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Als die Wand hinter ihm abschloß, ließ sich Alvin in den nächsten Sessel fallen. Die Kraft war plötzlich aus seinen Beinen gewichen; jetzt endlich spürte er, wie nie zuvor, die Angst vor dem Unbekannten, die seine Mitbürger ständig gepackt hielt. Er zitterte am ganzen Körper, und sein Blick trübte sich. Wäre die Flucht aus dieser rasenden Maschine möglich gewesen, er hätte sie unternommen, selbst um den Preis der Aufgabe all seiner Träume.
Es war nicht allem Angst, sondern auch ein Gefühl unausdrückbarer Einsamkeit. Alles, was er kannte und liebte, war in Diaspar; selbst wenn er keiner Gefahr entgegenging, konnte es sein, daß er seine Welt niemals wiedersah. Er allein von allen Lebenden wußte, was es bedeutete, seine Heimat für immer zu verlassen. In diesem Augenblick schien es völlig unwichtig, ob der Pfad, den er verfolgte, in Gefahr oder Sicherheit führte; jetzt kam es nur darauf an, daß er vom Zuhause wegführte.
Die Stimmung verflog langsam; die dunklen Schatten hoben sich von seiner Seele. Er begann seiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken. Es schien Alvin nicht besonders seltsam oder wunderbar, daß dieses UntergrundTransportsystem immer noch funktionierte. Es befand sich nicht in den Ewigkeitsanlagen der Stadtmonitoren, aber es mußte an anderer Stelle ähnliche Maschinen geben, die es vor Veränderung oder Verfall bewahrten.
Zum erstenmal bemerkte er den Zähler an der Vorderwand. Er trug eine kurze, aber beruhigende Mitteilung: ›Lys, 35 Minuten. ‹ Während er noch auf den Zähler starrte, veränderte sich die Zahl zu ›34‹. Das zumindest war nützliche Information, wenn es ihm auch über die Länge der Reisestrecke nichts verriet, weil ihm die Geschwindigkeit der Maschine nicht bekannt war. Nur ein leichtes Vibrieren zeigte die Bewegung an.
Diaspar mußte jetzt schon viele Kilometer entfernt sein, und über ihm lag die Wüste mit ihren wandernden Sanddünen. Vielleicht raste er gerade in diesem Augenblick unter den Hügeln dahin, die er so oft vom Turm von Loranne aus beobachtet hatte.
Seine Phantasie eilte nach Lys voraus. Welche Art von Schacht würde er finden? Soviel er es auch versuchte, er konnte sich nur eine andere und kleinere Version Diaspars vorstellen. Er fragte sich, ob sie überhaupt noch existierte, und beruhigte sich bei dem Gedanken, daß ihn in diesem Fall die Maschine doch wohl kaum durch die Erde tragen würde.
Plötzlich trat in der Vibration unter seinen Füßen eine spürbare Änderung ein. Das Fahrzeug fuhr langsam — ohne Frage. Die Zeit mußte schneller vergangen sein, als er gedacht hatte; etwas überrascht sah Alvin auf den Zähler: ›Lys, 23 Minuten. ‹
Verwirrt und etwas besorgt preßte er sein Gesicht an die Seitenwand.
Die Geschwindigkeit ließ die Stollenwand immer noch in undeutliches Grau verschwimmen, aber jetzt konnte er ab und zu Zeichen erkennen, die ebenso schnell verschwanden, wie sie auftauchten. Und jedesmal schienen sie etwas länger zu verweilen.
Unerwartet wurden die Wände des Stollens an beiden Seiten weggerissen. Die Maschine glitt immer noch mit hoher Geschwindigkeit durch eine riesige, leere Halle.
Gebannt durch die durchsichtige Wand starrend, konnte Alvin unter dem dahinrasenden Fahrzeug ein kompliziertes Netz von Leitstangen sehen, die sich kreuzten und vielfach überschnitten, um dann in einem Labyrinth von Tunneln zu verschwinden. Bläuliches Licht flutete von einer gewölbten Kuppel herab und ließ die Umrisse riesiger Maschinen hervortreten.
Das Licht blendete so stark, daß seine Augen schmerzten; Alvin begriff, daß dieser Platz nicht für Menschen gedacht war. Einen Augenblick später flitzte sein Fahrzeug an vielen Reihen von Zylindern vorbei, die regungslos über ihren Führungsschienen schwebten. Sie waren wesentlich größer als seine Maschine, und Alvin vermutete, daß sie für den Frachttransport bestimmt waren. Um sie herum gruppierten sich unbegreifliche, vielgelenkige Mechanismen, stumm und unbeweglich.
