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-und erlebte eine weitere, nicht besonders angenehme Überraschung. Lady Grandersmith und Hasim waren nicht allein. Ihr Führer kam mit ihnen -aber im ersten Moment war Mike nicht sicher, wer wer war. Der andere Mann glich Hasim nämlich aufs Haar -genauer gesagt, bis auf die letzte Faser seines schwarzen Kaftans. Die beiden waren vollkommen identisch gekleidet, gleich groß, von der gleichen Statur, und sie bewegten sich sogar im selben Rhythmus.
»Hoppla«, sagte Ben. »Wer ist das? Der dritte im Bunde?«
Lady Grandersmith lachte leise. »Ich hätte es anders ausgedrückt, aber du hast Recht. Hasim und Yasal gehören zum selben Stamm wie er. Deshalb war es auch so einfach für mich, diese Privatführung für euch zu organisieren. «
»Gibt's davon noch mehr?« fragte Ben. Diesmal lachte Lady Grandersmith nicht. »Ja«, antwortete sie ernst. »Und du solltest deine Zunge ein bißchen hüten, junger Mann. Sie sprechen zwar unsere Sprache nicht, aber ich kann dir versichern, daß sie sie ausgezeichnet verstehen. Und sie sind ein sehr stolzes Volk. « »Sie?« fragte Ben.
»Al Achawwiya al sauda'«, antwortete Lady Grandersmith. »Das wolltest du doch hören, oder?« Ben war klug genug, nicht darauf zu antworten. Lady Grandersmith' Stimme war sehr scharf gewesen. Ihre anfangs so gute Stimmung war ohnehin schon fast verflogen, und Lady Grandersmith' Antwort auf Bensnicht besonders höfliche Frage hatte noch ein Übriges dazugetan.
Natürlich ist sie nicht ernst gemeint, dachte Mike. Ganz bestimmt nicht. Nein, auf gar keinen Fall. Al Achawwiya al sauda' waren nichts als eine Legende. Basta. Auch wenn Yasal, Hasim und dieser dritte unheimliche Mann in Schwarz ganz genau so aussahen, wie er sich jemanden vorgestellt hätte, der sich den dunklen Mächten und dem Teufel verschrieben hatte... Sie setzten ihren Weg sehr schweigsam fort, und die sonderbare Stimmung, die er bei ihrer Ankunft verspürt hatte, ergriff allmählich wieder Besitz von ihm. Vielleicht lag es tatsächlich an der Nähe der Pyramiden. Mike war nicht abergläubisch, aber hier spürte er, daß es wohl wirklich so etwas wie heilige Orte gab, und dieser hier gehörte eindeutig dazu. Plötzlich stockte Serena mitten im Schritt. »Was ist denndas?«hauchte sie. Mikes Blick folgte dem ihrer ungläubig aufgerissenen Augen. Nicht weit vor ihnen erhob sich eine kolossale Steinfigur auf einem riesigen Sockel. In der mittlerweile hereingebrochenen Nacht war sie nicht mehr als ein schwarzer Umriß vor einem nicht ganz so schwarzen Hintergrund, aber Mike wußte natürlich trotzdem sofort, worum es sich handelte. »Die Sphinx«, sagte er.
