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„Ihr habt bedeutende geistige Kräfte“, erwiderte er und versuchte, das Gespräch von dem gefährlichen Thema abzulenken. „Vielleicht könnt ihr etwas für den Roboter tun, wenn man schon dem Tier nicht helfen kann.“ Er sprach sehr leise, damit ihn die Maschine nicht hören konnte.
Diese Vorsichtsmaßnahme mochte wenig fruchten, aber der Roboter ließ nicht erkennen, ob er Alvins Bemerkungen verstanden hatte.
Ehe Hilvar weiterforschen konnte, tauchte der Polyp glücklicherweise wieder an die Oberfläche. Er war in den letzten Minuten wesentlich kleiner geworden, und seine Bewegungen schienen unkontrolliert. Während Alvin den Polypen beobachtete, brach ein Teil seines komplizierten durchsichtigen Körpers vom Hauptleib ab und zerfiel in viele kleine Teilchen, die schnell verschwanden. Das Wesen begann sich vor ihren Augen aufzulösen.
Als es wieder sprach, war seine Stimme kaum zu verstehen. „Der nächste Kreislauf beginnt“, stieß er flüsternd hervor. „Haben ihn nicht so früh erwartet — nur noch ein paar Minuten — Aufregung zu groß — können uns nicht mehr lange halten.“
Alvin und Hilvar starrten das Wesen mit entsetzter Faszination an. Obwohl der Vorgang, den sie beobachteten, ganz natürlich war, bereitete kein Vergnügen, einem Wesen zuzusehen, das sich anscheinend im Todeskampf befand. Sie fühlten sich auch irgendwie schuldig; dieses Gefühl war unvernünftig, weil es an sich gleichgültig war, wann der Polyp einen neuen Kreislauf begann, aber sie begriffen, daß die durch ihre Anwesenheit bedingte ungewohnte Anstrengung und Erregung für diese verfrühte Verwandlung verantwortlich war.
Alvin spürte, daß er schnell handeln mußte, ehe diese Gelegenheit vorüberging — vielleicht nur für ein paar Jahre, vielleicht auch für Jahrhunderte.
„Was hast du beschlossen?“ fragte er. „Kommt der Roboter mit uns?“
Eine quälende Pause trat ein, während sich der Polyp bemühte, den zerfallenden Körper unter seinen Willen zu zwingen. Die Sprachmembran zitterte, aber kein hörbarer Laut drang hervor. Dann winkte er, wie in einer verzweifelten Abschiedsgeste, schwach mit seinen zarten Fühlern und ließ sie ins Wasser zurückfallen, wo sie sich sofort abtrennten und in den See hinaustrieben. In wenigen Minuten war die Verwandlung vorbei.
Von dem Wesen blieben keine Teilchen größer als zwei Zentimeter. Das Wasser war voll von winzigen, grünen Punkten, die eigenes Leben und eigene Beweglichkeit zu besitzen schienen und sich schnell in der Weite des Sees verloren.
Die Wellen auf dem Wasserspiegel waren jetzt völlig verschwunden, und Alvin wußte, daß der gleichmäßige Pulsschlag in den Tiefen verschwunden sein würde. Der See lag wieder leblos da — so schien es jedenfalls.
Das war jedoch eine Illusion; eines Tages würden die unbekannten Kräfte, die in der Vergangenheit stets ihre Pflicht getan hatten, wieder in Aktion treten, und der Polyp würde wiedergeboren werden. Es war ein seltsamer und wunderbarer Vorgang, aber war er soviel seltsamer als die Zusammensetzung des menschlichen Körpers? War nicht auch er eine Kolonie einzelner, lebender Zellen?
Alvin gab sich nicht lange mit solchen Überlegungen ab. Ihn bedrückte sein Mißerfolg, obgleich er nie gewußt hatte, wohin er eigentlich zielte.
Eine einmalige Gelegenheit war vertan, vielleicht kam sie nie wieder. Er starrte traurig auf den See hinaus, und es dauerte einige Zeit, bis er begriff, was ihm Hilvar ins Ohr flüsterte.
„Alvin“, sagte sein Freund leise. „Ich glaube, du hast gewonnen.“
Er drehte sich blitzschnell um. Der Roboter, der sich bisher regungslos in einiger Entfernung gehalten hatte, war stumm näher gekommen und schwebte jetzt einen Meter über seinem Kopf. Seine unbeweglichen Augen, mit ihrem gewaltigen Sehbereich, gaben nicht zu erkennen, wohin sie blickten. Wahrscheinlich überschauten sie die ganze Halbkugel, aber Alvin zweifelte nicht daran, daß sich ihre Aufmerksamkeit jetzt auf ihn richtete.
