122179.fb2 Die sieben Sonnen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

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„Khedron weiß, wo ich bin“, sagte er. „Sein Gedächtnis könnt ihr nicht auslöschen.“

Seranis lächelte. Es war ein angenehmes Lächeln, und unter anderen Umständen hätte man es wohl freundlich nennen können. Aber dahinter erkannte Alvin zum erstenmal die Gegenwart einer überwältigenden und unerbittlichen Macht.

„Sie unterschätzen uns, Alvin“, erwiderte sie. „Das wäre sogar ganz leicht. Ich kann Diaspar schneller erreichen, als ich Lys zu durchqueren vermag. Vor Ihnen sind andere hierhergekommen, und einige von ihnen erzählten ihren Freunden, wohin sie gingen. Diese Freunde haben sie vergessen, und sie verschwanden aus der Geschichte Diaspars.“

Alvin war unklug gewesen, diese Möglichkeit zu übersehen, obwohl sie jetzt allzu deutlich erschien, nachdem Seranis darauf hingewiesen hatte.

Er fragte sich, wie oft in den Millionen Jahren seit der Trennung dieser beiden Kulturen Menschen aus Lys nach Diaspar gegangen waren, um ihr eifersüchtig gehütetes Geheimnis zu bewahren. Und er fragte sich auch, wie weitreichend tatsächlich die geistigen Kräfte waren, über die diese seltsamen Menschen verfügten und die sie nicht anzuwenden zögerten.

War es sicher, überhaupt Pläne zu schmieden? Seranis hatte versprochen, seine Gedanken nicht ohne seine ausdrückliche Zustimmung zu lesen, aber er fragte sich, ob es nicht Umstände geben konnte, unter denen dieses Versprechen nicht gehalten wurde…

„Sie erwarten doch sicher nicht“, sagte er, „daß ich meine Entscheidung sofort treffe. Kann ich nicht noch einiges von Ihrem Land sehen, ehe ich mich entschließe?“

„Selbstverständlich“, erwiderte Seranis. „Sie können hierbleiben, solange Sie wollen, und jederzeit nach Diaspar zurückkehren, sobald Sie Ihren Vorsatz ändern. Aber es wäre wesentlich einfacher, wenn Sie sich im Verlaufe der nächsten Tage entscheiden könnten. Sie wollen sicher nicht, daß sich Ihre Freunde um Sie sorgen, und je länger Sie fortbleiben, desto schwerer wird es für uns, die erforderlichen Veränderungen vorzunehmen.“

Alvin konnte das verstehen; er hätte allerdings gerne gewußt, welcher Art diese ›Veränderungen‹ waren. Vermutlich würde jemand aus Lys mit Khedron Kontakt aufnehmen — ohne daß es der Spaßmacher überhaupt merkte — und sein Gedächtnis beeinflussen. Alvins Verschwinden konnte zwar nicht verheimlicht werden, aber man würde die Informationen, die er und Khedron entdeckt hatten, beseitigen. Im Laufe der Zeit würde sich Alvins Name zu den anderen Einzigartigen gesellen, die auf geheimnisvolle Weise spurlos verschwunden und — vergessen worden waren.

Hier lagen viele Geheimnisse, und er schien ihrer Lösung nicht nähergekommen zu sein. Existierte hinter der eigenartigen, einseitigen Beziehung zwischen Lys und Diaspar irgendein Sinn, oder handelte es sich einfach um einen geschichtlichen Zufall? Wer und was waren die Einzigartigen, und, wenn die Leute aus Lys nach Diaspar gelangen konnten, warum hatten sie dann nicht die Gedächtnisanlagen gelöscht, die den Schlüssel zu ihrer Existenz enthielten? Vielleicht war das die einzige Frage, auf die Alvin eine überzeugende Antwort wußte. Das Zentral-Elektronengehirn dürfte ein zu hartnäckiger Gegner sein und konnte wohl selbst von den fortgeschrittensten geistigen Techniken kaum beeinflußt werden…

Er schob diese Probleme beiseite; eines Tages, wenn er wesentlich mehr gelernt hatte, konnte er sie vielleicht lösen. Es war müßig zu spekulieren, eine Pyramide von Vermutungen auf einem Fundament der Unwissenheit zu errichten.