»Sie ist zu groß«, antwortete Serena. Diese Antwort verwirrte Mike, während sie Lady Grandersmith wieder einmal zu einem amüsierten Lachen Anlaß gab. »Natürlich ist sie so groß«, sagte sie. »Schließlich ist es nur eine Sagengestalt. Sie bewacht die Pyramiden, weißt du?«
Mike konnte regelrecht sehen, wie Serena zu einer Antwort ansetzte und sich dann im letzten Moment zusammenriß. Schweigend gingen sie weiter, aber während sie die Sphinx passierten, hing Serenas Blick weiter wie gebannt an der gigantischen Figur. »Und sieistzu groß«, sagte sie -diesmal aber wohlweislich so leise, daß nur Mike die Worte hören konnte. »Wie meinst du das?« fragte er ebenso leise. »Woher willst du wissen, wie groß eine Sphinx ist? Niemand hat sie je gesehen. «
»Doch«, antwortete Serena ernst. »Ich. Zwei davon haben den Palast meines Vaters bewacht. « »Wie bitte?« keuchte Mike. »Du willst sagen, daß -« Er bemerkte sofort, daß er zu laut gesprochen hatte und Lady Grandersmith ihm und Serena einen schiefen Blick zuwarf. So schluckte er den Rest seiner Frage hinunter. Aber er nahm sich fest vor, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder darauf zurückzukommen. Offensichtlich gab es noch eine Menge, was Serena ihm und den anderen über ihre Welt nicht erzählt hatte. Als sie am Fuß der großen Pyramide angekommen waren, blieb Lady Grandersmith stehen und wechselte einige kurze Worte in einer fremden Sprache mit ihrem Führer, worauf dieser nickte und mit raschen Schritten in der Dunkelheit verschwand. Mike registrierte mitÜberraschung, daß die Worte nicht im Geringsten nach Arabisch geklungen hatten. »Er holt nur eine Lampe«, sagte Lady Grandersmith und warf einen prüfenden Blick in die Runde, wobei sie vor allem Serena besonders aufmerksam musterte. »Ihr habt alle festes Schuhwerk angezogen, hoffe ich doch?« Darum hatte sie sie eigens gebeten, bevor sie losgefahren waren. Alle nickten, aber Ben konnte sich nicht verkneifen, zu fragen: »Wozu eigentlich? Ich dachte, wir gehenhinein. «Er deutete mit einer weitausholenden Geste auf die Pyramide.
»Das tun wir auch, junger Mann«, antwortete Lady Grandersmith. »Aber ein bißchen klettern müssen wir schon.
Der Eingang liegt leider nicht ebenerdig, sondern ein Stück
darüber. «
Bens Gesicht verdüsterte sich, und auch Mike war über die Aussicht, an der Pyramide hinaufzuklettern, alles andere als begeistert. Auch wenn die übereinanderliegenden Blöcke so etwas wie eine Treppe bildeten, so doch eine mit sehr hohen Stufen. Auch nur ein kleines Stück darauf emporzusteigen würde zu einer ziemlichen Anstrengung werden.
Trautmans Gedanken schienen wohl ganz ähnlich zu sein, denn er sagte: »Sind Sie sicher, daß das notwendig ist, Lady Grandersmith? Ich meine, es ist bereits dunkel, und so eine Kletterpartie ist nicht ungefährlich... « »Aber, Mister Trautman!« sagte Lady Grandersmith kopfschüttelnd. Ihre Stimme klang spöttisch. »Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie und die Kinder auf ihren Reisen nicht schon Schlimmeres geschafft haben?«
Trautman blinzelte. Das war nun die direkteste Anspielung, die Lady Grandersmith machte; eigentlich schon eine fast unverblümte Frage. Mike fragte sich, wieviel Lady Grandersmith eigentlich über sie wußte -und ob sie wirklich die harmlose Dame war, für die sie sie alle bisher gehalten hatten. Er wünschte sich, sie hätten Astaroth mitgenommen, aber leider hatte Trautman darauf bestanden, daß der Kater im Haus zurückblieb. »Außerdem lohnt sich die kleine Mühe«, fuhr Lady Grandersmith fort, als Trautman nicht antwortete. »Sie werden etwas zu sehen bekommen, von dessen Existenz die normalen Touristen nicht einmal etwas ahnen. «
»Und was?«
Lady Grandersmith lachte. »Warten Sie's ab. Ich verspreche Ihnen, daß Sie nicht enttäuscht sein werden. « Trautman blickte weiterhin mißtrauisch, aber er sagte nichts mehr, sondern faßte sich in Geduld, bis ihr Führer zurückkam. Er brachte drei Petroleumlampen mit, die jedoch noch nicht brannten. Lady Grandersmith winkte auffordernd und begann als erste die hohen Steinquader hinaufzuklettern, und langsam folgten ihr die anderen.
