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Mike erinnerte sich hinterher nicht einmal, wie er in seine Koje zurückgekommen war. Er schlief auf der Stelle ein, und er hatte auch das Gefühl, auf der Stelle wieder geweckt zu werden, auch wenn ihm ein Blick auf die Uhr verriet, daß Yasal ihm diesmal vier ganze Stunden gegönnt hatte, um sich zu erholen.
Auf diese Weise verging mehr als ein Tag - sie arbeiteten drei Stunden, kehrten zur NAUTILUS zurück, um vier Stunden auszuruhen, und stiegen dann wieder in die Tauchanzüge. Die Zahl der Behälter nahm nur langsam ab, aber schließlich begann Mike doch Hoffnung zu schöpfen, daß sie es schafften -falls Singh und er bis dahin nicht vor lauter Erschöpfung einfach zusammengebrochen waren, hieß das.
Er hatte auch längst aufgehört, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was in diesen sonderbaren weißen Bündeln sein mochte. Er wollte seine Arbeit beenden und dann ungefähr acht Monate durchschlafen, das war alles, was ihn noch interessierte. Aber er sollte bald erfahren,wassie aus dem Wrack der TITANIC bargen. Die Katastrophe geschah, als sie beinahe fertig waren. Der Laderaum hatte sich geleert; vielleicht waren es noch dreißig, vielleicht vierzig Kokons, die zur NAUTILUS hinübergeschafft werden mußten, und dies war wahrscheinlich ihre letzte Schicht. Also blieben ihnen für die Rückfahrt noch vier Tage eine knappe Frist, aber wenn sie die Maschinen der NAUTILUS noch einmal bis an die Grenzen belasteten, konnte sie ausreichen. Siemußtenes einfach schaffen, wenn er Serena und Astaroth jemals wiedersehen wollte. Der Gedanke an die Atlanterin und den einäugigen Kater weckte etwas von dem alten Zorn in Mike. Er hatte mittlerweile begriffen, daß es für Yasal und die beiden anderen um etwas unvorstellbar Wichtiges ging und sie wirklichallestun würden, um ihr Ziel zu erreichen. Aber es machte ihn rasend, zu etwasgezwungenzu werden, von dem er nicht einmal wußte, wozu es gut war.
Mike war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er für einen Moment unaufmerksam war. Singh und er hatten ihre Aufgaben getauscht: Während Singh die Behälter herbeischaffte, befestigte Mike sie in den Schlaufen und gab ihnen einen leichten Stoß, und er mußte den letzten wohl nicht richtig befestigt haben, denn er hatte das Schiff noch nicht ganz verlassen, als er aus seinem Halt zu gleiten begann. Mike sah das Unglück kommen und wollte los, um den Kokon aufzufangen, aber in dem schweren Taucheranzug kam er natürlich zu spät: Der weiße Behälter glitt vollends aus der Seilschlaufe, prallte gegen diemesserscharfe Kante der Öffnung, die Yasal in den Schiffsrumpf geschweißt hatte, und verschwand sich überschlagend in der Dunkelheit draußen.
Mikes Herz machte einen entsetzten Sprung. Er war nicht sicher -aber er hatte den Eindruck, daß der Behälter aufgeplatzt war, und wenn das stimmte, dann würde Yasal ihm wahrscheinlich den Kopf abreißen, und das möglicherweise nicht nur im übertragenen Sinne! So schnell er konnte, durchquerte er den Raum, sprang aus dem Schiff und sah sich nach dem Behälter um. Im ersten Moment konnte er ihn nirgends entdecken.
Dort, wo er eigentlich hätte liegen müssen, war nur unberührter Sand. Dann sah er ihn -ein ganzes Stück weiter rechts und nicht auf dem Boden, sondern sich noch immer überschlagend in der Strömung dahintreibend. Und erwartatsächlich beschädigt. Eine Spur silberner Luftbläschen markierte den Weg, den er nahm, und Mike glaubte kleine, metallisch schimmernde Trümmerstücke zu sehen, die unter ihm zu Boden sanken.
