen würde. Die Arbeit ginge ihr so flott von der Hand, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan.
Antreno, der Stammesälteste der Reker, überlegte.
»Ich weiß zwar nicht, was sie vorhat«, ließ er sich nach einer Weile vernehmen, »doch eins ist wohl klar: die Sache schlägt uns nicht zum Guten aus. Ich fürchte, uns Zwergen droht Gefahr.«
Karena schuftete den ganzen Tag. Höchstens daß sie einmal auf ihre mißratene Tochter schimpfte, die sich, statt ihr zu helfen, irgendwo in der Ferne herumtrieb. Viele Male flog der Teppich über die Siedlung hinweg in Richtung Schloß, und er war so schwer beladen, daß er fast an den Dächern der Häuser hängenblieb.
Allmählich wurden die Taureker von ernster Sorge ergriffen. Sie konnten sich einfach nicht erklären, wofür Karena diese Unmengen gelben Staubs benötigte.
Die Hexe selbst aber, erschöpft von der schweren, ungewohnten Arbeit, kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Dort ließ sie sich, angezogen und schmutzig wie sie war, ins Bett fallen. Sie sank in einen unruhigen Schlaf, wälzte sich von einer Seite auf die andere und hustete heftig von all dem Staub, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte.
Kaum daß es dämmerte, erhob sie sich schon wieder, und wie sie so dastand, erinnerte sie an eines der gelben Ungeheuer, die morgens aus der Staubschlucht heraufkrochen.
Dann setzte sie sich erneut auf den Fliegenden Teppich und steuerte den See an. Zusammen mit ihrem Gefährt ließ sie sich ins Wasser plumpsen. Das kalte Naß erfrischte die Riesin und verlieh ihr neue Kräfte. Sie planschte im See herum, bis sie blau anlief. Als sie schließlich gewaschen war und auch den Teppich vom dicksten Staub befreit hatte, rief sie, bibbernd vor Kälte, doch triumphierend:
»Ihr seid wirklich nicht zu beneiden, meine Täubchen!«
Vor Freude über ihren hinterhältigen Plan, mit dem sie sich an den Zwergen rächen wollte, brach sie in ein lautes Hohngelächter aus.
Der Teppich schüttelte sich wie ein zottiger Hund, der aus dem Wasser kommt, und brachte seine Herrin in Windeseile zurück zum Schloß. Hier zog sich Karena trockene Kleider an, dann schritt sie zur entscheidenden Tat.
Wieder lud sie – zum wievielten Male schon – die randvoll gefüllten Säcke auf den Teppich. Sie hatte ein ganzes Lager von diesem Dreckszeug zusammengetragen und im riesigen Speisesaal gehortet. Der Staub war ihr mehr wert als jeder Goldschatz.
»Los geht’s!« befahl sie und lenkte den Teppich nun zur Siedlung an der Wassermühle.
Sie war ganz bewußt in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, damit die Taureker nicht vorzeitig von ihrem Vorhaben Wind bekamen und davonliefen. Die frühen Morgenstunden, in denen die Leute am tiefsten schliefen, waren ihr gerade recht.
Karena zog in Gedanken einen riesigen Kreis, der von der Wassermühle über die Geröllsteppe bis hin zur Siedlung der Tau neben der Steinmühle reichte, und machte sich ans Werk.
Sie band einen der Säcke auf und begann den gelben Staub auszuschütten, wobei sie den Teppich anwies, möglichst tief zu fliegen. In dicken Schwaden senkte sich der erstickende Schmutz auf die Erde.
Ringsum herrschte völlige Stille, auch der Teppich glitt lautlos dahin, und so ahnten die Zwerge, die friedlich in ihren Betten schliefen, nichts von dem Schlag, zu dem die Riesin ausgeholt hatte.
Bald schon bildete der Staub über dem Gebiet, das die Hexe auserkoren hatte, eine geschlossene Decke, schnitt als undurchdringlicher gelber Vorhang das Land Taurekien von der übrigen Welt ab. Verbunden mit Wasser, Nebel und dem Morgentau, würde der Schmutz zu einer dichten Masse aufquellen, die sämtliche Senken und Spalten füllte. Nicht mal eine Maus könnte dann mehr hindurchschlüpfen.
Nachdem Karena ihr verderbenbringendes Gut abgeworfen hatte, kehrte sie ins Schloß zurück, um Nachschub zu holen. Sie schaffte es, den Kreis ein zweites Mal abzufliegen und damit die Siedlungen der Taureker vollständig einzuhüllen.
Nun hatte sie ihr Ziel erreicht: der gelbe Dunst würde den Zwergen die Luft nehmen und sie wie eine Schlange im Würgegriff erdrücken.
Die Hexe ließ sich vom Teppich zum höchsten Turm ihres Schlosses bringen, wo sich eine Aussichtsplattform befand. Von dort aus betrachtete sie zufrieden ihr Werk und rieb sich vor Vergnügen die Hände. Zwar fiel ihr noch ihre Tochter ein, die irgendwo da draußen steckte, aber die war widerstandsfähig und würde sich schon durchschlagen. Auch ihr würde die Sache eine Lehre sein. So richtig treffen dagegen würde sie diese aufsässigen Wichte.
»So wahr ich Karena heiße«, murmelte sie kichernd, »ein paar Tage noch, dann werden die Zwerge auf Knien angerutscht kommen, damit ich sie von dem Gelben Nebel befreie!«
GEFANGEN IM GELBEN NEBEL
Der Jäger Arkado war der erste, der am Morgen das Haus verließ und bemerkte, daß etwas nicht stimmte. Die Sonne, die um diese Zeit schon hinter den Felsvorsprüngen hätte hervorschauen und ihre wärmenden Strahlen zur Erde schicken müssen, sah aus wie eine große schmutzige Apfelsine. Sie leuchtete kaum, und von wärmenden Strahlen konnte man gleich gar nicht reden.
Arkado schaute in die Runde und stellte fest, daß überall, so weit er blicken konnte, ein gelber Schleier über der Erde wallte. Er reichte bis in die Ebene hinunter, stand über der Wassermühle und erhob sich auch hier, an der Steinmühle! Selbst über der Staubschlucht hing er, vermengte sich mit den Nebelschwaden dort. Man hätte meinen können, die Schlucht wollte ihre Fühler ausstrecken, um die ganze Umgebung in sich einzusaugen.
Der Jäger rannte entsetzt ins Haus zurück, er traf auf der Schwelle Kastao und Antreno, die gleichfalls keine Ruhe mehr hatten. Wortlos wies er mit einer weiten Handbewegung nach draußen, damit die Ältesten sich selbst ein Bild von dem Geschehen machten.
»Das ist es also, was Karena vorhatte!« sagte Antreno nach einer Weile betroffen. »Seht nur, meine Siedlung an der Wassermühle ist schon gänzlich von diesem Nebel überzogen. Ich muß sofort zu meinen Brüdern und Schwestern!«
Er eilte, so schnell er konnte, davon. Die beiden anderen hielten ihn nicht ab – ein Stammesältester hatte im Augenblick der Gefahr bei seinem Volk zu sein.