Es war ein unheimliches Gefühl, in fast vollkommener Dunkelheit an der Außenseite der Pyramide hinaufzuklettern; umso mehr, als sie kaum sahen, wohin sie traten. Der Himmel war zwar wolkenlos, aber es war beinahe Neumond, so daß die Pyramide wie ein riesiger gemauerter Berg über ihnen emporzuragen schien, dessen Gipfel schon nicht mehr zu sehen war. Und auch der Boden verschwand in endlosem Schwarz, kaum daß sie vier oder fünf der Blöcke erklommen hatten.
Nach weiteren zehn Stufen hörte Mike auf, sie zu zählen, aber es ging noch ein gutes Stück weiter nach oben, bis Lady Grandersmith endlich anhielt und mit sichtlicher Ungeduld darauf wartete, daß Mike und die anderen zu ihr aufschlossen. Mikes Herz jagte von der Anstrengung, und seine Hände und Knie zitterten leicht. Mittlerweile fand er ihren nächtlichen Ausflug gar nicht mehr aufregend, sondern eher unheimlich und wahrscheinlich wirklich so gefährlich, wie Trautman vorher gesagt hatte.
»Na, habt ihr noch Puste?« fragte Lady Grandersmith fröhlich.
»Das schon«, antwortete Trautman. »Aber wohin führen Sie uns eigentlich? Soviel ich weiß, liegt der Eingang zum Inneren der Pyramide auf der anderen Seite. «
»Das stimmt«, antwortete Lady Grandersmith. »Aber wir nehmen nicht den offiziellen Eingang. « »Gibt es denn noch einen?« fragte Juan verblüfft. »Laßt euch überraschen«, sagte Lady Grandersmith. »Es ist jetzt nicht mehr weit. «
Mike und Juan tauschten einen erstaunten Blick. Einenzweiten Eingangin die Cheopspyramide? Das war schier unglaublich! So viele Forscher hatten versucht, das Geheimnis dieses Riesenbauwerkes zu entschlüsseln, und bisher hatte man nichts entdeckt als einen einzigen, kahlen Gang, der in eine beinahe leere Kammer führte; eine Kammer noch dazu, von der längst nicht alle Wissenschaftler überzeugt waren, daß es sich tatsächlich um die echte Grabkammer des Pharaos handelte. Schlagartig vergaß er sämtliche Vorbehalte und auch seine Erschöpfung. Vielleicht standen sie kurz vor einer Entdeckung, die auf ihre Weise ebenso phantastisch war wie die, die sie damals auf Kapitän Nemos Vergessener Insel gemacht hatten. Der Weg war tatsächlich nicht mehr sehr weit. Sie balancierten hintereinander vielleicht noch fünfzehn oder zwanzig Meter auf der schmalen Steinstufe entlang, bis ihr Führer stehenblieb. Mike konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber dann ertönte ein Knirschen, als scharre Stein über Stein. Und jetzt zündete Lady Grandersmith auch endlich die Lampen an. Zwei davon reichte sie an Trautman und Singh weiter, die dritte behielt sie selbst in der Hand und hob sie ein wenig in die Höhe.
Was in dem flackernden gelben Licht zum Vorschein kam, das verschlug Mike schier den Atem. Ihr Führer war verschwunden. Wo er gestanden hatte, gähnte ein gut anderthalb Meter hohes, rechteckiges Loch in der scheinbar so massiven Wand der Pyramide. Dahinter war ein schmaler, schräg in die Tiefe führender Gang zu erkennen, der sich jedoch nach wenigen Metern in vollkommener Schwärze verlor. Trautman sog ungläubig die Luft ein. »Aber das ist doch -«
»Habe ich zu viel versprochen?« fragte Lady Grandersmith stolz. »Kommen Sie. Das Beste erwartet uns noch!«
Sie trat gebückt durch den Eingang, wobei sie ungeduldig mit der freien Hand wedelte, ihr zu folgen. Trautman zögerte sichtlich, doch schließlich gewann die Neugier. Er folgte Lady Grandersmith, und Mike und die anderen schlossen sich an. Mike bemerkte, daß Hasim den Abschluß der kleinen Gruppe bildete. Er maß dieser Beobachtung zwar keine besondere Bedeutung zu, aber sie gefiel ihm auch nicht. Der Gang war so schmal, daß sie nur hintereinandergehen konnten, und Trautmans breite Schultern die Wände an beiden Seiten streiften. Der Boden fiel in steilem Winkel ab, so daß Mike instinktiv die Arme ausstreckte und sich an den groben Steinwänden festhielt, um die Balance zu halten, und manchmal senkte sich die Decke, so daß er sich bücken mußte, um darunter durchzukommen. Wie Boden und Wände bestand auch die Decke aus den gleichen, gewaltigen Steinquadern, aus denen die gesamte Pyramide errichtet worden war, und einige davon hatten sich offensichtlich gelockert. Einmal mußten sie über einen heruntergestürzten Steinquader klettern, der den Stollen fast völlig ausfüllte. Vielleicht, dachte Mike mit einem unguten Gefühl, ist diese Pyramide gar nicht so massiv, wie allgemein angenommen wird...