„Nun gut“, sagte er — wenn auch nicht besonders liebenswürdig, weil ihn dieses unerwartete Hindernis immer noch ärgerte. „Ich gebe Ihnen meine Antwort, sobald ich kann — wenn Sie mir Ihr Land zeigen.“

„Gut“, erwiderte Seranis, und diesmal verbarg ihr Lächeln keine Drohung. „Wir sind stolz auf Lys, und es wird uns ein Vergnügen sein, Ihnen zu zeigen, wie Menschen ohne die Hilfe von Städten leben. Inzwischen brauchen Sie sich nicht zu sorgen — Ihre Freunde werden über Ihre Abwesenheit nicht beunruhigt sein. Dafür sorgen wir, und sei es nur zu Ihrem eigenen Schutz.“ Zum erstenmal hatte Seranis ein Versprechen gegeben, das sie nicht halten konnte.

11

Es gelang Alystra nicht, Khedron zu weiteren Auskünften zu bewegen.

Der Spaßmacher erholte sich schnell von seinem ersten Schock und der Panik, die ihn nach oben getrieben hatte, als er sich allein in den Tiefen unter dem Grabmal fand. Er schämte sich seines feigen Verhaltens und überlegte, ob er jemals wieder den Mut aufbringen würde, zur Höhle der Fließstraßen und des Tunnelnetzes zurückzukehren. Obwohl er der Meinung war, daß sich Alvin vorschnell und unvernünftig benommen hatte, glaubte er nicht wirklich an eine Gefahr für ihn. Er würde schon wieder zurückkommen, dessen war Khedron sicher. Nun, fast sicher; er fühlte gerade so viel Zweifel, daß ihm eine gewisse Vorsicht am Platze schien.

Es war klüger, entschied er sich, jetzt sowenig wie möglich zu sagen und die ganze Sache als Spaß abzutun.

Unglücklicherweise konnte er seine Gefühle nicht verbergen, als ihn Alystra bei seiner Rückkehr an die Oberfläche zur Rede stellte. Sie hatte in seinen Augen unverkennbare Furcht gelesen und sie sofort als Zeichen dafür ausgelegt, daß sich Alvin in Gefahr befand. Alle Versicherungen Khedrons blieben wirkungslos, und als sie gemeinsam durch den Park zurückgingen, geriet sie immer mehr in Zorn. Zuerst wollte sie am Grabmal bleiben und auf Alvin warten. Es war Khedron gelungen, Alystra davon zu überzeugen, daß das Zeitverschwendung sei. Es bestand die Möglichkeit, daß Alvin sofort zurückkam, und er wollte nicht, daß jemand das Geheimnis Yarlan Zeys entdeckte.

Als sie die Stadt erreichten, merkte Khedron, daß seine ausweichende Taktik völlig versagt hatte und ihm die ganze Sache aus der Hand geglitten war. Zum erstenmal in seinem Leben befand sich Khedron in Verlegenheit; er wußte nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Seine vorübergehende und unvernünftige Angst wurde jetzt von einer tieferen und ernsthafteren Beunruhigung verdrängt. Bisher hatte Khedron kaum an die Folgen seines Vorgehens gedacht.

Trotz des Unterschiedes an Jahren und Erfahrung zwischen ihnen war Alvins Wille immer der mächtigere gewesen. Jetzt konnte man nichts mehr ändern; Khedron fühlte, daß er von den Ereignissen hilflos mitgerissen wurde.

Im Hinblick darauf schien es ein wenig ungerecht, daß ihn Alystra offensichtlich als Alvins bösen Geist betrachtete und Neigung zeigte, ihm die Schuld an allen Vorkommnissen zuzuschreiben. Alystra war nicht eigentlich rachsüchtig, aber sie ärgerte sich, und ein Teil ihres Ärgers richtete sich gegen Khedron.