»Singh!« rief er. »Schnell! Komm her! Hilf mir!« Er wartete Singhs Antwort nicht ab, sondern bewegte sich hinter dem Behälter her. Der Kokon war schon fast weiter entfernt, als der Scheinwerferstrahl reichte, und er entfernte sich ununterbrochen weiter. Mikes Schrecken wandelte sich in Entsetzen. Wenn die Strömung den Behälter ergriff und aus dem Licht trug, hatten sie keine Chance mehr, ihn je wiederzufinden. Für einen Moment war er nahe daran, aufzugeben. Was, wenn er einfach zurückgehen und so tun würde, als wäre nichts passiert? Es waren Hunderte von Behältern. Einer mehr oder weniger würde kaum auffallen, und selbst wenn, konnte er sich einfach dumm stellen. Aber er ahnte auch zugleich, daß das nicht klappen würde. Yasal und Hasim wußten ganz genau, wie viele Behälter sich an Bord der TITANIC befanden, und sie würden nicht eher Ruhe geben, bis auch der allerletzte geborgen war. Und außerdem war es schlichtweg unmöglich, jemanden zu belügen, der Gedanken lesen konnte wie andere ein offenes Buch. Er griff schneller aus, und er hatte ausnahmsweise Glück: Die Strömung schien nachzulassen, denn der Behälter entfernte sich jetzt nicht mehr weiter von ihm, sondern sank ganz langsam zu Boden, so daß der Abstand zwischen ihnen allmählich wieder kleiner zu werden begann. Als Mike ihn endlich eingeholt hatte und schweratmend stehenblieb, hatte er sich so weit von der NAUTILUS entfernt, daß das Schiff hinter ihm schon nicht mehr sichtbar war. Selbst die Scheinwerferstrahlen waren von der allgegenwärtigen Dunkelheit hier unten fast verschluckt worden. »Mike? Herr? Wo seid Ihr?«
Singhs Stimme erklang verzerrt und dünn in seinem Helm, und es dauerte eine ganze Weile, bis die Gestalt des Inders hinter Mike erschien. Er bewegte sich, so schnell der Taucheranzug dies zuließ. »Ich bin hier«, antwortete Mike. »Großer Gott, was ist in Euch gefahren?« keuchte Singh. »Seid Ihr verrückt geworden?« Mike wollte über diesen ungewohnt scharfen Ton auffahren, aber dann begriff er voller Schrecken, wie weit er dem Behälter gefolgt war. Wäre er auch nur noch ein Stück weitergelaufen, dann wäre er vielleicht in die ewige Nacht des Meeresgrundes hineingerannt, ohne es auch nur zu merken.
»Es ist ja nichts passiert«, sagte er hastig. »Das heißt -mir nicht. « Er deutete auf den aufgeplatzten Behälter, der vor ihm im Sand lag. Es kamen nun keine Luftblasen mehr aus ihm, aber irgend etwas Dünnes, Weißes hing heraus und bewegte sich träge in der Strömung. »Was ist los?« Singh klang erschrocken, und Mike konnte hören, wie er überrascht die Luft einsog, als er neben ihm anlangte und sah, was passiert war. »Ich habe nicht aufgepaßt«, gestand Mike. »Es tut mir leid. Komm -hilf mir. Vielleicht können wir irgend etwas tun, damit Yasal nicht merkt, was ich angerichtet habe. «
Singh schwieg vielsagend, ließ sich aber neben Mike in die Hocke sinken und half ihm, den Behälter herumzudrehen, so daß sie hineinblicken konnten. Und im selben Moment schrie Mike so laut auf, daß man es wahrscheinlich noch drüben auf der NAUTILUS hören konnte. Er wußte jetzt, was die sonderbaren Behälter enthielten, die sie aus dem Wrack geborgen harten. Das Geschöpf sah auf den ersten Blick aus wie ein Mensch -das hieß, es hatte zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf, aber damithörte die Ähnlichkeit mit einem Menschen auch schon wieder auf. Mike schätzte, daß es nicht größer als Chris war, also etwa so groß wie ein elf-oder zwölfjähriges Kind, aber sehr viel schlanker als ein normaler Mensch. Seine Arme und Beine waren so dünn, daß Mike sie bequem mit einer Hand hätte umschließen können, und seine Haut hatte eine fast weiße Farbe. Es hatte sechs Finger an jeder Hand, die viel schmaler und um einiges länger waren als die eines Menschen, und nicht ein einziges Haar, weder am Leib noch auf dem Kopf. Und dieser Kopf war das Unheimlichste an ihm. Das Gesicht lief in einem spitzen Kinn aus, in dem sich ein fast lächerlich kleiner Mund befand und keine sichtbare Nase. Dafür waren die Augen übergroß und von einer seltsamen Tropfenform. Sie standen weit offen, so daß Mike sehen konnte, daß sie weder Pupillen noch Iris hatten, sondern einfach nur schwarz waren. Und außerdem war das Geschöpf tot. »Großer Gott!« flüsterte Mike erschüttert.»Dasist also ihr großes Geheimnis!«
Singh ließ sich neben ihm auf ein Knie herabsinken und streckte die behandschuhte Rechte nach dem Wesen aus, wagte dann aber doch nicht, es zu berühren. »Was... was ist das?« flüsterte er. »So etwas... habe ich noch nie gesehen!«
»Ich glaube, das hat noch niemand«, antwortete Mike leise. »Mit Ausnahme von Lady Grandersmith vielleicht. « »Ihr meint -« Singh stockte und sah Mike verblüfft an.