Der Roboter wartete auf seine nächste Bewegung. Bis zu einem gewissen Grade gehorchte er jedenfalls seiner Kontrolle. Er würde ihm nach Lys folgen, vielleicht sogar nach Diaspar — bis er sich anders besann. Bis dahin war er, probeweise, sein Herr.
Die Fahrt nach Airlee zurück dauerte fast drei Tage — zum Teil auch deswegen, weil es Alvin nicht eilig hatte. Die Erforschung des Gebietes von Lys war nunmehr einer wichtigeren und aufregenderen Aufgabe untergeordnet; er nahm langsam Verbindung mit dieser seltsamen, besessenen Intelligenz auf, die zu seinem Begleiter geworden war.
Er verdächtigte den Roboter, daß er ihn für seine eigenen Absichten zu gebrauchen gedachte, was nicht mehr als ausgleichende Gerechtigkeit gewesen wäre. Über seine Motive konnte er sich nie klarwerden, weil er sich weiterhin hartnäckig weigerte, zu ihm zu sprechen. Aus irgendeinem persönlichen Grund — vielleicht aus Furcht, er könnte zuviel verraten — mußte der Meister äußerst wirksame Sperren in seinem Sprachzentrum verursacht haben, und Alvins Versuche zu ihrer Beseitigung scheiterten kläglich. Selbst eine indirekte Befragung nach der Methode, ›wenn du nichts sagst, nehme ich an, daß es ja bedeutet‹, versagte; der Roboter war viel zu gescheit, um auf derart simple Tricks hereinzufallen.
In anderer Beziehung schien er dagegen eher zur Zusammenarbeit bereit. Er befolgte Befehle, wenn sie nicht von ihm verlangten, daß er sprechen oder Auskünfte erteilen sollte. Nach einer Weile stellte Alvin fest, daß er ihn, wie die Roboter in Diaspar, allein schon durch Denken steuern konnte. Das war ein großer Schritt vorwärts, und ein wenig später gab das Wesen — es fiel schwer, den Roboter nur als Maschine anzusehen — noch etwas mehr nach und gestattete ihm, durch seine Augen zu sehen. Es schien, daß der Roboter nichts gegen solche primitiven Formen der Verständigung einzuwenden hatte, aber er blockierte alle Versuche zu weiterer Vertrautheit.
Hilvars Anwesenheit übersah er völlig; er gehorchte keinem seiner Befehle und verschloß seine Gedanken vor ihm. Zuerst war das für Alvin eine Enttäuschung, weil er gehofft hatte, Hilvars größere geistige Kraft würde diese Schatztruhe verborgener Erinnerungen aufbrechen können.
Erst später erkannte er den Vorteil, einen Diener zu besitzen, der außer ihm keinem Menschen gehorchte.
Das einzige Mitglied der Expedition, das Einspruch erhob, war Krif. Vielleicht sah er jetzt einen Rivalen vor sich, oder er mißbilligte grundsätzlich alles, was ohne Flügel flog. Als niemand hinsah, unternahm er verschiedene direkte Angriffe auf den Roboter, der ihn dadurch noch mehr in Raserei brachte, daß er diese Attacken überhaupt nicht zur Kenntnis nahm.
Schließlich gelang es Hilvar, ihn zu beruhigen, und auf der Heimfahrt im Bodengleiter schien er sich mit der Sache abgefunden zu haben. Roboter und Insekt begleiteten das Fahrzeug, das still durch Wälder und über Felder glitt — jeder blieb auf der Seite seines Herrn und gab vor, den anderen nicht zu bemerken.
Seranis erwartete sie bereits, als der Gleiter in Airlee ankam. Es war unmöglich, diese Leute zu überraschen, dachte Alvin. Die Verflechtung ihrer Gedanken hielt sie über alles auf dem laufenden, was in Lys geschah. Er fragte sich, wie sie auf seine Abenteuer in Shalmirane reagiert hatten, über die sicher jedermann in Lys Bescheid wußte.
Seranis schien besorgter und unsicherer, als er sie je gesehen hatte, und Alvin erinnerte sich an die Entscheidung, die vor ihm lag. In der Aufregung der letzten Tage hatte er sie fast vergessen; er regte sich nie über Dinge auf, die in der Zukunft lagen. Aber jetzt hatte ihn die Zukunft eingefangen; er mußte sich entscheiden, in welcher der beiden Welten er leben wollte.