»Wohin führt dieser Gang?« drang Trautmans Stimme aus der Dunkelheit vor ihnen zu ihm. Lady Grandersmith antwortete: »Nicht zur Schatzkammer, wenn Sie das erwarten, Mister Trautman. Aber vielleicht zu etwas, was noch viel wertvoller ist. « Trautman seufzte, ersparte es sich aber, eine weitere Frage zu stellen. Schweigend gingen sie weiter. Sie mußten längst nicht nur den Boden wieder erreicht haben, sondern sich bereits tief unter dem Fundament der Pyramide befinden, bevor es vor Mike endlich wieder hell wurde: Trautman, Singh und Lady Grandersmith hatten angehalten und hielten die Lampen hoch. Mike atmete unwillkürlich auf.
Dabei machte er eine erstaunliche Entdeckung. Die Luft in dem schmalen, vielleicht seit Jahrtausenden verschlossen gewesenen Gang war sehr schlecht; so trocken und bitter, daß er ununterbrochen das Gefühl hatte, husten zu müssen. Jetzt aber wurde sie mit einem Male besser. Es war kühler geworden, und es
roch... feucht.
Er ging schneller, erreichte endlich das Ende des schmalen Schachtes und blieb überrascht stehen. Sie befanden sich in einer großen, sicherlich zwanzig Meter hohen und vielleicht fünf- oder sechsmal so breiten, ovalen Höhe. Soweit das Licht der drei Petroleumlampen reichte, bestanden die Wände hier nicht mehr aus steinernen Quadern, sondern aus gewachsenem Felsgestein, das nur hier und da künstlich geglättet worden war. Auf den so entstandenen, zumeist rechteckigen Flächen waren kunstvolle Reliefs herausgemeißelt worden, die noch deutliche Spuren von Bemalung aufwiesen. Sie stellten Szenen aus dem
Leben des alten Ägypten dar, wie Mike sie aus Büchern und gelegentlichen Museumsbesuchen kannte. »Großer Gott!« flüsterte Juan. »Was ist das?« »Ich fürchte, das weiß niemand«, antwortete Lady Grandersmith leise. Ihre Stimme hatte einen sonderbaren, lang nachhallenden Klang, der Mike verriet, daß die Höhle wahrscheinlich wesentlich größer war, als sie im Schein der drei Lampen erkennen konnten. »Aber ich habe eine Theorie. Kommt mit!« Sie hob ihre Lampe und ging langsam weiter. Mike und die anderen folgten ihr. Mike sah sich mit heftig klopfendem Herzen um. Er entdeckte weitere Reliefarbeiten. Hier und da waren Nischen in die Wände gehauen, die zwar allesamt leer waren, in denen sich aber früher sicherlich irgend etwas befunden hatte. Vielleicht goldene Statuen? dachte er. Vielleicht täuschte sich Lady Grandersmith ja, und dies war tatsächlich einmal die sagenumwobene Schatzkammer der Cheopspyramide gewesen. Aber wenn, wohin waren dann all die Kostbarkeiten verschwunden? Eines dieser Reliefs erweckte Mikes besondere Aufmerksamkeit. Es paßte nicht so recht zwischen die anderen, auch wenn es sichtlich mindestens genauso alt war. Es stellte einen Kreis dar, von dessen Rändern dünne, gezackte Linien nach außen liefen, wie eine krakelig gemalte Sonnenscheibe. In seinem Zentrum war ein wirres Durcheinander von Linien, Strichen und dünnen Umrissen, die auf eine fast unheimliche Weise ineinanderzufließen schienen, fast alsbewegtensie sich. Mike blieb nicht stehen, um das Bild näher zu betrachten, aber er hatte das Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben. Aber wo? Sie gingen etwa zwanzig Meter weit, ehe Lady Grandersmith wieder stehenblieb und auf etwas deutete, was Mike im ersten Moment vorkam wie ein Haufen
alter Lumpen, der am Boden lag.