»Was meinst du«, wandte sich der Jäger an Kastao, »ist dieser Dunst sehr gefährlich?«
»Ich glaube schon«, antwortete Kastao, und da er merkte, daß der Jäger, der ja nie bei den Mühlen gearbeitet hatte, nur wenig über diese Erscheinung wußte, erklärte er:
»Gefährlich ist der Gelbe Nebel vor allem, weil er ein Gemisch darstellt. Der Steinstaub an sich ist leicht und wird normalerweise vom Wind weggeweht. Vermengt mit Wasser, kann er jedoch endlos lange in der Luft hängen.«
Er räusperte sich und fuhr fort:
»Der Aufenthalt in diesem Dunst ist äußerst schädlich für die Gesundheit. Er kann, wie du selber weißt, schon bei kurzer Dauer krank machen. Immer wieder finden sich ja wagemutige Männer, die in die Schlucht hinabsteigen, um sie zu erkunden, doch noch nie hat einer den Grund erreicht. Wenn sie nicht schnell zurückkommen, ersticken sie. Auch die armen Kerle, die zur Strafe in den Abgrund geworfen werden, kommen auf diese Weise um, wenn sie sich nicht gleich das Genick brechen. Viele Taureker, die in unmittelbarer Nähe der Schlucht arbeiten, leiden unter ständigem Husten, ihre Augen tränen und büßen die Sehkraft ein.«
»Und du glaubst, Karena will uns für unseren Ungehorsam auf diese furchtbare Art bestrafen?« flüsterte Arkado erschrocken.
Kastao verzichtete auf eine Antwort, denn zusehends näherte sich der Gelbe Nebel bereits der Steinmühlensiedlung.
»Wenn wir am Leben bleiben wollen, dürfen wir keine Minute mehr verlieren!« rief er. »Wir müssen umgehend fliehen!«
»Aber wohin?« fragte der Jäger, mehr sich selbst. »Dieser gelbe Dunst ist überall, wohin man schaut!« Er überlegte kurz, dann fuhr er entschlossen fort: »Hör zu, Kastao, geh du zu deinen Leuten und warne sie vor der drohenden Gefahr. Ich laufe inzwischen in die Steppe und prüfe, ob es einen Platz gibt, der uns Sicherheit bietet. Ich kenne dort Weg und Steg, jeden noch so engen Felsspalt, vielleicht finden wir ein Versteck.«
»Einverstanden. Wir verschanzen uns in den Häusern, bis du uns Bescheid gibst, dichten sämtliche Tür- und Fensterritzen ab. Wenn wir eine Öffnung für die Luft lassen und sie mit feuchten Tüchern verhängen, werden wir es schon eine Weile durchstehen. Falls übrigens dich unterwegs der Gelbe Nebel einholt, solltest du dir gleichfalls ein nasses Tuch vors Gesicht binden, Arkado. Es hilft ganz gut, ich hab es selber ausprobiert.«
Dem Jäger kam ein Gedanke.
»Wie will eigentlich Karena selbst überleben?« fragte er. »Auch sie ist ja nicht unsterblich, muß atmen, essen…«
»Die Riesen sind leider viel kräftiger als wir, außerdem würden sie sich in die obersten Stockwerke ihres Schlosses flüchten oder auf den Turm«, erwiderte Kastao zornig. »Der Nebel breitet sich hauptsächlich am Boden aus und wird das Schloß gerade mal bis zur Hälfte einhüllen. Bleibt nur die Hoffnung, daß die alte Hexe verhungert. Wir haben so ziemlich alle Lebensmittel versteckt.«
»Und wie sieht’s mit euren eigenen Vorräten aus? Ihr müßt ja gleichfalls essen und trinken. Und ihr seid eine Menge Leute.«
»Stimmt, wir können uns nur an das halten, was sicher in den Kellern aufbewahrt ist und nicht durch diesen Giftschlamm verunreinigt wird. Immerhin können wir zwei Wochen durchhalten, wenn wir sparsam sind.«
Arkado und Kastao umarmten sich zum Abschied, und im nächsten Augenblick war der Jäger wie vom Erdboden verschluckt. Der Stammesälteste aber eilte zu seinen Leuten, um den Schutz zu organisieren.
Er hatte noch Zeit, sämtliche Einwohner auf dem Dorfplatz zu versammeln, um ihnen die schwierige Lage zu erläutern, in der sie sich befanden. Als er gerade zu den Maßnahmen kam, die ergriffen werden sollten, traf überraschend Antreno wieder bei ihnen ein. Es stellte sich heraus, daß es in der Wassersiedlung nicht gelingen würde, dem Gelben Nebel den Zugang zu den Häusern zu versperren. Die Türen und Fenster schlossen nicht dicht genug, es blieb viel zu wenig Zeit, alle Ritzen und Löcher zu verstopfen. Der schmutzige Dunst drang überall ein – schon litten einige Zwerge unter heftigem Augentränen und starkem Husten. Deshalb hatte sich Antreno einen anderen Ausweg überlegt:
»Wir müssen in die Wassermühle flüchten und das Mühlrad erneut in Bewegung setzen!« rief er seinen Leuten zu. »Das ist die einzige Rettung!«
»Was denn, wir sollen wieder anfangen zu arbeiten?!« empörten sich die Reker. »Wozu haben wir Karena dann überhaupt den Kampf angesagt? Sie wird sofort denken, wir hätten aufgegeben und sie wäre die Siegerin! Eine solche Schmach können wir nicht hinnehmen, sie würde in aller Ewigkeit auf unserem Volk lasten!«
Antreno war nicht erstaunt über diesen Protest, er erwiderte ruhig:
»Es geht nicht darum, nachzugeben, sondern unser Leben zu schützen und dann den Widerstand weiterzuführen. Mit Hilfe des Wassers können wir uns den Nebel vom Leib halten. Wir leiten das Wasser übers Dach der Mühle, so daß wir hinter einem fließenden Vorhang sitzen, in einer Art künstlichen Glocke. Allerdings müssen wir das Rad rund um die Uhr in schneller Bewegung halten, damit wir einen starken Wasserdruck erzeugen. Nur so können wir den Nebel abhalten.«
Der Älteste legte eine Pause ein. Als er sah, daß ihm die Leute aufmerksam zuhörten, fuhr er fort:
»Die Sache ist nicht leicht, hat aber einen zweiten Vorteil. Wir werden nicht jeder für sich, sondern alle beisammen sein. Gemeinsam werden wir uns an die Arbeit machen, statt angstvoll abzuwarten. Denn glaubt mir, meine Freunde, aus langjähriger Lebenserfahrung weiß ich, daß es nichts Qualvolleres gibt, als in Augenblicken der Gefahr müßig herumzusitzen und die Hände in den Schoß zu legen.«
Mit seiner entschlossenen Rede hatte Antreno die Zwerge überzeugt. Mehr noch, sie hielten es für richtig, auch die Bewohner der Steinsiedlung zu benachrichtigen und ihnen anzubieten, mit in die Wassermühle zu kommen. Ihre Häuser würden dem Gelben Nebel bestimmt ebensowenig standhalten.
