122179.fb2 Die sieben Sonnen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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Seranis erwartete ihn im Schatten des Rundturmes . Alvin versuchte, ihr Alter zu schätzen; ihr langes goldenes Haar war mit Grau durchsetzt, was seiner Vermutung nach als Zeichen des Alters galt. Das Vorhandensein von Kindern, mit allen damit verbundenen Folgerungen, hatte ihn völlig verwirrt. Wo es die Geburt gab, mußte es auch den Tod geben, und die Lebensdauer in Lys dürfte sich von der in Diaspar gültigen erheblich unterscheiden. Er konnte nicht sagen, ob Seranis fünfzig, fünfhundert oder fünftausend Jahre alt war, aber beim Blick in ihre Augen spürte er die Weisheit und Reife, die ihm auch an Jeserac aufgefallen war.

Sie deutete auf einen kleinen Sessel, aber obgleich ihre Augen lächelten, sagte sie nichts, bis Alvin es sich bequem gemacht hatte — oder so bequem jedenfalls, wie er sich unter dieser freundlichen Überprüfung fühlen konnte. Dann seufzte sie und begann mit sanfter, tiefer Stimme zu sprechen.

„Diese Gelegenheit ergibt sich so selten, daß Sie mich entschuldigen werden, wenn mir das korrekte Benehmen fremd ist. Aber dem Gast, auch dem unerwarteten, stehen gewisse Rechte zu. Bevor wir miteinander sprechen, möchte ich Sie auf etwas hinweisen. Ich kann Ihre Gedanken lesen.“

Sie lächelte über Alvins Betroffenheit und fügte schnell hinzu: „Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen. Kein Recht wird mehr respektiert als das der geistigen Privatsphäre. Ich werde nur in Ihre Gedanken eindringen, wenn Sie es mir gestatten. Aber es wäre nicht fair gewesen, Ihnen diese Tatsache vorzuenthalten, und sie dürfte auch erklären, warum wir die Sprache als etwas Langsames und Schweres empfinden. Sie wird hier nicht oft verwendet.“

Diese Eröffnung wirkte zwar etwas beruhigend auf Alvin, aber sie überraschte ihn eigentlich nicht. Einst hatten Menschen und Maschinen die Macht besessen, und die unveränderlichen Maschinen konnten immer noch die geistigen Befehle ihrer Herren aufnehmen. Aber in Diaspar hatte der Mensch diese einst mit seinen Dienern geteilte Gabe verloren.

„Ich weiß nicht, was Sie von Ihrer Welt hierherführt“, fuhr Seranis fort,

„aber wenn Sie nach Leben forschen, ist Ihre Suche zu Ende. Von Diaspar abgesehen, befindet sich jenseits unserer Berge nichts als Wüste.“

Es war seltsam, daß Alvin, der vorher so oft anerkannte Wahrheiten angezweifelt hatte, die Worte ›Seranis‹ akzeptierte. Seine einzige Reaktion war Traurigkeit darüber, daß das, was man ihn gelehrt hatte, fast völlig stimmte.

„Erzählen Sie mir von Lys“, bat er. „Warum seid ihr so lange von Diaspar abgeschnitten, wenn ihr soviel über uns wißt?“

Seranis lächelte über seinen Eifer.

„Gedulden Sie sich ein wenig“, sagte sie. „Zuerst möchte ich über Sie etwas erfahren. Erzählen Sie, wie Sie den Weg hierher fanden und warum Sie kamen.“

Stockend zuerst, dann mit wachsender Sicherheit, berichtete Alvin über seine Erlebnisse. Noch nie vorher hatte er mit solcher Freiheit gesprochen; hier endlich waren Menschen, die seine Träume nicht verlachten, weil sie wußten, daß sie auf Wahrheit beruhten. Ein paarmal unterbrach ihn Seranis mit Fragen, wenn er Dinge berührte, die ihr nicht vertraut waren. Es fiel Alvin schwer, zu begreifen, daß manche Dinge seines Alltagslebens jemandem unverständlich blieben, der nie in der Stadt gelebt und nichts von ihrer komplizierten Kultur und gesellschaftlichen Organisation wußte. Seranis hörte ihm mit so viel Verständnis zu, daß er ihr Begreifen für selbstverständlich hielt; erst viel später wurde ihm klar, daß außer ihr noch viele andere Gehirne seinen Worten lauschten.

Als er zu Ende war, schwiegen sie beide geraume Zeit. Dann sah ihn Seranis an und sagte: „Warum sind Sie nach Lys gekommen?“

Alvin starrte sie überrascht an.

„Ich habe es Ihnen doch gesagt“, meinte er. „Ich wollte die Welt erforschen. Alle sagten mir, daß sich außerhalb der Stadt nur Wüste befindet, aber ich wollte mich selbst davon überzeugen.“

„Und das war der einzige Grund?“

Alvin zögerte. Als er schließlich antwortete, sprach nicht der unbezähmbare Forscher aus ihm, sondern das verlorene, in einer fremdartigen Welt aufgewachsene Kind.