Sie trennten sich in eisigem Schweigen, als sie die große Rundstraße erreichten, die den Park umgab. Khedron sah Alystra in der Ferne verschwinden, und er fragte sich müde, welche Pläne sie wohl ausbrüten mochte.

Er konnte nur einer Sache völlig sicher sein. Langweilig würde es in der nächsten Zeit bestimmt nicht werden.

Alystra handelte schnell und mit Überlegung. Sie bemühte sich erst gar nicht, Eriston und Etania zu verständigen; Alvins Eltern waren nette, aber nichtssagende Leute. Sie würde nur ihre Zeit mit ihnen verschwenden.

Jeserac lauschte ihrer Geschichte ohne offenkundige Gemütsbewegung.

Wenn er überrascht und beunruhigt war, so verbarg er es geschickt — so geschickt, daß Alystra etwas enttäuscht war. Sie hatte den Eindruck, noch nie sei etwas so Außergewöhnliches und Wichtiges geschehen, und Jeseracs unbewegte Miene ernüchterte sie. Als sie zu Ende war, befragte er sie eingehend und deutete an, ohne es tatsächlich auszusprechen, daß sie sich getäuscht haben könnte. Welcher Grund bestand zu der Annahme, daß Alvin wirklich die Stadt verlassen hatte? Vielleicht war alles nur ein auf sie gemünzter Streich gewesen; die Beteiligung Khedrons machte das sogar sehr wahrscheinlich. Vielleicht lachte Alvin, in diesem Augenblick irgendwo in Diaspar versteckt, über sie.

Die einzige positive Reaktion, die sie Jeserac entlocken konnte, war das Versprechen, Nachforschungen anzustellen und sie am nächsten Tag von dem Ergebnis zu unterrichten. In der Zwischenzeit solle sie sich keine Sorgen machen, und außerdem sei es am besten, wenn sie keinem Menschen von der Angelegenheit erzähle. Es sei nicht nötig, wegen eines Vorfalls Aufregung zu stiften, den man wahrscheinlich in wenigen Stunden aufklären könne.

Alystra verließ Jeserac enttäuscht. Sie wäre zufriedener gewesen, wenn sie sein Verhalten kurz nach ihrem Weggang gesehen hätte.

Jeserac besaß Freunde im Rat; er war im Laufe seines langen Lebens selbst Mitglied gewesen und würde es bei etwas Pech wieder werden. Er rief drei seiner einflußreichsten Kollegen und weckte vorsichtig ihr Interesse. Als Alvins Lehrer wußte er, wie heikel seine Lage war, so daß er sich entsprechend absicherte.

Man einigte sich darauf, sofort mit Khedron in Verbindung zu treten und eine Erklärung zu verlangen. Dieser Plan hatte nur einen kleinen Fehler.

Khedron hatte ihn vorausgesehen; er war nirgends zu finden.

Wenn Alvins Lage etwas Zweideutiges anhaftete, so bemühten sich seine Gastgeber jedenfalls, ihn nicht daran zu erinnern. Es stand ihm frei, sich überall in Airlee umzusehen, wie die kleine Siedlung hieß, über die Seranis herrschte — obwohl das Wort ›herrschen‹ für ihre Stellung zu stark war. Manchmal schien es Alvin, als führe sie eine gemäßigte Diktatur, aber bei anderen Gelegenheiten hatte es den Anschein, als besitze sie überhaupt keine Macht. Bisher war es ihm völlig mißlungen, das Gesellschaftssystem von Lys zu begreifen, entweder weil es zu einfach oder weil es so kompliziert war, daß sich ihm seine Verästelungen entzogen. Mit Sicherheit hatte er nur festgestellt, daß Lys in unzählige Dörfer unterteilt war, wobei Airlee als typisches Beispiel gelten durfte. Aber in gewisser Hinsicht wiederum gab es gar keine typischen Beispiele, denn man hatte Alvin versichert, daß sich jede Siedlung bemühte, ihren Nachbarn so wenig wie möglich zu gleichen.