Aus diesem Grund war Antreno zu Kastao und den Tau geeilt, legte ihnen in der gebotenen Kürze die Dinge dar. Nein, wenn sie die Wassermühle wieder in Betrieb nahmen, taten sie es bestimmt nicht aus Feigheit oder Verrat an ihrer gemeinsamen Sache. Es war vielmehr die einzige Möglichkeit, den Kampf fortzuführen und vielleicht sogar zu siegen.
Die Tau begriffen sofort, und bereits eine Stunde später setzte sich aus der Steinsiedlung ein langer Treck in Richtung Wassermühle in Marsch. Er bestand aus Fuhrwerken, voll beladen mit dem Hab und Gut der Zwerge und natürlich aus den Bewohnern der Dörfer selbst.
Den Schluß bildete der alte Kastao. Zum erstenmal, seit er sich erinnern konnte, ja zum erstenmal in der Geschichte seines Volkes, lag die Siedlung völlig ausgestorben da. Nur die gelbe Fahne wehte noch über seinem Haus, doch als er sich dann ein letztes Mal umschaute, war sie schon nicht mehr zu sehen. Die Siedlung war bereits vom Gelben Nebel erfaßt und die Fahne in diesem Gewaber verschwunden.
Viel Zeit blieb den Zwergen nicht für ihren Umzug, und während die einen noch beim Einräumen waren, verlegten die anderen schon Rohre, setzten dritte das Mühlrad in Gang. Wie geplant, wurde das Wasser nun nicht mehr in die Schlucht geleitet, sondern aufs Mühlendach, von wo es nach allen Seiten herabströmte und einen undurchdringlichen Vorhang gegen den erstickenden Nebel bildete.
Antreno selbst ging mehrmals prüfend um die Mühle herum, überzeugte sich, daß es keine Lücken in den Wasserwänden gab. Die Geschichte funktionierte! Die giftigen Schwaden konnten ihnen nichts mehr anhaben. Sie saßen geschützt, wie hinter kräftig herabstürzenden Wasserfällen.
Im Innern der Mühle wurde unterdessen emsig gezimmert und gebaut. Man hörte das Kreischen der Sägen und das Klopfen der Hämmer, die Räume wurden wohnlich hergerichtet. Die Frauen kümmerten sich ums Essen und um die Kinder, die ihnen ständig zwischen den Beinen herumquirlten, helfen oder nur spielen wollten.
Kastao und Antreno aber hatten sich in ein kleines Zimmer zurückgezogen. Sie sprachen über Arkado. Beide bedauerten schon, daß sie den tapferen Jäger hatten allein in die Steppe ziehen lassen. Selbst wenn es ihm gelungen war, eine Stelle zu finden, wo ihm der Gelbe Nebel nichts anhaben konnte – wie sollte er jemals zurückkommen?
Gewiß, Arkado kannte die Gegend wie seine Westentasche, er würde nicht gleich zugrundegehen. Doch was, wenn er sein Leben aufs Spiel setzte, um die Zwerge zu retten? Sie kannten ihn, er würde keine Gefahr scheuen und ihnen auf schnellstem Wege zu Hilfe eilen. Wie leicht konnte er sich dann trotz seiner Wegekenntnis verirren und ersticken.
Falls Arkado aber überlebte, käme er gewiß zur Steinsiedlung zurück, von der er aufgebrochen war. Das Dorf jedoch war von seinen Bewohnern überstürzt verlassen worden, erinnerte an einen zerstörten Ameisenhaufen. Bestimmt würde der Jäger daraus schließen, daß Karena über die Tau hergefallen war und sie alle verschleppt hatte! Deshalb würde er entweder zum Schloß der Riesin aufbrechen oder aber zur Wassersiedlung laufen. Im ersten Fall würde er wahrscheinlich in die Fänge der Riesin geraten, im zweiten das Quietschen des Mühlrades vernehmen. Diese zweite Möglichkeit war freilich immer noch die bessere, selbst wenn Arkado dann zu dem Schluß kam, die stolzen Reker hätten sich ergeben.
ARACHNA ERWACHT
Der Jäger Arkado war zunächst in Richtung Schloß geeilt. Der Nebel hatte sich noch nicht bis dorthin vorgearbeitet, und die Luft war sauber und klar.
Schon von weitem sah er hoch oben auf der Turmplattform die Hexe, die zufrieden ihr Werk betrachtete. Natürlich konnte sie aus dieser Höhe herab unmöglich den winzigen Mann entdecken, der sich seinen Weg durchs Gesträuch bahnte. Es gab unzählige solcher Pfade in Taurekien, sie bildeten ein großes, ineinander verschlungenes Netz. Nur wenige Zwerge kannten sich in diesem Gewirr so gut aus wie der Jäger.
Arkado ließ das Schloß seitlich liegen. Er blieb nur kurz stehen, als er plötzlich einen Zettel durch die Luft tanzen und direkt vor sich auf den Boden fallen sah. Das Blatt Papier kam ihm bekannt vor, und er hob es auf. Natürlich, es war die Botschaft der Zwerge, die sie Karena übermittelt hatten, und die von der Riesin jetzt, da sie ihren Inhalt kannte, endgültig weggeworfen worden war.
Kurze Zeit später war der Jäger bereits tief in die Steppe vorgedrungen. Hier merkte er plötzlich, daß ihm das Atmen schwerer fiel. Weiter oben war der Nebel gewiß weniger dicht, deshalb erklomm Arkado eine nahegelegene Anhöhe. Sie gehörte zu einer Hügelkette, von der die Steppe durchzogen wurde. Vom Kamm aus konnte er nun erkennen, daß der gelbe Dunst inzwischen naß und bedrohlich in den Talsenken stand.
Aber auch hier oben türmten sich schon erste Nebelwände auf, und er mußte ja weiter, wenn er ein Versteck für die Zwerge finden wollte. Also holte Arkado, dem Rat Antrenos folgend, ein Tuch aus der Tasche, durchtränkte es mit Wasser aus seiner Trinkflasche und band es sich vor Mund und Nase. Dann setzte er seinen Weg fort. Nun hing alles davon ab, wie schnell er vorankam und wie weit sich der Gelbe Nebel über die Steppe erstreckte.
Das Laufen wurde immer schwieriger. Bisweilen mußte sich der Jäger geradezu blindlings vorwärtstasten, denn die Sicht reichte keine zehn Meter weit. Er war auch stets von neuem gezwungen, das Tuch anzufeuchten, weil sich eine Staubschicht darauf gebildet hatte.
Die Nacht verbrachte Arkado in einer höher gelegenen Höhle, die er von seinen Streifzügen her kannte. Seine Beine führten ihn fast automatisch zu diesem Unterschlupf, dessen Eingang er mit einem großen Stein verschlossen und mit Zweigen getarnt hatte. Er wollte verhindern, daß Tiere hineingelangten und sich über den dort hinterlegten Proviant hermachten. Die Zweige und der Stein hatten auch den Nebel daran gehindert, ins Innere der Höhle einzudringen.
Obwohl der gelbe Dunst hier zum Glück schwächer war, dichtete der Jäger den Eingang wieder ab, nachdem er hineingeschlüpft war, und warf sich erschöpft auf sein kleines Strohlager. Er schlief sofort fest ein.