Fast so schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand die riesige und einsame Halle hinter ihm. Alvin schaute wieder auf den Anzeiger. Er war unverändert; die Fahrt durch die Riesenhöhle hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Die Maschine beschleunigte wieder ihre Fahrt; obwohl die Bewegung kaum zu spüren war, rasten die Stollenwände an beiden Seiten mit einer Geschwindigkeit vorbei, die er nicht einmal zu schätzen wagte.
Eine Ewigkeit schien vergangen, als sich die Vibration wieder änderte.
Auf dem Zähler stand: ›Lys, 1 Minute. ‹ Und diese Minute war die längste, die Alvin je erlebt hatte. Immer stärker bremste die Maschine.
Sanft und geräuschlos glitt der lange Zylinder aus dem Tunnel in eine Höhle, die derjenigen in Diaspar wie ein Ei dem anderen glich. Einen Augenblick lang war Alvin zu aufgeregt, um irgend etwas genau erkennen zu können; die Tür stand schon geraume Zeit offen, ehe er begriff, daß er das Fahrzeug verlassen konnte. Als er aus der Maschine hastete, warf er noch einen letzten Blick auf den Zähler. Die Worte hatten sich geändert, und ihre Botschaft klang unendlich beruhigend: ›Diaspar, Minuten.‹
Als er nach einem Weg aus der Höhle zu suchen begann, fand Alvin den ersten Hinweis darauf, daß er sich in einer völlig anderen Zivilisation befand. Der Weg zur Oberfläche führte deutlich durch einen langen, breiten Tunnel an einem Ende der Höhle — und durch den Tunnel führte eine Treppe hinauf. Derartiges war in Diaspar außergewöhnlich selten; die Architekten der Stadt hatten Rampen und abschüssige Gänge gebaut, wenn ein Terrainunterschied zu bewältigen war: ein Überbleibsel aus der Zeit, als sich die meisten Roboter noch auf Rädern bewegten und daher Treppen nicht überwinden konnten.
Die Treppe war sehr kurz und endete vor einem Tor, das sich bei Alvins Annäherung automatisch öffnete. Er trat in einen kleinen Raum, ähnlich jenem, der ihn in den Schacht unter dem Grabmal Yarlan Zeys hinuntergetragen hatte, und war nicht überrascht, als sich wenige Minuten später die Türen wieder öffneten und den Blick auf einen Korridor freigaben, an dessen Ende das Tageslicht schimmerte. Alvin hatte keine Bewegung gespürt, aber er wußte, daß er einige hundert Meter emporgestiegen sein mußte. Er eilte den Gang hinauf zu der sonnenbeschienenen Öffnung, seine Angst vergessend.
Er stand auf der Anhöhe eines kleinen Hügels, und einen Augenblick schien es, als befände er sich wieder im Park von Diaspar. Aber dieser Park war so riesig, daß er ihn geistig nicht erfassen konnte. Die Stadt, die er erwartet hatte, war nirgends zu sehen. Soweit der Blick reichte, nichts als Waldflächen und grasbedeckte Ebenen.
Dann hob Alvin die Augen zum Horizont, und dort, über den Bäumen, in großem Bogen von rechts nach links ziehend, ragte eine Steinfront empor, gegen die sogar die mächtigsten Türme Diaspars zwergenhaft schienen. Sie war so weit entfernt, daß ihre Einzelheiten verschwammen, aber ihre Umrisse verwirrten Alvin. Dann gewöhnten sich seine Augen an den Maßstab dieser kolossalen Landschaft, und er begriff, daß diese fernen Wände nicht von Menschenhand erbaut waren.
Die Zeit hatte nicht alles besiegt; die Erde besaß noch Gebirge, auf die sie stolz sein konnte.
Lange Zeit stand Alvin am Tunneleingang, gewöhnte sich allmählich an diese seltsame Welt. Die Wucht der reinen Größe und des Raumes betäubten ihn; dieser Ring aus nebeligen Bergen hätte ein Dutzend Städte von der Größe Diaspars einschließen können. Jedoch, so angestrengt er auch suchte, er konnte keine Spur menschlichen Lebens entdecken.
Aber die Straße, die den Hügel hinunterführte, schien gut erhalten zu sein; er konnte nichts Besseres tun, als sich ihr anzuvertrauen.
Am Fuße des Hügels verschwand die Straße zwischen großen Bäumen, die beinahe die Sonne verdeckten. Als Alvin in ihren Schatten trat, begrüßte ihn eine eigenartige Mischung von Gerüchen und Geräuschen.