Obwohl Airlee sehr klein war und weniger als tausend Einwohner zählte, bot es viele Überraschungen. Es gab kaum einen Lebensaspekt, der nicht von seinem Gegenstück in Diaspar abwich. Die Unterschiede erstreckten sich sogar auf so grundlegende Dinge wie die Sprache. Nur die Kinder benützten ihre Stimmen zur normalen Verständigung; die Erwachsenen sprachen kaum jemals, und nach einer Weile entschied Alvin, daß sie es nur aus Höflichkeit ihm gegenüber taten. Es war eine seltsame Erfahrung, sich in einem großen Netz aus geräuschlosen und unaufspürbaren Worten eingesponnen zu fühlen, aber nach einer Weile gewöhnte sich Alvin daran. Eigentlich war es erstaunlich, daß sich die Lautsprache überhaupt erhalten hatte, aber Alvin entdeckte später, daß die Menschen von Lys den Gesang und alle Arten der Musik liebten. Ohne diesen Anreiz wären sie wahrscheinlich völlig verstummt.

Sie waren immer sehr beschäftigt, mit Aufgaben und Problemen, die Alvin gewöhnlich unverständlich blieben. Wo er begriff, was sie taten, schien vieles an ihrer Arbeit ziemlich unnötig. Ein beträchtlicher Teil der Nahrung wurde tatsächlich angebaut und nicht synthetisch hergestellt.

Als Alvin darauf zu sprechen kam, erklärte man ihm geduldig, daß die Menschen von Lys gerne Dinge wachsen sahen, komplizierte genetische Experimente anzustellen liebten und immer raffiniertere Aromen und Gerüche entwickeln wollten. Airlee war wegen seiner Früchte berühmt, aber als Alvin einige Kostproben genoß, schienen sie ihm nicht besser zu sein als jene, die er in Diaspar ohne jede Mühe herbeizaubern konnte.

Zuerst fragte er sich, ob die Menschen von Lys die Kräfte und Maschinen vergessen oder nie besessen hatten, die ihm selbstverständlich waren und auf denen das ganze Leben in Diaspar beruhte. Er sah bald, daß diese Meinung nicht zutraf. Geräte und Wissen waren vorhanden, aber man verwendete sie nur, wenn sie unbedingt nötig schien. Das deutlichste Beispiel dafür lieferte das Transportsystem, wenn man es mit einem so hochtrabenden Namen belegen durfte. Bei kurzen Strecken gingen die Einwohner von Lys zu Fuß, und sie schienen es gerne zu tun. Wenn sie es eilig hatten oder kleinere Lasten befördern mußten, verwendeten sie Tiere, die offensichtlich für diese Zwecke entwickelt waren. Bei der lastentragenden Art handelte es sich um ein niedriges, sechsbeiniges Tier, sehr geduldig und stark, aber mit wenig Intelligenz. Die schnellaufenden Tiere waren von völlig anderem Charakter; sie gingen normalerweise auf vier Beinen, benützten aber, wenn sie große Geschwindigkeiten erzielen wollten, nur ihre muskulösen Hinterbeine. Sie konnten ganz Lys in wenigen Stunden durchqueren; der Reiter saß in einem drehbaren Sitz, der auf dem Rücken des Tieres festgeschnallt wurde. Alvin hätte um nichts in der Welt einen solchen Ritt unternommen, aber unter den jungen Männern galt er als beliebte Sportart. Ihre hochgezüchteten Renner waren die Aristokraten der Tierwelt, was sie sehr wohl wußten. Sie besaßen einen mittelgroßen Wortschatz, und Alvin belauschte sie oft, wenn sie unter sich von vergangenen und künftigen Siegen prahlten.

Versuchte er, freundlich zu sein und an ihren Gesprächen teilzunehmen, dann gaben sie vor, ihn nicht zu verstehen, und sprangen beleidigt davon.