Arkado benötigte noch drei solcher Unterkünfte, ehe es ihm gelang, den Gelben Nebel hinter sich zu lassen. Endlich hatte er eine weiträumige Hochebene erreicht, die fernab von den beiden Siedlungen und vom Schloß lag. Zu fern. Er selbst war zwar schon öfter hier gewesen, doch er bezweifelte, daß die anderen Zwerge den beschwerlichen Weg bis zu diesem Ort schaffen würden.
Der Jäger schaute aufmerksam in die Tiefe – vielleicht gab es noch eine nebelfreie Zone im Tal, die näher an die beiden Siedlungen heranreichte. Doch das war nicht der Fall, der Nebel wallte überall, die Hexe hatte ganze Arbeit geleistet! Was sollte aus den Taurekern werden, wenn sie keinen Ausweg fanden?
Wenn die Lebensmittelvorräte in ihren Häusern aufgebraucht waren? Mußten sie klein beigeben, sich der Riesin erneut auf Gedeih und Verderb unterwerfen? Sie würde ihnen den Ungehorsam heimzahlen und sich noch gemeinere Strafen ausdenken.
Dann ließ Arkado die Augen zur anderen Seite der Hochebene schweifen, so als könnte er dort Hilfe für sein Volk finden. Doch plötzlich geschah etwas, das er in seinen schlimmsten Träumen nicht erwartet hätte. Es rauschte in der Luft, als käme ein Felsblock geflogen, und genau in seiner Blickrichtung sauste eine riesige Frau zu Boden. Karena! dachte der Jäger entsetzt. Wie um Himmels willen kommt die hierher? Hat der Fliegende Teppich ihr etwa ein Schnippchen geschlagen und sie abgeschüttelt? Vor drei Tagen hab ich sie noch hoch oben auf ihrem Schloß gesehen, ist sie mir vielleicht auf die Spur gekommen?
Doch diesen unsinnigen Gedanken schob er sogleich wieder beiseite. Karena hatte anderes zu tun, als ihm nachzujagen. Wahrscheinlich brachte sie sich nur selbst vor dem Nebel in Sicherheit oder war auf der Suche nach etwas Eßbarem, weil sie ihre Vorräte aufgebraucht hatte.
Sicherheitshalber legte sich Arkado flach auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. Er wartete eine Weile ab, doch die Riesin war ohnmächtig oder gar tot, sie blieb unbeweglich liegen. Der Jäger erhob sich wieder und pirschte sich näher an sie heran. Von einem Felsen aus betrachtete er sie genauer und begriff – das da war gar nicht Karena! Nein, nein, diese Riesin war kleiner, es handelte sich um die andere, ihre Tochter, mit der sie sich ständig zankte und die zuletzt wieder einmal aus dem Schloß weggelaufen war. Aber wieso fiel sie jetzt vom Himmel?
Meine Güte, die auch noch, dachte der Jäger erschrocken, womit hab ich das verdient? Sie bewegt den Arm, also lebt sie noch. Wahrscheinlich ist sie durch einen Zaubertrick hierher gelangt.
Scheint nicht ganz gelungen zu sein, so wie sie heruntergeplumpst ist. Trotzdem, was will sie hier?
Plötzlich kam ihm eine Idee. Und wenn ich nun versuche, die beiden gegeneinander aufzuhetzen? Die Tochter gegen die Mutter, sie sind sich ja sowieso nicht grün. Vielleicht gelingt es mir, Arachna auf unsere Seite zu ziehen. Wir haben immerhin das Zauberbuch, einen fetten Köder.
Arkado beobachtete die Riesin weiter, allem Anschein nach ging es ihr ziemlich schlecht. Sie regte sich etwas, ohne zu erwachen, und sie sah erschöpft und zerschunden aus. Auch ihre Kleider waren in einem beklagenswerten Zustand.
Was immer geschehen sein mag, ich muß die Gelegenheit nutzen, sagte sich der Jäger. Wenn sie erwacht, wird sie Hunger und Durst haben. Ich will mein Bestes tun, sie friedlich zu stimmen. Vielleicht läßt sie dann mit sich reden.
Die Sache war nicht bloß gefährlich für ihn, sie erforderte auch all seine Kraft. Die Riesin war nur kurz aus ihrer Betäubung erwacht und hatte sich, wohl ohne etwas zu begreifen, auf die Seite gedreht. Sie schlief den Nachmittag und die ganze Nacht hindurch, wobei sie schnarchte, daß die Hügel ringsum widerhallten.
Arkado aber räumte inzwischen seine Vorratslager leer. Er arbeitete fast ohne Pause, schleppte Essen und Trinken herbei. Das Dörrfleisch und die Wasserschläuche, mit denen ein ganzes Heer von Zwergen hätte versorgt werden können, legte er in einiger Entfernung von der Riesin nieder, damit sie es beim Erwachen fand.
Gegen Morgen entfachte der Jäger dann ein großes Feuer, wobei er darauf bedacht war, trockenes Holz zu nehmen. Er wollte nicht, daß Qualm aufstieg und womöglich Karena anlockte. Es hätte ja sein können, daß sie einen Rundflug unternahm.
Als alles getan war, stärkte er sich erst einmal selbst und legte sich gleichfalls für ein paar Stunden aufs Ohr. Wenn Arachna zu sich kam, würde er sofort wieder auf den Beinen sein.
Arkado erwachte, als die Riesin sich zu regen begann. Sie schlug die Augen auf, war aber offensichtlich zu geschwächt, um aufzustehen. Der Duft des Fleisches und die Wärme des Feuers schienen freilich ihre Lebensgeister zu wecken. Sie blickte suchend umher und sah zunächst einen der Wasserschläuche.
Dieses Geschenk kam ihr gerade recht, denn sie hatte großen Durst.
»Wasser«, krächzte sie erfreut und kroch auf allen Vieren zu dem Platz, von dem die verlockenden Gerüche ausgingen. Sie ergriff den Ledersack mit der glucksenden Flüssigkeit, öffnete ihn und setzte ihn an die Lippen. Gierig ließ sie das kostbare Naß die ausgedörrte Kehle hinunterrinnen, das Arkado für sie bereitgestellt hatte.
Für sie waren es nur wenige Schlucke, doch der Jäger hatte ja vorgesorgt. Schnell entdeckte die Riesin auch die anderen Schläuche und kurz darauf das Fleisch. Ein Anblick, bei dem sie vor Freude mit der Zunge schnalzte. Ohne erst lange zu überlegen, woher die Schätze kamen, setzte sie sich zu Tisch. Das heißt, sie blieb gleich auf dem Boden hocken, während sie mit beiden Händen zugriff, große Happen Dörrfleisch verspeiste, Knochen abnagte und mit einem Trunk Wasser nachspülte. Sie fragte sich höchstens dabei, ob etwa ihr Traum von vorhin weiterging. Einmal kniff sie sich sogar in die Backe, um sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Arkado, der die Frau aus seinem Versteck heraus beobachtete, konnte sich nur wundern, mit welcher Geschwindigkeit sie seinen Monatsvorrat vertilgte. Man mußte direkt Angst haben, daß sie sich daran verschluckte!