„Nein“, sagte er langsam, „das war nicht der einzige Grund — obgleich ich es bis zu diesem Augenblick nicht wußte. Ich bin einsam gewesen.“

„Einsam? In Diaspar?“ Um Seranis' Mund spielte ein Lächeln, aber in ihren Augen konnte Alvin Mitgefühl lesen, und er wußte, daß ihr diese Antwort genügte.

Nachdem er ihr seine Geschichte erzählt hatte, wartete er darauf, daß sie ihr Versprechen hielt. Seranis erhob sich und ging auf dem Dach hm und her.

„Ich weiß, welche Fragen Sie stellen wollen“, sagte sie. „Einige davon kann ich beantworten, aber es wäre zu anstrengend, das mit Worten zu tun. Wenn Sie mir Ihren Verstand öffnen, will ich Ihnen sagen, was Sie wissen müssen. Sie können mir vertrauen: Ich nehme Ihnen nichts ohne Ihre Erlaubnis.“

„Was soll ich tun?“ fragte Alvin vorsichtig.

„Denken Sie daran, daß Sie meine Hilfe akzeptieren wollen — sehen Sie mir in die Augen — und vergessen Sie alles“, befahl Seranis.

Alvin wußte auch später nie genau, was dann geschah. Seine Sinne verdunkelten sich plötzlich, und, obwohl er sich nicht an den Erwerb entsinnen konnte, fand er dieses Wissen in seinem Verstand.

Er sah in die Vergangenheit, nicht deutlich, sondern eher wie ein Mensch von einem hohen Berg auf eine neblige Ebene hinabsieht. Er begriff, daß der Mensch nicht immer Stadtbewohner war und daß seit der Zeit, da ihn die Maschinen von der Plage der Arbeit befreiten, zwischen zwei verschiedenen Arten von Zivilisation stets Rivalität bestanden hatte. In der Frühzeit hatte es Tausende von Städten gegeben, aber ein großer Teil der Menschheit zog es vor, in verhältnismäßig kleinen Gemeinschaften zu leben. Umfassende Transportmöglichkeiten und perfekte Nachrichtenverbindungen gaben ihnen so viel Berührung mit der Welt, wie sie brauchten, und sie hielten es nicht für wünschenswert, mit Millionen ihrer Mitmenschen zusammengepfercht zu leben.

Lys hatte sich in den frühen Tagen von den übrigen Gemeinschaften nur wenig unterschieden. Aber allmählich, im Lauf der Zeiten, entwickelte es eine unabhängige Kultur, die zu einer der hochstehendsten der gesamten menschlichen Geschichte wurde. Diese Kultur beruhte zum großen Teil auf der mittelbaren Anwendung geistiger Kräfte, und das trennte sie auch von der übrigen menschlichen Gesellschaft, die sich mehr und mehr auf Maschinen verließ.

Im Verlauf der Jahrhunderte erweiterte sich die Kluft zwischen Lys und den anderen Städten. Sie wurde nur in Zeiten schwerer Krisen überbrückt; als der Mond herabstürzte, wurde seine Zerstörung von den Wissenschaftlern aus Lys durchgeführt. Ebenso auch die Verteidigung der Erde gegen den Ansturm der Invasoren, der in der entscheidenden Schlacht von Shalmirane abgeschlagen wurde.

Diese harte Probe ließ die Menschheit erschöpft zurück; eine nach der anderen starben die Städte dahin, und die Wüste übernahm die Herrschaft. Als die Bevölkerung abnahm, begann die Wanderung, die Diaspar zur letzten und größten aller Städte machen sollte.

Die meisten dieser Veränderungen berührten Lys nicht, aber es hatte seinen eigenen Kampf auszutragen — den Kampf gegen die Wüste. Die natürliche Schranke des Gebirges reichte nicht aus, und es dauerte viele Jahrtausende, bis die große Oase gesichert war. Das Bild blieb hier, vielleicht absichtlich, etwas verschwommen. Alvin konnte nicht erkennen, was getan worden war, um Lys praktisch die Unsterblichkeit zu verleihen, die Diaspar erreicht hatte.

Seranis' Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm zu dringen — aber es war nicht ihre Stimme allein, sie verschmolz in einer Symphonie aus Worten.

„Das ist, ganz kurz geschildert, unsere Geschichte. Sie sehen, daß wir selbst in der Frühzeit mit den Städten wenig zu tun hatten, obwohl ihre Menschen oft in unser Land kamen. Wir haben ihnen nie etwas in den Weg gelegt, denn viele unserer größten Männer kamen von draußen, aber als die Städte starben, wollten wir nicht in ihren Untergang verwikkelt werden. Nach dem Ende des Flugverkehrs gab es nur noch einen Weg nach Lys — die Schwebebahn von Diaspar. Sie wurde an einem Ende geschlossen, als man den Park errichtete — und ihr habt uns vergessen, obwohl wir euch nie aus dem Gedächtnis verloren.