Das Rauschen des Windes unter den Blättern kannte er schon aus dem Park in Diaspar, aber dazwischen tönten tausend verschiedene Laute, die ihm nichts zu sagen vermochten. Unbekannte Fragen überfielen ihn, Gerüche, die aus der Erinnerung seiner Rasse verschwunden waren. Die Wärme, der Überfluß an Gerüchen und Farben und die unsichtbare Gegenwart von Millionen lebender Wesen traf ihn mit beinahe körperlicher Wucht.
Er stieß ganz plötzlich und unerwartet auf den See. Die Bäume zu seiner Rechten hörten plötzlich auf, und vor ihm lag eine weite Wasserfläche mit winzigen Inseln. Noch nie in seinem Leben hatte Alvin soviel Wasser gesehen; im Vergleich dazu waren selbst die größten Becken in Diaspar nur Pfützen. Er ging langsam zum Seeufer hinunter und schöpfte mit den Händen das warme Wasser, ließ es durch die Finger rinnen.
Der große silberne Fisch, der plötzlich zwischen den Wasserpflanzen am Seegrund dahinglitt, war das erste nichtmenschliche Wesen, das Alvin jemals gesehen hatte. Eigentlich mußte es ihm völlig fremd sein, aber seine Form weckte eine verschwommene Erinnerung in ihm. Wie es in der blaßgrünen Leere schwebte, seine Flossen ein schwacher Nebel der Bewegung, schien es die Verkörperung von Kraft und Geschwindigkeit.
Hier, im lebenden Fleisch, verkörperten sich die graziösen Linien der großen Schiffe, die einst den Himmel der Erde beherrscht hatten. Evolution und Wissenschaft waren zum gleichen Ergebnis gelangt; und das Werk der Natur hatte das des Menschen überdauert.
Schließlich löste sich Alvin aus der Verzauberung des Sees und setzte seinen Weg auf der sich dahinschlängelnden Straße fort. Wieder schloß sich der Wald um ihn, diesmal aber nur für kurze Zeit. Kurz danach endete die Straße in einer großen Lichtung von einem Kilometer Breite und zwei Kilometer Länge — und Alvin verstand, warum er vorher keine Spur von Menschen gesehen hatte.
In der Lichtung standen zahlreiche niedrige, zweistöckige Häuser, in zarten Farben bemalt, die dem Auge sogar im grellen Sonnenschein wohl taten. Die meisten Häuser besaßen klare und unkomplizierte Linien, aber verschiedene Gebäude waren in einem komplizierten Architekturstil erbaut, der kannelierte Säulen und graziöses Steingitterwerk verwendete.
Während er langsam auf die Siedlung zuschritt, bemühte sich Alvin noch immer, seine neue Umgebung geistig in den Griff zu bekommen. Nichts war vertraut; selbst die Luft hatte sich verändert, mit ihren Andeutungen versteckten, pochenden Lebens. Und die großen, blondhaarigen Menschen, die mit unbewußter Grazie zwischen den Gebäuden schritten, waren offensichtlich von anderer Art als die Menschen Diaspars.
Sie nahmen keine Notiz von Alvin, und das war seltsam, denn seine Kleidung unterschied sich beträchtlich von ihren Gewändern. Da die Temperatur in Diaspar keinem Wechsel unterlag, diente die Kleidung ausschließlich Schmuckzwecken. Hier galt sie in erster Linie dem Gebrauch; oft bestand sie nur aus einem einzigen togaartigen Tuch, in das der ganze Körper gehüllt war.
Erst als Alvin den Mittelpunkt der Siedlung erreicht hatte, reagierten die Bewohner von Lys auf seine Gegenwart; ihre Reaktion nahm eine etwas unerwartete Form an. Eine Gruppe von fünf Männern trat aus einem der Häuser und ging auf ihn zu — fast schien es, als hätten sie ihn erwartet.
Alvin fühlte eine plötzliche, berauschende Erregung; das Blut pochte schneller in seinen Adern. Er dachte an all die schicksalhaften Begegnungen, die der Mensch mit anderen Rassen auf fernen Welten gehabt haben mußte. Die Leute, die er hier traf, waren von seiner eigenen Rasse — aber wie groß war der Unterschied?
Die Abordnung blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. Ihr Anführer lächelte und streckte ihm die Hand in der uralten Geste der Freundschaft entgegen.
„Wir hielten es für das beste, Sie hier zu empfangen“, sagte er. „Unsere Heimat unterscheidet sich sehr von Diaspar, und der Spaziergang vom Bahnhof hierher gibt Besuchern die Möglichkeit, sich zu akklimatisieren.“
Alvin nahm die angebotene Hand, konnte aber vor Überraschung kein Wort herausbringen. Jetzt begriff er, warum ihn alle anderen Bewohner der Siedlung ignoriert hatten.