»Was ist das?« fragte Trautman. Er wollte sich vorbeugen, aber Lady Grandersmith fiel ihm mit einer fast erschrockenen Bewegung in den Arm. »Nicht anfassen!« sagte sie. »Es ist sehr empfindlich. Als ich das erste Mal hier war, hätte ich es fast zerstört. Seien Sie vorsichtig - bitte. «
Trautman trat gehorsam wieder einen halben Schritt zurück und ließ sich dann in die Hocke sinken, um den sonderbaren Fund zu begutachten. Die anderen versammelten sich um ihn herum und blickten ebenfalls neugierig auf das herab, was da im flackernden gelben Licht der Lampen vor ihnen lag. Trotzdem dauerte es noch eine geraume Weile, bis Mike wirklich begriff, was er da sah. Er fuhr erschrocken zusammen. »Das... das ist eine... eine Mumie!« »Igitt!« sagte Chris -und beugte sich aufgeregt noch weiter vor.
Trautman nickte. »Du hast Recht. Esisteine Mumie -oder das, was davon noch übrig ist. « Er sah zu Lady Grandersmith und ihren beiden schweigsamen Begleitern hoch. »Aber was bedeutet das? Sie haben ihre Toten doch nicht einfach irgendwo hingelegt und dann vergessen. Wo ist der Sarkophag und... « Er brach ab. Seine Augen wurden rund vor Erstaunen. »Aber das kann doch nicht sein!« flüsterte er. »Was kann nicht sein?« fragte Ben. Trautman ignorierte ihn. Er starrte weiter abwechselnd Lady Grandersmith und die halbzerfallene Mumie am Boden an.
»Wenn Sie dasselbe denken, was ich denke, glaube ich, daß wir beide recht haben könnten«, sagte Lady Grandersmith.
»Man hat den Sarkophag des Pharaos nie gefunden. Die
Grabkammer war leer. Aber ich glaube, ich weiß, warum. «
»Wie bitte?« fragte Mike ungläubig. »Sie... Sie meinen,das hier -«
»-ist die wirkliche Grabkammer, ja«, fiel ihm Lady Grandersmith ins Wort. »Es war damals ein beliebter Trick. Die Pharaonen hatten vor nichts so viel Angst wie vor Grabräubern. Deshalb legten sie falsche Spuren. Gänge, die im Nichts endeten oder auch in tödlichen Fallen, leere Grabkammern manchmal sogar kleinere Gräber, in denen sich tatsächlich einige Kostbarkeiten befanden, in der Hoffnung, daß die Räuber sich damit zufriedengeben und abziehen würden, ohne den wirklichen Schatz zu finden. Ich vermute, daß das, was man für die Grabkammer hält, eine solche falsche Spur ist. «
»Aber dann... dann wäre das hier ja... der Pharao!« murmelte Juan ungläubig.
»Und wo ist der Sarkophag? Und all die Schätze, die man Cheops angeblich mitgegeben hat?« fragte Chris. »Gestohlen«, sagte Lady Grandersmith traurig. »Alles hat am Ende nichts genutzt. Sie haben den Zugang doch gefunden und alles mitgenommen - bis hin zu dem goldenen Sarkophag, in dem er bestattet wurde. « »Und den Toten haben sie einfach so hingeworfen und liegengelassen?« fragte Serena erschüttert. »So sind Menschen nun oft einmal«, antwortete Lady Grandersmith.