Schließlich hatte Arachna ihr Mahl beendet. Sie schaute bedauernd auf die abgenagten Knochen und geleerten Schläuche, war aber sichtlich zufrieden. Sie setzte sich ans Feuer, um sich ein wenig aufzuwärmen, und erst da schien ihr das Erstaunliche der Situation bewußt zu werden. Plötzlich sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf und spähte aufmerksam in die Runde.
»Ich möchte gar zu gern wissen, wer mir all diese Speisen hingestellt hat«, murmelte sie verwirrt. »Das war doch kein Zufall. Sollte sich Karena, meine Mutter, Sorgen um mich machen? So freundlich ist sie doch sonst nicht. Wo bin ich überhaupt, was ist mir zugestoßen? Ich bin… ach ja, ich bin vor ein paar Tagen aus dem Schloß weggelaufen, weil wir uns wieder mal gestritten hatten. Das Leben mit ihr ist in der Tat unerträglich. Ob sie mir hinterherspioniert? Wie auch immer, ich muß auf der Hut sein.« Sie hielt erneut nach allen Seiten Ausschau, konnte aber nichts Beunruhigendes entdecken.
DER PAKT
Man mag sich wundern, daß Arachna nicht mehr an das Zauberland, an das Mädchen Ah, den Tiger und alles andere dachte, aber da sie in ihre Vergangenheit, in die Zeit ihrer Jugend zurückgekehrt war, hatte sie das Geschehen der späteren Zeit völlig vergessen. Besser gesagt, es war in ihrem Hirn ausgelöscht worden.
»Seltsam«, murmelte die Riesin, »kein Mensch weit und breit! Und doch wärmt mich dieses Feuer, standen Wasser und Fleisch bereit. Oder galt der Empfang jemand anderem? Aber wem – so viele Leute gibt es hier nicht. Außer Karena leben im Land eigentlich nur noch die Zwerge.«
Die Zwerge, natürlich, erst vorhin waren sie ihr ja wieder im Traum erschienen. Bestimmt trieben sich einige auch in dieser Wildnis herum. Andererseits, was hatte Arachna ihnen schon Gutes getan, für das sie sich hätten erkenntlich zeigen müssen. Eigentlich gar nichts Gutes bisher, wenn man ehrlich war. Trotzdem, irgendeinen Zusammenhang mußte es hier geben. Und aufmerksam begann die Riesin ihre nähere Umgebung abzusuchen.
Wer sucht, der findet. Zunächst stieß Arachna auf ein Blatt Papier, das jemand ziemlich dicht vor ihrer Nase auf einen Ast gespießt hatte. Sie brauchte nur den Arm auszustrecken, und schon hatte sie es in der Hand. Eine Botschaft, die vielleicht Licht in das Dunkel brachte. Etwas mühsam entzifferte sie die Worte auf dem zerknitterten Zettel, die eigentlich Karena galten.
Die Riesin zog die Stirn in Falten, überlegte fieberhaft. Sie begriff nicht alles, was in der Botschaft stand, doch eins war klar: Die Zwerge hatten ihrer Mutter den Kampf angesagt!
Diese Wichte müssen in der Nähe sein, sagte sich Arachna gleich darauf, sie beobachten mich. Ob sie sich wirklich ernsthaft mit meiner Mutter anlegen wollen? Das ist lächerlich, Karena wird sie zerquetschen. Andererseits sind es viele, und wir sind auf sie angewiesen.
Sie hielt den Zettel unschlüssig in den Händen. Mit ihrer Mutter war zwar nicht gut Kirschen essen, dennoch schien die Gelegenheit günstig, sich bei diesen Leutchen Ansehen zu verschaffen. Sie rief:
»Was wollt ihr? Ich hab nichts gegen euch.«
Arachna erwartete, daß sich die Zwerge zeigten, aber nichts dergleichen geschah.
»Kommt heraus, damit wir miteinander reden können«, sagte sie. »Ich schwöre, euch nichts zu tun!«
Doch auch diesmal passierte nichts, und die Riesin wollte bereits ungehalten werden, als ihr die letzten Worte der Botschaft an Karena wieder einfielen. Ganz schön hartnäckig, dachte sie, diese Bande will wahrscheinlich auch von mir den Großen Riesenschwur.
»Also gut, ihr sollt euren Willen haben! Hiermit leiste ich den Großen Riesenschwur, euch gegenüber fair zu sein und euch anständig zu behandeln. Bei meinen Vorfahren! Sollte ich ihn je brechen, will ich in ewigen Schlaf verfallen!«
Sie erhob sich der Feierlichkeit wegen zu voller Größe und kam sich in diesem Augenblick sehr edel vor. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie den Großen Schwur, den jeder Riese von Kindesbeinen an kennt, zum letztenmal gesprochen hatte.
Kaum war das letzte Wort verklungen, stand plötzlich ein winziges Männlein vor ihr. Der Zwerg mußte aus den Büschen gekommen sein, die sich noch leicht bewegten. Er rief, so laut er konnte:
»Ich bin Arkado, der Schloßjäger. Es freut mich, daß wir uns verständigen können.«
»Habt ihr mir das leckere Fleisch und die Wasserschläuche hingelegt?«
»Ich war es«, sagte Arkado stolz. »Es hat mich einige Arbeit gekostet, aber ich sah, daß es Euch nicht besonders gut ging und daß Ihr eine Stärkung gebrauchen konntet.«
»Das kann man wohl behaupten«, brummte Arachna und wunderte sich, es nur mit einem der Zwerge zu tun zu haben. Sie wußte ja nichts von dem Gelben Nebel und der Flucht der anderen Taureker in die Wassermühle.
Arkado, der begriff, daß die Riesin trotz ihres Schwurs noch immer unschlüssig war, wie sie sich verhalten sollte, erzählte ihr nun von den Geschehnissen der letzten Tage.
»Deshalb bin ich allein hier«, schloß er, »Karena aber soll wissen, daß wir Taureker ein stolzes Volk sind. Wir werden lieber sterben, als uns weiter so von ihr demütigen zu lassen.«
»Und was erwartet ihr von mir?«
»Ihr könntet uns in unserem Streit mit Karena helfen.«
»Du weißt nicht, was du von mir verlangst«, erwiderte Arachna, die keine Lust hatte, sich in eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter einzulassen. »Die Alte ist stärker als ich, und den Gelben Nebel, von dem du redest, kann ich auch nicht wegblasen.«
»Aber vielleicht könntet Ihr uns in eine Gegend bringen, wo wir in Frieden leben und wieder frei atmen können. Statt Karena würden wir allezeit Euch dienen.«
Die Riesin überlegte. War es nicht besser, sich trotz allem auf die Seite ihrer Mutter zu schlagen? Trotz des Großen Schwurs?
»Karena besitzt den Fliegenden Teppich und das Zauberbuch«, wandte sie ein.
»Irrtum. Das Zauberbuch haben wir!«
Diese fast beiläufig gegebene Antwort verblüffte Arachna so, daß ihr der Mund offenstand. Gleichzeitig trat ein gieriges Funkeln in ihre Augen. Schließlich wußte sie, was man mit diesem Buch alles anstellen konnte, sie hatte ihre Mutter mehr als einmal beim Zaubern belauscht. Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben konnte man damit auslösen, aber auch Reichtümer in seinen Besitz bringen. Selbst der Fliegende Teppich mußte den Befehlen gehorchen, die im Buch standen.