Diese beiden Tierarten genügten allen normalen Ansprüchen und bereiteten ihren Besitzern ein Vergnügen, wie es bei mechanischen Geräten nicht möglich gewesen wäre. Wenn jedoch überschnelle Geschwindigkeiten nötig oder gewaltige Lasten zu bewegen waren, gab es auch die entsprechenden Maschinen, und man setzte sie ohne Zögern ein.

Obwohl das Tierleben von Lys Alvin eine ganze Welt neuer Interessen und Überraschungen bescherte, waren es doch die beiden Extreme der menschlichen Bevölkerung, die ihn am stärksten faszinierten. Die ganz Jungen und die ganz Alten — beide waren gleichermaßen seltsam und gleichermaßen wunderbar. Airlees' ältester Bewohner war kaum in sein zweites Jahrhundert getreten und hatte nur mehr wenige Lebensjahre vor sich. Wenn Alvin dieses Alter erreichte, würde sich sein Körper kaum verändert haben, während die körperlichen Kräfte dieses alten Mannes beinahe erschöpft waren. Sein Haar war vollkommen weiß und sein Gesicht unglaublich faltig. Er schien die meiste Zeit in der Sonne zu sitzen oder langsam durch die Siedlung zu wandern, wobei er mit jedem Grüße tauschte, dem er begegnete. Soviel Alvin sehen konnte, war er vollkommen zufrieden, verlangte nicht mehr vom Leben und schien vor dem nahenden Ende keine Angst zu haben.

Die Philosophie stand mit der Diaspars so in Widerspruch, daß sie Alvins Begriffsvermögen nicht zu fassen vermochte. Warum akzeptierte jemand den Tod, wenn er so unnötig war und wenn man die Wahl hatte, tausend Jahre zu leben und dann durch die Jahrtausende vorwärtszueilen, um in einer Welt, die man zu formen mitgeholfen hatte, neu zu beginnen? Er war entschlossen, dieses Geheimnis zu klären, sobald er Gelegenheit hatte, frei darüber zu sprechen. Es fiel ihm ungeheuer schwer zu glauben, daß Lys diese Wahl aus eigenem, freien Willen getroffen haben könnte, wenn es von der Alternative gewußt hätte.

Er fand einen Teil der Antwort bei den Kindern, diesen kleinen Wesen, die ihm so fremd waren wie die Tiere von Lys. Er verbrachte viel Zeit mit ihnen, schaute ihnen bei den Spielen zu und wurde schließlich als Freund anerkannt. Manchmal hatte er den Eindruck, als seien sie überhaupt nicht menschlich, so fremd wirkten Motive, Logik und sogar Sprache. Er starrte dann ungläubig auf die Erwachsenen und fragte sich, wie es möglich war, daß sie sich aus diesen außergewöhnlichen Wesen entwickelt hatten.

Und doch riefen sie in seinem Herzen ein ganz neues Gefühl wach.

Wenn sie gelegentlich in Tränen der Enttäuschung oder der Verzweiflung ausbrachen, erschienen ihm ihre kleinen Sorgen tragischer als der lange Rückzug des Menschen nach dem Verlust seines galaktischen Imperiums. Dies war zu gewaltig und zu fern, aber das Weinen eines Kindes drang ihm bis ins Herz.

Alvin hatte in Diaspar Liebe gefunden, aber jetzt lernte er etwas ebenso Wertvolles, ohne das auch die Liebe ihre höchste Erfüllung nicht finden konnte. Er lernte Zärtlichkeit.

Alvin studierte also Lys, aber Lys studierte auch ihn und war nicht unzufrieden mit den Ergebnissen. Er war drei Tage in Airlee, als Seranis vorschlug, er könne seine Streifzüge ausdehnen und etwas mehr von ihrem Land besichtigen. Er war sofort einverstanden — unter der Bedingung, daß man nicht von ihm verlangte, einen der schnellen Renner zu besteigen.