»Denk mal an das, wasunsgestern beinahe passiert wäre«, fügte Ben düster hinzu. Serena sah sehr betroffen drein, aber sie sagte nichts mehr. »Das ist unglaublich!« flüsterte Trautman.
»Wenn das wahr ist... wissen Sie eigentlich, welch ungeheure Entdeckung Sie hier gemacht haben, Lady Grandersmith? Sie müssen es der Wissenschaft sagen. Das ist -«»Ichhabe diese Entdeckung nicht gemacht, Mister Trautman«, unterbrach ihn Lady Grandersmith. »Es waren Yasal und Hasim, die mich hergebracht haben. Ihr Volk hütet dieses Geheimnis seit Jahrhunderten -und ich muß Sie um Ihr Ehrenwort bitten, es auch weiter zu hüten. Niemand darf davon erfahren. « »Aber warum denn nicht?« fragte Ben. »Hier gibt es doch nichts mehr, was noch gestohlen oder zerstört werden könnte!«
»Du irrst dich«, sagte Lady Grandersmith. »Ich will es euch zeigen. Kommt. « Sie hob ihre Lampe und ging weiter. Mike hatte sich gründlich verschätzt, was die Größe der Höhle anging. Sie entfernten sich sicher hundert Meter oder mehr von der Mumie, ohne daß in der Dunkelheit vor ihnen eine Mauer aufgetaucht wäre, und ihre Schritte riefen noch immer dieses lang anhaltende, unheimliche Echo hervor. Dafür wurde es merklich kühler. Schließlich erreichten sie das gegenüberliegende Ende der Höhle. Allerdings sah es vollkommen anders aus, als Mike erwartet hatte. Es bestand nicht aus Fels oder einer Wand aus riesigen Quadern.
Vor ihnen lag ein riesiger, unterirdischer See. »Unglaublich!« flüsterte Trautman. Seine Stimme zitterte vor Erregung. »Das ist... phantastisch. « Er hob seine Lampe hoch über den Kopf, aber so weit das Licht auch reichte, es war kein Ende der schimmernden Wasserfläche zu erkennen. »Das muß ein unterirdischer Seitenarm des Nil sein!«
»Sie täuschen sich«, sagte Lady Grandersmith. »Das hier ist kein unterirdischer Fluß. «
»Aber was dann?« fragte Chris verwundert. »Das wirkliche Geheimnis der Cheopspyramide«, antwortete Lady Grandersmith, »das der Pharao für alle Zeiten mit in sein Grab genommen hat. Vielleicht der größte Schatz, den dieses Land besitzt. « »Schatz?« fragte Serena. »Aber es ist doch nurWasser. ‹‹Lady Grandersmith lächelte milde. »Was dunur Wassernennst, ist für die Menschen hier wertvoller als Gold«, sagte sie. »Was ihr hier seht, ist bloß ein kleiner Teil davon. Hier war nicht immer Wüste. Einst gab es in diesen Gebieten blühende Wälder und Wasser in Hülle und Fülle. Aber die Wälder verschwanden, und das Wasser zog sich zurück. Die Menschen glauben, es wäre ganz verschwunden, aber das stimmt nicht.Es ist noch da. Hier unten. Ein gewaltiger See, direkt unter Ägypten. «
Trautman runzelte die Stirn, ging in die Knie und tauchte die Hand ins Wasser. Er leckte vorsichtig an seinen Fingerspitzen und zog dann überrascht die Brauen zusammen. »Das ist Süßwasser«, sagte er. Lady Grandersmith nickte. »Ja, unvorstellbare Mengen davon. Es speist die Oasen und Brunnen, die dieses Land hat, seit Jahrtausenden, und es wird dies für weitere Jahrtausende zuverlässig tun. Das ist das wahre Geheimnis der Pharaonen. Der Grund ihres Reichtums. Sie wußten, wo das Wasser zu finden war. « »Und haben dieses Wissen für sich behalten?« fragte Ben. »Warum? Sie hätten aus dieser Wüste wieder ein Paradies machen können!«