»Ihr habt wirklich das Zauberbuch an euch gebracht?« fragte die Riesin.
»Gewiß, es ging nicht anders.«
»Dann bring mich zu dem Ort, wo ihr es versteckt habt.«
»Ihr denkt doch an Euren Schwur?« sagte Arkado zögernd.
»Aber ja. Wenn ich das Buch habe, bin ich stärker als Karena und kann euch helfen.«
Der Jäger mußte sich auf ihre Worte verlassen, er vertraute auch darauf, daß Arachna gern selbst die Herrscherin wäre. Und außerdem – er hatte keine Wahl.
Sie zogen los. Der Jäger band erneut ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase, dann hob Arachna ihn hoch. Auf ihrer Handfläche sitzend, die Arme um einen ihrer Finger geklammert, konnte er einigermaßen atmen und sie gut dirigieren. Die Riesin selbst dagegen verzichtete auf ein Tuch, sie würde schon nicht gleich an dem Staub ersticken.
DIE TAUREKER WERDEN GERETTET
Für einen Außenstehenden wäre das ein lustiger Anblick gewesen. Arachna bewegte sich mit Riesenschritten vorwärts, bemüht, nicht zu stolpern und Arkados Kommandos zu befolgen. Von Zeit zu Zeit schaute sie zu dem Jäger hinunter, der sich einerseits festhalten, andererseits auf den Weg achten mußte. Vor lauter Anspannung und von dem vielen Staub tränten beiden die Augen.
Nach einer Stunde hatten sie den Höhleneingang erreicht, der so meisterlich getarnt war, daß weder Karena noch Arachna ihn je entdeckt hätten. Doch selbst wenn sie auf ihn gestoßen wären – es hätte ihnen nichts genutzt. Zum Höhleninneren führte nämlich ein langer Gang, länger als der Arm der Riesen, wenn man ihn bis zur Schulter hineinsteckte. Dahinter erst wurde es weiter, erstreckte sich ein Gewölbe, geräumig wie eines der Zimmer in Karenas Schloß.
Arkado bat die Riesin, ihn vor der Höhle abzusetzen. Arachna ging in die Hocke und legte die Hand auf den Boden, damit der Jäger bequem absteigen konnte. Gleich darauf war er im Gesträuch verschwunden und tauchte in die Höhle ein.
Da die Zwerge zu Beginn ihres Aufstands noch nicht wußten, wie es mit dem Zauberbuch weitergehen würde, hatten sie Pferde und Fuhrwerk im Gewölbe zurückgelassen. Arkado hatte den Tieren Wasser hingestellt und sie mit Heu versorgt, jetzt begrüßten sie ihn freudig wiehernd. Der Futtervorrat war ziemlich zusammengeschmolzen, doch hätten sie es noch eine Weile ausgehalten.
Der Jäger tätschelte liebevoll ihre Zottelmähnen und schüttete neues Wasser in ihre Holztröge. Dann überzeugte er sich, daß Karenas Buch noch unversehrt in der Ecke lag.
Er spannte an, beförderte das Werk mit großer Mühe auf den Wagen, setzte sich obenauf und lenkte das Gefährt aus der Höhle.
Kurze Zeit später war er bei Arachna angelangt, die vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen trat. Als sie den Jäger erblickte, wollte sie das Buch sofort aufschlagen, um ihre Künste zu erproben, doch eine Art Ehrfurcht hielt sie zunächst davon ab. Außerdem war hier, im Nebel, nicht der richtige Platz zum Lesen.
Sie marschierten erneut los. Arachna packte das Zauberbuch mit der freien Hand und preßte es so fest an die Brust, als fürchtete sie, irgendwer könnte es ihr wieder wegnehmen. Arkado hatte zuvor die Pferde ausgespannt, damit sie in dem Nebel nicht noch das Fuhrwerk ziehen mußten. Schnaubend folgten die Tiere der Riesin.
Endlich ließen sie den Dunst hinter sich, und nun hielt es Arachna nicht länger aus. Sie setzte sich gleich auf die Erde und begann in dem Schatz zu blättern, der ihr so unverhofft zugefallen war.
Arkado hatte etwas entfernt auf einem Stein Platz genommen und ließ die Riesin nicht aus den Augen. Er war sich nicht schlüssig – hatte er es wirklich richtig gemacht? Nicht nur sein Schicksal, auch das der anderen Zwerge hing jetzt von dieser Frau ab. Wenn sie sich trotz ihrer Zusicherungen gegen die Taureker wandte, waren sie endgültig verloren.
Und wie war es seinen Stammesgenossen dort im Gelben Nebel überhaupt ergangen? Immerhin hatte er schon einige Tage nichts mehr von ihnen gehört. Hoffentlich war die Hexe inzwischen nicht über sie hergefallen! Karena war alles zuzutrauen. Sollte sie herausbekommen, wo das Zauberbuch war, scheute sie bestimmt vor keiner Grausamkeit zurück.
Und in der Tat, Arkados Befürchtungen waren nicht aus der Luft gegriffen. Um ein Haar wäre es den Zwergen in der Mühle tatsächlich übel ergangen!
Karena hatte tagelang vergeblich darauf gewartet, daß ihre aufsässigen Diener sich wieder demütig unterwarfen, und sie hatte sich in Gedanken bereits die härtesten Strafen für sie zurechtgelegt. Doch als das Erhoffte nicht eintrat, beschloß sie, selber etwas zu unternehmen. Der Lärm, der ständig von der Staubschlucht herüberdrang, konnte nur von den Mühlen kommen. Aber warum waren sie wieder in Gang gesetzt worden? Von ihrem Turm aus versuchte Karena den Nebel mit Blicken zu durchbohren. Anfangs nahm sie ja noch an, die Zwerge hätten sich besonnen und wollten mit fleißiger Arbeit ihre Herrin versöhnlich stimmen. Doch als die Tage verstrichen, ohne daß sich einer ihrer Diener im Schloß blicken ließ, wurde sie unruhig. Bis dann ihr Zorn und ihre Neugier siegten und sie sich auf den Weg machte, um selbst nachzusehen.
»Ich will wissen, was diese Taugenichtse treiben«, knurrte Karena mißmutig. »Wehe, wenn sie mir unter die Finger kommen! Ich werde sie durchschütteln, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.«
Sie schwang sich auf ihren Teppich und befahl ihm, sie zur Schlucht zu bringen, zu den Mühlen. Um die Taureker aber nicht zu warnen, beschrieb sie einen großen Bogen, näherte sich ihnen von der Schlucht her, von wo sie bestimmt nicht erwartet wurde!
Als sie über die Steppe flog, entdeckte sie in einiger Entfernung, dort wo der Nebel mit dem Himmel verschmolz, eine dünne Rauchfahne.
»Sieht aus wie ein Lagerfeuer«, murmelte sie, »wer könnte das sein? Etwa Arachna? Na, die Rumtreiberin nehm ich mir später vor. Erst rechne ich mal mit den Zwergen ab, dann kommt sie dran.«
Doch aus dieser Absicht wurde nichts. Die Rauchfahne, die sie da unten aufsteigen sah, rührte von einem Feuer her, an dem tatsächlich Arachna saß, die aber blätterte bereits in dem Zauberbuch. Und genau in dem Augenblick, als Karena die Staubschlucht überquerte, hatte ihre Tochter die entscheidende Formel gefunden, mit der man den Fliegenden Teppich rufen konnte.