Diaspar hat uns überrascht. Wir erwarteten, daß es den Weg aller anderen Städte gehen würde, aber es hat eine stabile Kultur entwickelt, die so lange bestehen dürfte wie die Erde selbst. Es ist nicht eine Kultur, die wir bewundern, aber wir sind froh, daß es denjenigen, die entfliehen wollten, gelungen ist. Mehr Menschen, als Sie glauben, haben diese Fahrt unternommen, und es waren fast immer hervorragende Menschen, die etwas Wertvolles mitbrachten, wenn sie nach Lys kamen.“

Die Stimme verklang; die Lähmung der Sinne Alvins verschwand, und er war wieder er selbst. Er sah mit Erstaunen, daß die Sonne hinter den Bäumen hinabgesunken war und der östliche Himmel schon eine Andeutung der Nacht aufwies. Irgendwo ertönte eine große Glocke mit dröhnendem Brummen, das langsam in der Stille verebbte und die Luft mit Geheimnissen und Vorahnungen zu erfüllen schien. Alvin zitterte, nicht wegen der ersten Abendkühle, sondern aus Staunen über all das, was er erfahren hatte. Es war sehr spät, und er befand sich weit von zu Hause.

Er fühlte plötzlich den Drang, seine Freunde wiederzusehen und zwischen den vertrauten Bildern und Szenen Diaspars zu sein.

„Ich muß zurück“, sagte er. „Khedron — meine Eltern — sie erwarten mich.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit; sicher würde sich Khedron fragen, was mit ihm geschehen war, aber sonst wußte niemand, daß er Diaspar verlassen hatte. Er wäre nicht in der Lage gewesen, für diese harmlose Lüge einen Grund anzugeben, und er schämte sich ein bißchen, als er sie ausgesprochen hatte.

Seranis sah ihn gedankenvoll an.

„Ich fürchte, daß das nicht so ganz einfach ist“, sagte sie.

„Wie meinen Sie das?“ fragte Alvin. „Kann mich das Fahrzeug, mit dem ich hergekommen bin, nicht wieder zurückbringen?“ Er weigerte sich immer noch, die Tatsache anzuerkennen, daß man ihn gegen seinen Willen in Lys zurückhalten könne, obwohl der Gedanke schon einmal kurz durch sein Gehirn gehuscht war.

Seranis schien sich zum erstenmal etwas unbehaglich zu fühlen.

„Wir haben über Sie gesprochen“, sagte sie — ohne zu erklären, wer ›wir‹ sein könnte, noch wie sie sich verständigt hatten. „Wenn Sie nach Diaspar zurückkehren, wird die ganze Stadt von uns erfahren. Selbst wenn Sie versprechen würden, nichts zu verraten, könnten Sie Ihr Geheimnis nicht bewahren.“

„Warum wollen Sie überhaupt, daß es ein Geheimnis bleibt?“ fragte Alvin. „Es wäre doch gewiß eine gute Sache für uns beide, wenn wir wieder zusammentreffen könnten.“

Seranis war ungehalten.

„Wir sind nicht dieser Meinung“, erwiderte sie. „Wenn wir die Tore öffneten, würde unser Land von den Neugierigen und Sensationshungrigen überflutet werden. Bisher ist es stets nur den Besten von euren Leuten gelungen, Lys zu erreichen.“

Diese Antwort strahlte so viel unbewußte Überlegenheit aus und beruhte auf so falschen Annahmen, daß Alvins Unruhe durch seinen Ärger verdeckt wurde.

„Das ist nicht wahr“, sagte er geradeheraus. „Ich glaube nicht, daß Sie noch einen Menschen in Diaspar finden, der die Stadt verlassen könnte, selbst wenn er wollte — selbst wenn er wüßte, daß es ein Ziel gibt. Wenn Sie mich zurückkehren lassen, ändert sich für Lys überhaupt nichts.“

„Die Entscheidung liegt nicht bei mir“, erklärte Seranis, „und Sie unterschätzen die Kräfte des Geistes, wenn Sie glauben, daß die Schranken, von denen Ihre Leute in Diaspar gehalten werden, nie zu brechen sind.

Wir wollen Sie jedoch nicht gegen Ihren Willen zurückhalten, aber wenn Sie nach Diaspar zurückkehren, müssen wir alle Erinnerungen an Lys aus Ihrem Gedächtnis löschen.“ Sie zögerte einen Augenblick. „Dieses Problem hat sich noch nie gestellt; alle Ihre Vorgänger kamen, um hierzubleiben.“

Das war eine Wahl, die Alvin nicht anzunehmen wünschte. Er wollte Lys durchforschen, seine Geheimnisse lüften, die Art entdecken, in der es sich von Diaspar unterschied. Aber er war gleichermaßen entschlossen, nach Diaspar zurückzukehren, um seinen Freunden zu beweisen, daß er kein weltfremder Träumer war. Er konnte die Gründe für diesen Wunsch nach Geheimhaltung nicht verstehen; selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte das an seiner Haltung nichts geändert.

Es war ihm klar, daß er Zeit gewinnen oder Seranis davon überzeugen mußte, daß er sich ihren Wünschen nicht fügen konnte.