Die Stimme Seranis' klang bekümmert, als sie zu sprechen begann, und Alvin hatte plötzlich den Eindruck, daß mit den Plänen, die Lys für ihn vorsah, etwas schiefgegangen war. Was hatte sich während seiner Abwesenheit ereignet? Waren Beauftragte nach Diaspar gegangen, um Khedrons Verstand zu beeinflussen — und hatten sie versagt?
„Alvin“, begann Seranis, „es gibt viele Dinge, von denen ich Ihnen noch nichts erzählt habe, die Sie jetzt aber erfahren müssen, wenn Sie unser Vorgehen verstehen wollen.
Sie kennen einen der Gründe für die Isolierung unserer beiden Rassen.
Die Furcht vor den Invasoren, dieser dunkle Schatten in den Tiefen jedes menschlichen Geistes, veranlaßte Ihre Leute, sich gegen die Welt abzuschließen und in ihren eigenen Träumen zu leben. Hier in Lys ist diese Furcht nie so stark gewesen, obwohl wir die Wucht des letzten Angriffs ertragen mußten. Wir hatten bessere Gründe für unsere Handlungen, und was wir taten, taten wir mit offenen Augen.
Vor langer Zeit, Alvin, strebten die Menschen nach Unsterblichkeit und errangen sie schließlich. Sie vergaßen, daß eine Welt, die den Tod verbannt, auch die Geburt beseitigen muß. Die Macht, sein Leben unendlich zu verlängern, mag dem einzelnen Zufriedenheit verleihen, der Rasse als Gesamtheit bringt sie Stillstand. Vor langer Zeit opferten wir unsere Unsterblichkeit, aber Diaspar folgt immer noch dem falschen Traum. Das ist der Grund, warum sich unsere Wege getrennt haben und warum sie sich nie mehr treffen dürfen.“
Obwohl die Worte halb vorauszusehen gewesen waren, wurde die Wucht des Schlages dadurch nicht gedämpft. Aber Alvin weigerte sich, das Mißlingen seiner Pläne zuzugeben, und nur ein Teil seines Gehirns hörte Seranis jetzt zu. Er begriff und vermerkte alle Worte Seranis', aber der bewußte Teil seines Verstandes verfolgte die Straße nach Diaspar zurück, versuchte sich die Hindernisse vorzustellen, die man ihm in den Weg legen könnte.
Seranis war sichtlich unglücklich. Ihre Stimme klang fast bittend, und Alvin wußte, daß sie nicht nur zu ihm, sondern auch zu ihrem Sohn sprach.
Sie spürte das gegenseitige Verstehen und die Zuneigung zwischen den beiden. Hilvar sah seine Mutter fest an, und es schien Alvin, als enthielte der Blick nicht nur Sorge, sondern auch eine Spur von Mißbilligung.
„Wir wollen Sie nicht zwingen, etwas gegen Ihren Willen zu tun, aber Sie werden sicher verstehen, was es bedeuten würde, wenn sich unsere beiden Rassen wieder begegneten. Zwischen Ihrer Kultur und der unseren besteht eine Kluft, die größer ist als jede andere zuvor. Denken Sie an das eine, Alvin. Sie und Hilvar sind jetzt beinahe gleich alt — aber er und ich werden Jahrhunderte tot sein, während Sie noch ein Jüngling sind. Und das ist nur das erste in einer unendlichen Reihe von Leben.“, Der Raum war sehr still, so still, daß Alvin die seltsam klagenden Laute unbekannter Tiere auf den Feldern am Dorfrand hören konnte. Er sagte, fast flüsternd: „Was verlangen Sie von mir?“
„Wir hofften, Ihnen die Wahl zwischen Hierbleiben und der Rückkehr nach Diaspar lassen zu können, aber das ist unmöglich geworden. Zuviel ist geschehen, als daß wir Ihnen die Entscheidung überlassen dürften.
Selbst in der kurzen Zeit Ihres Hierseins hat sich Ihr Einfluß als äußerst störend erwiesen. Nein, ich tadle Sie nicht; ich weiß, daß Sie nichts Böses wollen. Aber es wäre besser gewesen, die Wesen in Shalmirane ihrem Schicksal zu überlassen.