»Abradox Knochenkrox – zu mir, Teppich!« rief Arachna mit dröhnender Stimme unvermittelt, so daß der Jäger vor Schreck fast von seinem Stein gefallen wäre.
Der Teppich nun – das muß erwähnt werden – diente jedem, der die richtigen Befehle gab. Nichts da von Anhänglichkeit, der jeweilige Besitzer war ihm egal, nur die Formel aus dem Zauberbuch zählte.
Aus diesem Grund bäumte er sich, kaum daß er den fernen Ruf vernommen hatte, heftig auf. Die völlig überraschte Riesin Karena wurde abgeworfen, bevor sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie stürzte kopfüber in die Tiefe, sauste in die Staubschlucht hinab, in die sie sonst ihre Diener zu werfen pflegte. Im Fallen schoß ihr noch durch den Sinn, daß es ein Fehler gewesen war, der Rauchfahne von vorhin nicht auf den Grund zu gehen. Denn der Teppich, das bekam sie in letzter Sekunde mit, drehte genau in jene Richtung ab.
Arachna und Arkado aber mußten eine Weile auf den Fliegenden Teppich warten, so daß sie schon befürchteten, die Formel wirke nicht. Als er dann doch kam, kannte die Freude des Riesenweibs keine Grenzen. Sie sprang auf, begann wie wild um das Feuer herumzutanzen und rief:
»Er kommt! Er kommt wirklich, das Goldstück!«
Sie hüpfte so ungestüm umher, daß es Arkado vorzog, sich hinter einem Stein in Sicherheit zu bringen, um nicht unter ihre stampfenden Füße zu geraten.
Der Teppich verharrte einen Augenblick über ihnen, dann fiel er herab, plumpste Arachna genau auf den Kopf. Die Riesin kam ins Stolpern und krachte zu Boden. Als sie sich aufgerappelt hatte, war ihr Gesicht dunkel von Staub und Schmutz. Doch dieser kleine Unfall störte sie in keiner Weise. Ihre Augen und Zähne blitzten in all dem Schwarz nur umso heller.
»Arkado«, rief die Riesin mit grollender Stimme, »wo steckst du, zum Donnerwetter! Wir wollen zu deinen Leuten fliegen, damit sie was zu essen und zu trinken herbeischaffen. Auch neue Kleidung brauche ich, meine ist nach all den Strapazen ziemlich mitgenommen.«
Der Jäger kam vorsichtig hinter seinem Stein hervor. Bei Arachnas Gebrüll fragte er sich besorgt, ob sie nicht vom Regen in die Traufe geraten waren. Die Tochter Karenas, die bereits mitten auf dem Teppich thronte, war vielleicht nicht besser als ihre Mutter. Immerhin, sie hatte den Großen Schwur geleistet und versprochen, die Zwerge gerecht zu behandeln. Die alte Riesin dagegen…
Wenn ich bloß wüßte, wo Karena jetzt ist? dachte Arkado gleich darauf. Würde mich gar nicht wundern, wenn sie uns eine Falle stellt.
Da er Arachna damit etwas Respekt einzuflößen hoffte, teilte er ihr seine Befürchtungen umgehend mit.
»Wir müssen vorsichtig sein, Herrin«, sagte er, »mit Eurer Mutter ist nicht zu spaßen.«
Diese Worte dämpften den Drang der Riesin, sich als neue Herrscherin aufzuspielen, tatsächlich.
»Was schlägst du vor?« fragte sie, ruhiger geworden.
»Zuerst sollten wir mit dem Fliegenden Teppich die Gegend bei den Mühlen und Siedlungen erkunden«, sagte Arkado, der wieder seinen Platz auf ihrer Handfläche eingenommen hatte.
Arachna war einverstanden. Auf ihr Geheiß hin erhob sich der Teppich und flog auf die Schlucht zu. Sie hielten sich seitlich davon und vernahmen plötzlich Geräusche, die an das Quietschen von Mühlrädern erinnerten.
Ich komme zu spät, dachte Arkado betrübt. Offenbar mußten meine Freunde aufgeben und sich Karena erneut unterwerfen.
Der Teppich nahm jetzt direkten Kurs auf die Wassermühle, denn der Arbeitslärm schien von dort zu kommen. Unvermutet riß die gelbe Nebelschicht unter ihnen auf und gab die Sicht auf das graue Gebäude frei. Doch was heißt grau – so sah sie ja gar nicht mehr aus. Im Gegenteil, die Mühle lag wie ein funkelnder Diamant da, wie ein Zauberstein, dessen Facetten in bunten Regenbogenfarben schillern. Das aber kam von dem Wasser, das nach allen Seiten übers Dach zu Boden stürzte. Es hatte den Nebel vertrieben, den Staub weggewaschen und vermengte sich nun mit den Sonnenstrahlen. Ein farbenprächtiges Bild! Arkados Angst jedenfalls war auf einmal wie weggeblasen, und er begriff, daß die Taureker ein Mittel gefunden hatten, sich gegen Karenas Gelben Nebel zur Wehr zu setzen.
»Auf so einen grandiosen Einfall kann nur Antreno gekommen sein, einer unserer Stammesältesten«, rief er laut. Eine ungeheure Freude hatte ihn ergriffen, gepaart mit dem Stolz auf das ganze Zwergengeschlecht.
ARACHNAS RÜCKKEHR
Der Teppich setzte zum Sturzflug an, glitt in den Spalt zwischen Wasserkuppel und Gelbem Nebel und landete direkt vor dem Eingang zur Mühle. Das alles aber geschah höchst elegant und lautlos.
Beim Anblick der dreckverschmierten Riesin flohen die wachhabenden Zwerge entsetzt ins Innere des Gebäudes und verriegelten das Tor. In dem Tohuwabohu hatte natürlich niemand den Jäger Arkado auf Arachnas Hand entdeckt. Die Wache war vielmehr überzeugt, Karena in höchsteigener Person sei zu ihnen herabgestiegen, um Rache für ihre Aufsässigkeit zu nehmen.
Auf das Geschrei hin war auch Antreno herbeigeeilt, sein Alter und alle Würde vergessend. Ebenso schnell war Kastao zur Stelle, und überhaupt wimmelte es am Tor im Nu von Kindern und all jenen Zwergen, die gerade nicht beschäftigt waren. Die halbe Mühlenbevölkerung hatte sich eingefunden.
Plötzlich wurde laut ans Tor geklopft, und eine bekannte Stimme rief:
»He, Freunde, macht auf! Antreno, Kastao, hört ihr mich – ich bin es, der Jäger Arkado! Die Riesin neben mir ist nicht Karena, sondern unsere neue Herrin Arachna. Sie hat den Großen Riesenschwur geleistet und wird uns beschützen, wenn wir fortan ihr anstatt Karena dienen.«
Antreno spähte ungläubig durchs Guckloch. Tatsächlich, da draußen stand, heil und unversehrt, der Jäger. Die beiden Stammesältesten hatten in den letzten Tagen oft von ihm gesprochen und schon fast die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals lebend wiederzusehen.