»Yasal und die beiden anderen... ?« »Fällt dir eine bessere Erklärung ein?« antwortete Mike. »Ich weiß nicht, was die drei sind, aberMenschensind es bestimmt nicht. So wenig wie dieses Wesen hier. Vielleicht sind es ihre Brüder. « »Aber das ergibt keinen Sinn«, sagte Singh kopfschüttelnd, nachdem er eine Weile überlegt hatte. »Warum sollten sie all diese Mühe auf sich nehmen, nur um ein paar hundert Särge aus einem Wrack zu bergen?« »Vielleicht, damit sie niemand findet«, antwortete Mike. Singh schüttelte erneut den Kopf. »Hier unten wären sie für alle Zeiten sicher gewesen«, behauptete er. »Sicherer als in der Cheopspyramide. Aber warum haben sie sie überhaupt auf das Schiff gebracht? Niemand kennt den geheimen Zugang zur Grabkammer. Sie wären dort unten kaum gefunden worden. « Das stimmte. Mike beugte sich wieder über das Geschöpf und betrachtete es eine Weile, und dann fiel ihm etwas ein, was er vorhin beobachtet hatte, ohne ihm vielleicht die entsprechende Bedeutung zuzumessen. »Luft«, sagte er. »Wie?«
»Luft«, wiederholte Mike. »Als der Behälter aufgeplatzt ist, kamen Luftblasen heraus. « Plötzlich war er sehr aufgeregt. »Vielleicht sind es gar keine Särge, Singh! Was, wenn... «
Der Gedanke war so phantastisch, daß es ihn hörbare Überwindung kostete, ihn auszusprechen. »Was, wenn sie alle nochleben?«
Singh starrte ihn aus aufgerissenen Augen an und wollte etwas erwidern, aber Mike fuhr hastig fort: »Das ist die Erklärung, Singh! Sie sind nicht tot, versteh doch! Dieses Geschöpf hier ist gestorben, weil der Behälter aufgeplatzt und es ertrunken ist, aberall die anderen sind vielleicht noch am Leben!«
Singh sagte nichts - Mikes Theorie war die einzige, die überhaupt Sinn ergab, und trotzdem warf ihre Entdeckung tausendmal mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Sie waren beide noch viel zu verblüfft und erschüttert, um einen klaren Gedanken zu fassen. Nach einer Weile stand Mike auf und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Gehen wir zurück«, sagte er. »Mit ein bißchen Glück hat Yasal noch nicht gemerkt, was passiert ist. Vielleicht fällt ihm gar nicht auf, daß einer der Behälter fehlt. « »Ihr wollt ihn einfach hier zurücklassen?« »Mir ist auch nicht wohl dabei«, antwortete Mike. »Aber hast du vielleicht eine bessere Idee? Ich weiß nicht, was er tut, wenn er herausfindet, was passiert ist, und ehrlich gesagt: Ich will es auch nicht wissen. « Aber er würde es herausfinden, das war ihnen beiden klar. Schließlich war es unmöglich, vor Yasal irgend etwas geheimzuhalten.
Als hätte es nur dieses Stichwortes bedurft, tauchte in diesem Moment eine schwarzgekleidete Gestalt aus der Dunkelheit hinter ihnen auf. Mikes Herz machte einen entsetzten Sprung. Yasal kam so schnell näher, daß an eine Flucht nicht einmal zu denken war. Mikes Gedanken überschlugen sich.
»Yasal!« sagte er. »Es tut mir leid. Es ist meine Schuld, ich... ich war einen Moment unaufmerksam, und -« Yasal ignorierte ihn. Mit zwei, drei raschen Schritten war er neben ihm, stieß ihn unsanft beiseite und ließ sich neben dem aufgeplatzten weißen Kokon auf die Knie sinken. Seine Hände streckten sich nach der reglosen Gestalt in seinem Inneren aus, aber wie Singh zuvor, stockte er kurz, bevor er sie wirklich berührt hätte.