Und was Diaspar betrifft —“, Seranis machte eine ärgerliche Geste. „Zu viele Leute wissen, wohin Sie gegangen sind; wir haben nicht rechtzeitig eingegriffen. Schlimmer noch, der Mann, der Ihnen die Entdeckung von Lys verschafft hat, ist verschwunden; weder Ihr Rat noch unsere Agenten können ihn auffinden; er bleibt also eine potentielle Gefahr für unsere Sicherheit. Vielleicht überrascht es Sie, daß ich Ihnen das alles sage, aber ich gehe damit kein Risiko ein. Ich fürchte, wir stehen vor einer einzigen Alternative; wir müssen Sie mit falschen Erinnerungen nach Diaspar zurückschicken. Diese Erinnerungen wurden mit großer Sorgfalt erzeugt, und wenn Sie nach Hause zurückkehren, werden Sie nichts mehr von uns wissen. Sie werden glauben, ziemlich langweilige und gefährliche Abenteuer in düsteren unterirdischen Höhlen erlebt zu haben, in denen die Höhlendecken ständig hinter Ihnen einstürzten und Sie sich nur dadurch am Leben erhalten konnten, daß Sie unappetitliches Unkraut aßen und aus Quellen tranken. Für den Rest Ihres Lebens werden Sie das für die Wahrheit halten, und jedermann in Diaspar wird Ihnen diese Geschichte glauben. Es wird dann auch kein Geheimnis mehr geben, das spätere Abenteurer anlocken könnte; man wird meinen, alles über Lys zu wissen.“
Seranis schwieg einen Augenblick und sah Alvin mit besorgten Augen an. „Wir bedauern es sehr, daß das nötig ist und bitten Sie um Verzeihung, solange Sie sich noch an uns erinnern. Sie werden unser Urteil nicht akzeptieren wollen, aber wir kennen viele Tatsachen, die Ihnen verborgen sind. Zumindest brauchen Sie nichts zu bedauern, weil Sie glauben werden, alles gefunden zu haben, was es zu entdecken gab.“
Alvin fragte sich, ob das stimmte. Er glaubte nicht, daß er sich jemals zu einem Normaldasein in Diaspar niederlassen würde, selbst wenn er der Meinung war, daß nichts Besonderes außerhalb der Stadtmauern existierte. Überdies hatte er nicht die Absicht, darauf eine Probe zu machen.
„Wann soll ich mich dieser — Behandlung unterziehen?“
„Sofort. Wir sind bereit, öffnen Sie mir Ihren Geist, wie Sie es schon einmal getan haben, und Sie werden nichts wissen, bis Sie sich in Diaspar wiederfinden.“
Alvin schwieg geraume Zeit, dann sagte er ruhig: „Ich möchte mich von Hilvar verabschieden.“ Seranis nickte.
„Ich verstehe. Ich lasse euch eine Weile allein und komme zurück, wenn Sie bereit sind.“ Sie ging zu der Treppe hinüber, die ins Innere des Hauses führte, und ließ sie allein auf dem Dach.
Es dauerte einige Zeit, bis Alvin zu seinem Freund sprach; er fühlte große Traurigkeit, aber auch eine ungebrochene Entschlossenheit, die Zerstörung all seiner Hoffnungen nicht zuzulassen. Er schaute wieder auf die Siedlung hinunter, wo er ein gewisses Glück gefunden hatte und die er nie mehr wiedersehen würde, wenn Seranis und ihre Berater ihren Willen durchsetzten. Der Bodengleiter stand noch unter einem der großen Bäume, mit dem geduldigen Roboter darüber. Ein paar Kinder drängten sich um den seltsamen Neuankömmling, aber die Erwachsenen schienen nicht interessiert zu sein.
„Hilvar“, sagte Alvin plötzlich, „es tut mir sehr leid.“ „Mir auch“, antwortete Hilvar mit schwankender Stimme. „Ich hatte gehofft, du könntest hierbleiben.“
„Glaubst du, daß das richtig ist, was deine Mutter tut?“ „Gib nicht meiner Mutter die Schuld. Sie tut nur, was man von ihr verlangt“, erwiderte Hilvar. Obwohl Alvins Frage nicht beantwortet worden war, hatte er nicht das Herz, Hilvar nochmals zu fragen. Es wäre unfair gewesen.
„Dann sag mir das eine“, sagte Alvin. „Wie könnten mich deine Leute aufhalten, wenn ich ohne falsche Erinnerungen zu fliehen versuchte?“
„Das wäre einfach. Wenn du zu entkommen versuchtest, würden wir deinen Verstand lenken und dich zwingen, zurückzukommen.“
Alvin hatte das erwartet und ließ sich nicht entmutigen. Er hätte Hilvar gern ins Vertrauen gezogen, aber er wollte das Scheitern seiner Pläne nicht riskieren. Sehr vorsichtig, jede Einzelheit berücksichtigend, verfolgte er die einzige Straße zurück, die ihn zu seinen eigenen Bedingungen nach Diaspar bringen konnte.