Das Tor fuhr quietschend auf. Arkado fand sich in den Armen seiner Gefährten wieder, die ihn ungestüm an sich drückten und mit Fragen überhäuften. Wieviel hatte sich doch seit jener nächtlichen Zusammenkunft ereignet, als sie die Verschwörung gegen die Hexe vorbereiteten! Das Leben nicht nur der Taureker hatte sich grundlegend verändert, sondern alles ringsum. Da war plötzlich Arachna an die Stelle ihrer Mutter getreten und hatte den Großen Schwur geleistet. Es gab offenbar noch richtige Wunder.
Die Riesin ihrerseits betrachtete neugierig die seltsame Mühle und die Ansammlung dieser winzigen Menschlein. Dann verließ sie ihren Fliegenden Teppich, schritt zu dem Wasserfall, bemüht, dabei nicht versehentlich auf eines der quirligen Wesen zu treten, und begann sich unter wohligem Ächzen zu waschen. Um sie her bildete sich sogleich eine große schmutzige Pfütze, die in dem Maße schlammiger wurde, wie die Frau den Dreck abspülte. Schließlich erinnerte die Pfütze an einen Sumpf, vor den Taurekern aber stand ein verhältnismäßig sauberes großes Weib, das im Vergleich zu Karena sogar einigermaßen hübsch war.
Zwei Dutzend Frauen aus der einstigen Schloßdienerschaft eilten mit einem Tablett herbei, auf dem sie ein Salzfaß und viele Brote trugen, um den Neuankömmling nach altem Brauch willkommen zu heißen. Ungefähr hundert Männer aber legten der Riesin ehrerbietig ein Kleid Karenas zu Füßen, das sie aus dem Schloß mitgenommen hatten, um bei Bedarf neue Sachen für die Zwerge daraus zu schneidern.
Arachna lächelte zufrieden. Nicht übel, so verwöhnt zu werden, dachte sie, man braucht ja nur ein bißchen freundlich zu sein. Ich werde die Zwerge mit auf den Fliegenden Teppich nehmen und so weit fortsegeln, daß meine Mutter mich nicht mehr wiederfindet. Die Riesin konnte ja nicht wissen, daß Karena in die Staubschlucht gestürzt war.
Mit einer Handbewegung scheuchte sie ihre neuen Diener ins Haus, damit sie sich umziehen konnte. Dann rief sie, ohne noch Zeit mit unnützen Gesprächen und Verhandlungen zu vergeuden, mit lauter Stimme, so daß es in jedem Winkel der Mühle zu hören war:
»Also gut, ihr Zwerge! Ich habe geschworen, euch zu behüten und kein Leid anzutun, aber auch ihr habt einen Eid geleistet! Nun denn, ihr gefallt mir, und ich bin gewillt, euch in ein fernes Land mitzunehmen. Es geht eine Sage darüber, und obwohl niemand von uns je dort war, bin ich sicher, daß es existiert. In diesem Reich soll es eine freundliche Sonne, grüne Wälder, blaue Berge und saftige Wiesen geben. Es heißt Zauberland, und wenn wir es erreichen, erwartet uns ein glückliches Leben. Macht euch also bereit zum Aufbruch. Packt nur das Nötigste zusammen, auf dem Teppich ist nicht unbegrenzt Platz! In einer Stunde starten wir!«
Unterdessen hatte Arkado den Freunden von seinen Erlebnissen berichtet. Antreno und Kastao lobten ihn für seine List und Tapferkeit, doch mitten in ihr Gespräch hinein ertönte die Donnerstimme ihrer neuen Herrin. Die drei tauschten einen kurzen Blick und sagten seufzend:
»Was hilft’s, wir müssen tun, was sie verlangt. Schlimmer als hier kann es in diesem Zauberland nicht sein.«
Eine Stunde danach fanden sich alle Zwerge bei Arachna ein, die bereits auf ihrem Fliegenden Teppich thronte. Der wertvolle Vorleger erinnerte jetzt an die berühmte Arche Noah, denn die Taureker hatten ihr ganzes Vieh mitgebracht: Kühe und Pferde, Katzen und Hunde, Hühner und Enten.
»Auf ins Zauberland!« befahl Arachna dem Teppich, als die Zwerge sich eingerichtet hatten, so gut es eben ging.
Ein Zittern lief durch den Teppichkörper, er spannte sich und hob mit sichtlicher Mühe vom Boden ab. Die Zwerge atmeten erleichtert auf.
Arachna gab dem Teppich keine Befehle mehr, sie war selbst gespannt, ob er sie in das Land bringen würde, von dem manchmal die Alten gesprochen hatten und das sehr schön sein mußte. Sie wußte nicht mehr, daß sie selbst schon dort gelebt und seine Bewohner zu unterwerfen versucht hatte, denn sie war ja durch den Tunnel und den Stein des Hurrikap um mehrere Jahrtausende zurückgeworfen worden und hatte dabei ihr Gedächtnis verloren.
Der Teppich aber, eben ein Zauberteppich, fand den Weg in der Tat allein. Er landete auf der Talsohle, und die Zwerge machten sich sofort ans Werk. Die einen luden das Gepäck ab, die anderen nahmen bereits geeignete Bäume für den Hausbau in Augenschein. Während Antreno die Arbeiten leitete, rüstete Arkado schon zur ersten Jagd. Kastao aber machte sich auf die Suche nach einer Unterkunft für die Riesin und entdeckte auch bald eine große Höhle. Sie befand sich ganz in der Nähe in einer Schlucht, und Arachna erkor sie sofort zu ihrem neuen Domizil.
Kaum daß sie allein war, suchte sie sich eine Felsspalte als Geheimfach für ihren größten Schatz aus, das Zauberbuch.
Auf diese Weise kam Arachna also ins Zauberland und führte sich hier bald schlimmer auf als ihre Mutter Karena in der früheren Heimat. Zwar ließ sie, ihrem Schwur gemäß, die Zwerge in Ruhe, suchte dafür aber die Käuer, Zwinkerer und wie die Bewohner noch hießen, mit ihrer Bosheit heim. Nachdem der Große Zauberer Hurrikap sie deswegen mit einem fünf Jahrtausende währenden Schlaf bestraft hatte, war sie kein bißchen besser geworden, und es kam zu den Kämpfen mit dem Weisen Scheuch, dem Eisernen Holzfäller und dem Tapferen Löwen, in die schließlich das Mädchen Ann Smith, der Junge Tim O’Kelly und der Einbeinige Seemann Charlie Black eingriffen.
Vom scheinbaren Ende Arachnas an der Todesklippe und ihrer Rettung durch die Große Glua habe ich schon erzählt, von ihrer Begegnung mit dem Uidenmädchen Ah und dem Säbelzahntiger Achr ebenfalls. Durch den Schwarzen Zauberstein und den Zeitentunnel kam die Riesin dann in ihre Kindheit zurück. So schloß sich der Kreis, dem Arachna nicht entgehen konnte. Wenn sie in der Vergangenheit war, hatte sie die Zukunft vergessen, und umgekehrt. Deshalb würden all ihre Abenteuer immer wieder von vorn beginnen.