Wie Yasal so im Sand kniete und sich über das leblose Geschöpf beugte, empfand Mike nichts anderes als ein plötzliches, sehr heftiges Mitleid mit ihm. Bisher hatte er nicht einmal gewußt, ob die unheimlichen Schwarzgekleideten überhaupt in der Lage waren, menschlicheGefühlezu empfinden (und um ehrlich zu sein, er hatte es bezweifelt), aber jetzt spürte er sehr deutlich, daß Yasal um das tote Wesen trauerte wie um einen Freund.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte er noch einmal. »Ich wollte
das nicht, das mußt du mir glauben. Es war ein Unfall. «
Yasal hob langsam den Kopf und sah ihn an. Mike konnte sein Gesicht auch jetzt nicht erkennen, aber plötzlich wußte er, wieso ihm die Augen immer so unheimlich und fremd vorgekommen waren. Es waren nicht die Augen eines Menschen. Was hinter dem schwarzen Tuch sichtbar war, das waren die gleichen, pupillenlosen Riesenaugen wie die des toten Geschöpfes vor ihnen. »Laß uns zurückgehen«, sagte Mike. »Wir müssen die anderen noch bergen. Ich schwöre dir, daß ich vorsichtiger sein werde. « Yasal rührte sich nicht. Mike hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, als er daran dachte, daß er noch vor ein paar Augenblicken ernsthaft vorgehabt hatte, das tote Wesen einfach so zurückzulassen. Und er schämte sich ein wenig. »Singh und ich bringen ihn zurück«, sagte er. Als Yasal nicht reagierte, beugte er sich herab und wollte das Geschöpf aus seinem Behälter nehmen. Yasal versetzte ihm einen Stoß, der ihn zurücktorkeln ließ. Er fiel, landete unsanft auf dem Rücken und sah noch im Fallen, wie Singh herumfuhr, um sich auf Yasal zu stürzen. »Nicht, Singh!« schrie er.
Tatsächlich hielt sich Singh im letzten Augenblick zurück wohl auch, weil ihm selbst klar wurde, wie wenig er hätte ausrichten können. Trotzdem fuhr Mike in hastigem Ton fort:
»Ich glaube, er will uns damit nur sagen, daß wir ihn nicht anrühren sollen. «
Er versuchte aufzustehen, schaffte es nicht und wälzte sich in dem klobigen Anzug umständlich auf den Bauch, um sich auf Hände und Knie hochzustemmen. Der Scheinwerfer, der an seinem Helm angebracht war, machte die Bewegung mit, und der weiße Strahl tastete noch ein Stück weiter in die Dunkelheit hinein. Und Mike erstarrte mitten in der Bewegung. Sie hatten den Bug des Schiffes fast erreicht, und über ihnen gähnte der gewaltige Riß, der die Flanke der TITANIC gespalten hatte. Aber es war nicht dieser Anblick, der Mike für endlose Sekunden einfach starr dasitzen und an seinem Verstand zweifeln ließ. Alles, was bisher rätselhaft und sinnlos erschienen war, wurde ihm mit einem Male ganz klar. »Was um alles in der Welt ist das?« keuchte Singh. Auch er hatte sich herumgedreht und starrte in dieselbe Richtung wie Mike.
Sie konnten das Gebilde im Licht ihrer Scheinwerfer nur zum Teil erkennen, denn es war sehr groß -Mike schätzte seinen Durchmesser auf sicherlich dreißig Meter, wenn nicht mehr. Es war von silberglänzender Farbe und mußte die Form einer großen Scheibe haben, wenn es sich nicht jenseits des Lichtstrahles plötzlich anders fortsetzte. Ein Teil davon war eingedrückt und zerfetzt -der Teil des messerscharfen Randes, der den Rumpf der TITANIC getroffen und wie eine Axtklinge aufgerissen hatte...