„Ihr wußtet, daß ich komme?“ fragte er nach einer Weile.
„Natürlich. Wir wissen immer, wenn sich die Fahrzeuge in Bewegung setzen. Sagen Sie — wie haben Sie es herausgefunden? Der letzte Besuch ist so lange her, daß wir schon befürchteten, das Geheimnis sei verlorengegangen.“
Der Sprecher wurde von einem seiner Begleiter unterbrochen.
„Ich glaube, wir zügeln unsere Neugier Gerane. Seranis wartet.“
Vor dem Namen ›Seranis‹ hatte der Mann noch ein Wort gebracht, das Alvin nicht kannte; wahrscheinlich war es irgendein Titel. Die Verständigung mit den anderen bereitete ihm keine Schwierigkeiten, und er dachte gar nicht daran, das erstaunlich zu finden. Diaspar und Lys gehörten zum gleichen Sprachstamm, und die alte Erfahrung der Tonaufzeichnung hatte die Sprache schon vor langer Zeit in eine unveränderliche Form geprägt.
Gerane zuckte in gespielter Resignation die Achseln. „Also gut“, sagte er lächelnd, „Seranis hat wenige Vorrechte — ich darf ihr das nicht nehmen.“
Während sie weiter in den Ort hineingingen, beobachtete Alvin die Männer an seiner Seite. Sie schienen freundlich und klug, aber diese Züge waren ihm selbstverständlich, und er suchte nach Merkmalen, in denen sie sich von einer vergleichbaren Gruppe in Diaspar unterschieden. Es gab Unterschiede, aber man konnte sie nur schwer definieren. Alle Männer waren etwas größer als Alvin, und zwei von ihnen wiesen unmißverständliche Anzeichen des Alters auf. Ihre Haut war sehr braun, und in allen Bewegungen schienen sie eine Energie und Lebenslust auszustrahlen, die Alvin gefiel, ihn aber gleichzeitig ein wenig verwirrte. Er lächelte bei der Erinnerung an Khedrons Prophezeiung, daß Lys das genaue Ebenbild Diaspars sein würde.
Die Bewohner des Ortes sahen jetzt mit offener Neugier zu, als Alvin seinen Führern folgte; sie gaben nicht mehr vor, seine Anwesenheit als selbstverständlich hinzunehmen. Unter den Bäumen auf der rechten Seite erhob sich plötzlich lautes Geschrei; eine Schar kleiner, aufgeregter Wesen sauste aus dem Wald und drängte sich um Alvin. Fassungslos vor Überraschung blieb er stehen; er wagte seinen Augen nicht zu trauen. Hier war etwas, das seine Welt schon vor so langer Zeit verloren hatte, daß es zum Bereich der Mythologie gehörte. So hatte das Leben einst begonnen; diese lärmenden, faszinierenden Wesen waren Kinder.
Alvin beobachtete sie mit staunender Ungläubigkeit — und auch ein anderes Gefühl zerrte an seinem Herzen, aber er konnte es noch nicht benennen. Kein anderer Anblick hätte ihm die Ferne Diaspars deutlicher fühlen lassen können. Diaspar hatte für seine Unsterblichkeit bezahlt — und mehr als bezahlt.
Die Gruppe blieb vor dem größten Gebäude stehen, das Alvin bisher gesehen hatte. Es stand im Mittelpunkt der Siedlung, und von einem Fahnenmast auf seinem kleinen Rundturm flatterte ein grüner Wimpel im Wind.
Außer Gerane blieben alle zurück, als Alvin das Haus betrat. Im Innern war es kühl und still; das durch die durchscheinenden Wände dringende Sonnenlicht ließ alles in sanftem, beruhigendem Schimmer erglühen. Der Boden, mit zierlichem Mosaik ausgelegt, war glatt und elastisch. An den Wänden hatte ein großartiger Künstler eine Reihe von Waldszenen geschaffen. Zwischen diesen Gemälden befanden sich andere Wandzeichnungen, die Alvin nicht verstand, die aber trotzdem angenehm wirkten. In eine Wand eingelassen fand sich ein rechteckiger Bildschirm, auf dem sich ein Durcheinander von Farben bewegte.
Sie stiegen gemeinsam eine Treppe hinauf, die sie auf das flache Dach des Hauses führte. Von dort aus konnte man die ganze Siedlung überblicken, und Alvin stellte fest, daß sie aus etwa hundert Gebäuden bestand. In der Ferne lichteten sich die Bäume, um weite Wiesen einzufassen, auf denen verschiedene Arten von Tieren weideten. Alvin kannte sie nicht; die meisten waren Vierfüßler, aber einige besaßen sechs oder sogar acht Füße.