„Ich kann Ihnen versichern“, sagte Seranis mit einem seltenen Anflug von Humor, „daß hier niemand daran denkt, eines seiner wertvollen Tiere zu riskieren. Da es sich um einen Ausnahmefall handelt, werde ich ein Fahrzeug bereitstellen, in dem Sie sich zu Hause fühlen. Hilvar wird Ihnen als Führer dienen, aber Sie können natürlich hingehen, wohin Sie wollen.“

Alvin fragte sich, ob das wirklich stimmte. Er konnte sich vorstellen, daß man Einwendungen erheben würde, wenn er zu dem kleinen Hügel zurückzukehren versuchte, von dem aus er nach Lys gekommen war. Im Augenblick beunruhigte ihn das jedoch nicht, weil er es nicht eilig hatte, nach Diaspar zurückzukehren.

Er wußte Seranis' Geste, ihm ihren Sohn als Führer mitzugeben, zu schätzen, obgleich man Hilvar sicher angewiesen hatte aufzupassen, damit Alvin nicht in Ungelegenheiten geriet. Alvin hatte geraume Zeit gebraucht, um sich an Hilvar zu gewöhnen, aus einem Grund, den er ihm nicht gut erklären konnte, ohne seine Gefühle zu verletzen. Körperliche Vollkommenheit war in Diaspar so allgemein, daß persönliche Schönheit an Wert verloren hatte; die Menschen bemerkten sich nicht mehr als die Luft, die sie atmeten. In Lys war das nicht der Fall, und das schmeichelndste Beiwort, das auf Hilvar paßte, war unschön. Nach Alvins Maßstäben war er ausgesprochen häßlich, und eine Weile hatte er es vermieden, mit ihm zusammenzutreffen. Wenn es Hilvar merkte, so zeigte er es jedenfalls nicht, und es dauerte nicht lange, bis seine gutmütige Freundlichkeit die Schranke zwischen ihnen beseitigt hatte. Es sollte eine Zeit kommen, in der sich Alvin so an Hilvars breites, etwas schiefes Lächeln, an seine Kraft und seine Güte gewöhnt hatte, daß er kaum glauben konnte, ihn jemals häßlich gefunden zu haben.

Sie verließen Airlee am frühen Morgen in einem kleinen Fahrzeug, das Hilvar Bodengleiter nannte; der Gleiter arbeitete anscheinend nach dem gleichen Prinzip wie die Maschine, mit der Alvin aus Diaspar gekommen war. Er schwebte einige Zentimeter über dem Rasen, und obwohl nichts von einer Leitschiene zu sehen war, erzählte ihm Hilvar, daß er sich nur auf genau festgelegten Bahnen bewegen konnte. Alle Bevölkerungszentren waren auf diese Weise miteinander verbunden, aber Alvin sah während seines ganzen Aufenthaltes in Lys nie einen anderen Gleiter in Betrieb.

Hilvar hatte sehr viel Mühe auf die Vorbereitung der Expedition verwendet und freute sich anscheinend ebenso darauf wie Alvin. Er hatte den Fahrtweg unter Berücksichtigung seiner eigenen Interessen festgelegt, denn er studierte leidenschaftlich Naturgeschichte und hoffte, in den unbewohnten Gebieten von Lys neue Insektenarten zu finden. Er beabsichtigte, so weit südlich vorzudringen, wie sie die Maschine bringen konnte; den Rest des Weges würden sie zu Fuß zurücklegen müssen. Da ihm die damit verbundenen Konsequenzen nicht klar waren, erhob Alvin keine Einwendungen.

Sie nahmen einen Begleiter mit auf die Reise, Krif, das auffallendste von Hilvars vielen Haustieren. Wenn Krif ruhte, lagen seine sechs gazeartigen Flügel an seinen Körper gefaltet, der wie ein mit Juwelen besetztes Zepter unter ihnen glitzerte. Wenn ihn etwas störte, stieg er mit einem leuchtenden Flackern und einem schwachen Summen unsichtbarer Flügel in die Luft. Obwohl das große Insekt kam, wenn man es rief, und manchmal — nur manchmal — einfache Befehle ausführte, war es fast völlig ohne Verstand. Aber es besaß eine ausgeprägte eigene Persönlichkeit und war, aus irgendeinem Grund, Alvin gegenüber mißtrauisch.