»Es war gar kein Eisberg«, flüsterte Mike. »Wie?« fragte Singh. Er begriff nicht, was Mike meinte. »Die TITANIC«, erklärte Mike, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von dem unheimlichen Gebilde zu wenden. »Es wurde immer angenommen, daß sie mit einem Eisberg kollidiert ist. Aber das stimmt nicht. Es war dasda. «
»Aber was ist das?« fragte Singh verstört. »Ich... ich glaube, ich weiß es«, antwortete Mike stockend. Er kämpfte sich mühsam auf die Füße und warf einen Blick zu Yasal zurück, ehe er fortfuhr. Der vermeintliche Beduine hatte das tote Geschöpf mittlerweile aus seinem Kokon gelöst und trug es wie ein Kind auf beiden Armen. Er starrte Mike noch immer an, auf eine Weise, die ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Ich glaube, es ist ihr Schiff«, sagte er. »Schiff?« Singh schüttelte heftig den Kopf. »Das ist kein Schiff. So etwas habe ich noch nie gesehen!« »Das hat vermutlich niemand auf der Erde«, antwortete Mike. »Ich glaube, sie stammen aus einer anderen Welt. Vielleicht von einem anderen Planeten. Und sie sind damit zu uns gekommen. «
»Niemand kann zu einem anderen Planeten fahren«, sagte Singh überzeugt.
»Wir nicht, aber vielleicht sie«, beharrte Mike. Gerade war es nur eine Idee gewesen, die ihm selbst ein bißchen verrückt vorgekommen war, aber je länger er Yasal ansah, desto überzeugter war er selbst davon. Es war plötzlich nicht nur eine bloße Idee. Es war, als erzählten ihm die unheimlichen Augen des Fremden eine Geschichte oder zumindest einen Teil davon. »Ich glaube, sie haben sie deshalb auf die TITANIC gebracht«, sagte er. »Damit sie von diesem Schiff abgeholt und wieder nach Hause gebracht werden können. Aber irgend etwas ist schiefgegangen. Es ist mit der TITANIC zusammengestoßen und beide sind gesunken. « Er wandte sich ganz zu Yasal um. »War es so?« fragte er.
Yasal nickte.
»So ist das also«, murmelte Singh. Mike fiel der veränderte Ton in seiner Stimme auf. Sie klang plötzlich sehr bitter.
»Was meinst du?«
»Was ich meine?« Singh lachte hart. »Ich meine die mehr als tausendfünfhundert Menschen, die hier ums Leben gekommen sind. «
»Aber es war ein Unfall!« antwortete Mike. »Du glaubst doch nicht, daß sie das absichtlich getan haben? « »Nein -aber es hat ihnen wahrscheinlich auch nicht viel ausgemacht«, erwiderte Singh. »Immerhin haben Sie auchunserLeben aufs Spiel gesetzt, um ihre Brüder zu retten. «
»Aber das ist doch etwas anderes!« protestierte Mike. Doch ganz sicher war er nicht. Der Anblick Yasals, der mit dem toten Geschöpf auf den Armen dastand und Singh und ihn wortlos ansah, rührte noch immer sein Herz, aber er mußte auch gleichzeitig wieder an die Szene im Lagerhaus denken. Hätte Serena Hasim nicht zurückgehalten, hätte er einen Wehrlosen getötet. Er schauderte plötzlich. Wenn diese Wesen über Gefühle und ein Moralempfinden verfügten, so schien es vollkommen anders zu sein als das eines Menschen. »Unsere Luft geht bald zu Ende«, sagte Singh plötzlich. »Wir müssen zurück. «
Er wollte losgehen, aber Yasal vertrat ihm den Weg. Mit einer raschen Bewegung verlagerte er das Gewicht des toten Geschöpfes auf den linken Arm und streckte die freigewordene Rechte in Singhs Richtung aus. Zwischen seinen Fingern blitzte und funkelte etwas Kleines, Weißes; wie ein winziges lebendiges Licht. »Was bedeutet das?« fragte Mike erschrocken. »Könnt Ihr Euch das nicht denken, Herr?« fragte Singh bitter.
Das Licht zwischen Yasals Fingern wurde heller -und plötzlich wußte es Mike. Es war der gleiche, blendendweiße Schein, mit dessen Hilfe er gestern ein Loch in den zentimeterdicken Stahl des Schiffsrumpfes geschnitten hatte.
»Yasal, was... was hast du vor?« fragte er unsicher. Plötzlich hatte er Angst.
»Wir kennen sein Geheimnis«, sagte Singh. »Ich glaube nicht, daß er zulassen wird, daß wir es weitererzählen. « Er machte eine Kopfbewegung zu der silbernen Scheibe zurück, die sich in den Rumpf der TITANIC verkeilt hatte.
»Das ist es doch, nicht? Nur zu. Bring uns um, wenn du willst. Wir können uns nicht wehren. Ein Menschenleben ist euch ja offensichtlich nicht viel wert. Geschweige denn das von tausendfünfhundert!« Das Licht flackerte heller, aber der tödliche Blitz, auf den Mike wartete, blieb aus. Für endlose Sekunden stand Yasal reglos da und zielte mit seiner furchtbaren Waffe auf Singh, aber dann senkte er den Arm ein wenig und sah Mike an.
»Wir werden es niemandem verraten«, sagte Mike. Und ermeintees so -nicht aus Angst, sondern weil er einfach wußte, daß dieses Geheimnis niemals gelüftet werden durfte. »Ich verspreche es dir, Yasal. Wenn du meine Gedanken wirklich lesen kannst, dann tu es, und du wirst sehen, daß ich es ehrlich meine. Niemand wird je erfahren, was hier passiert ist oder daß es euch gibt. «
Die Zeit schien stehenzubleiben. Das Licht richtete sich nun auf ihn, und zugleich schienen die unheimlichen Augen Yasals direkt in ihn hineinzublicken. Er konnte regelrecht spüren, wie etwas durch seinen Kopf tastete und seine geheimsten Gedanken ergründete. Und dann, nach einer Ewigkeit, senkte Yasal die Hand wieder, und das furchtbare Glühen zwischen seinen Fingern erlosch.
Selbst am nächsten Morgen begriff Mike noch nicht wirklich,warumSingh und er noch am Leben waren. Sie waren sofort auf die NAUTILUS zurückgekehrt, ohne die wenigen noch verbliebenen Behälter zu bergen, und Mike hatte sich fast unmittelbar darauf in seine Kabine zurückgezogen. Aber obwohl er hundemüde und zu Tode erschöpft war, hatte er noch lange auf seinem Bett gelegen und die Decke über sich angestarrt. Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto unwahrscheinlicher war es ihm vorgekommen, daß Yasal ihm wirklich geglaubt hatte. Er hatte nicht gelogen -sein Versprechen war ehrlich gemeint gewesen, und zweifellos hatte Yasal dies in seinen Gedanken erkannt, aber das konnte nicht der einzige Grund sein. Er war ein Mensch, und Menschen ändern manchmal ihre Meinung, ganz davon abgesehen, daß in der Lebenszeit, die noch vor ihm lag, vielleicht der Tag kommen mochte, an dem ergezwungenwar, zu erzählen, was Singh und er auf dem Meeresgrund erlebt hatten. Singh hatte mit seinem Mißtrauen durchaus recht -die Wesen von den Sternen hatten den Tod von über tausend Menschen in Kauf genommen, um ihre Brüder zu holen, und sie hatten auch das Leben der NAUTILUS-Besatzung riskiert, um sie zu bergen und ihr Geheimnis zu wahren. All dies jetzt aufs Spiel zu setzen, nur weil Mike einVersprechengegeben hatte, das paßte einfach nicht.
»Wir sind soweit. « Trautmans Stimme drang in Mikes Gedanken. Er schrak hoch, blickte einen Moment lang völlig verständnislos in das bärtige Gesicht Trautmans und rettete sich dann in ein verlegenes Lächeln. »Schon?«
Trautman runzelte die Stirn. Sein Blick wurde wieder ein bißchen besorgt -Mike hatte gute zwölf Stunden ununterbrochen geschlafen, aber er war noch immer hundemüde, und wahrscheinlich sah er auch so aus. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte er. Mike nickte hastig. »Ja. Entschuldigen Sie. « Er wollte aufstehen und zu seinem Platz am Steuerpult gehen, aber Trautman schüttelte den Kopf. »Ben wird das übernehmen«, sagte er. »Ruh dich aus. Du wirst deine Kräfte noch brauchen. « »Wieso?« fragte Mike.
»Weil wir ohne Pause durchfahren werden und uns am Ruder ablösen müssen«, antwortete Trautman. »Wir können es bis zum sechzehnten schaffen, aber es wird knapp. « Er zögerte einen Moment, dann setzte er hinzu: »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Du bist irgendwie anders seit gestern. So nebenbei: Singh ebenfalls. « »Wir sind nur erschöpft«, antwortete Mike hastig. »Es war alles sehr anstrengend. Ich bin froh, daß es vorbei ist. Wann fahren wir los? Sofort?« »Noch nicht«, erwiderte Trautman. »Wir warten noch auf Yasal. «
»Ist er denn nicht an Bord?« fragte Mike verwundert. Er hatte von Trautman erfahren, daß Yasal und sein Bruder gestern noch einmal allein hinausgegangen waren, vermutlich, um die zurückgebliebenen Behälter zu holen. Aber es waren nur noch wenige gewesen, allerhöchstens ein Dutzend; eine Aufgabe, die in einer Stunde zu erledigen gewesen wäre.