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Einige, vor allem bei den ganz Jungen sehr beliebte, waren unkomplizierte Entdecker- und Abenteuerromane. Andere stellten sich als Erforschungen psychologischer Zustände dar, während wieder andere Übungen in Logik oder Mathematik waren, die fortgeschritteneren Geistern Vergnügen bereiteten.
Aber obwohl die Abenteuer seine Freunde zu befriedigen schienen, ließen sie Alvin stets mit einem Gefühl der Unvollständigkeit zurück. Trotz all ihrer Farbigkeit und Spannung, ihrer ständig wechselnden Örtlichkeiten und Themen — es fehlte etwas.
Es gab keine großen Ausblicke, keine der welligen Landschaften, nach denen sich seine Seele sehnte. Und vor allem, es gab auch nicht die geringste Andeutung der Unermeßlichkeit, in der die Heldentaten der Menschen tatsächlich stattgefunden hatten — der leuchtenden Leere zwischen den Sternen. Die Schöpfer der Abenteuer waren von derselben merkwürdigen Angst befallen gewesen, die alle Bürger Diaspars beherrschte. Selbst ihre Abenteuer mußten sich im tiefen Innern abspielen, in unterirdischen Höhlen oder in hübschen kleinen Tälern, von riesigen Bergen eingerahmt, die alles andere verbargen.
Es gab nur eine einzige Erklärung: Weit zurück in der Zeit, vielleicht vor der Gründung Diaspars, war etwas geschehen, das nicht nur die Neugier und den Ehrgeiz des Menschen vernichtete, sondern ihn auch von den Sternen nach Hause trieb, wo er sich in der winzigen, verschlossenen Welt der letzten Stadt der Erde verbarg. Er hatte dem Universum entsagt und war in den künstlichen Mutterleib Diaspars zurückgekehrt. Der flammende, unbesiegbare Drang, der ihn einst über die Milchstraße hinaus zu den nebligen Inseln jenseits getrieben hatte, war völlig erstorben.
Seit unzähligen Jahrtausenden hatte kein Raumschiff mehr das Sonnensystem angesteuert; dort draußen, mitten unter den Sternen, mochten die Nachfahren des Menschen immer noch Imperien errichten und Sonnen zerstören — die Erde wußte es weder, noch wollte sie es wissen.
Die Erde nicht. Aber Alvin.
Der Raum war dunkel, bis auf eine leuchtende Wand, auf der die Farben fluteten und verebbten, während Alvin mit seinen Träumen rang. Ein Teil des Musters befriedigte ihn; er hatte sich in die gewaltigen Linien der Berge verliebt, die aus dem Meer emporragten. Diese hochsteigenden Kurven verrieten Kraft und Stolz; er hatte sie lange Zeit studiert und dann in der Gedächtnisanlage des Visiogerätes aufbewahrt, während er mit den anderen Teilen des Bildes experimentierte. Irgend etwas entzog sich ihm, obwohl er es nicht zu bestimmen vermochte. Immer wieder versuchte er die leeren Stellen auszufüllen, während das Instrument die wechselnden Muster in seinen Gedanken las und sie auf der Wand materialisierte. Es taugte nichts. Die Linien waren verschwommen und unsicher, die Farben schmutzig und trübe. Wenn der Künstler sein Ziel nicht kannte, würde es auch die wunderbarste Maschine nicht für ihn finden.
Alvin löschte seine unbefriedigenden Kritzeleien und starrte mürrisch auf das zu drei Vierteln leere Rechteck, das er mit Schönheit auszufüllen versucht hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, verdoppelte er die Größe des bestehenden Entwurfs und schob ihn in die Mitte des Rahmens. Nein — das war ein fauler Ausweg; die Ausgewogenheit fehlte.
Schlimmer noch, die Veränderung des Maßstabs hatte die Mängel seiner Konstruktion enthüllt, das Fehlen der Sicherheit in diesen, nur auf den ersten Blick vollkommen wirkenden Linien. Er würde noch einmal ganz von vorne beginnen müssen.
„Totallöschung“, befahl er der Maschine. Das Blau des Meeres verschwand; die Berge lösten sich wie Nebel auf, bis nur die blanke Wand blieb. Verschwunden, als seien sie nie gewesen — als seien sie in dem Nichts versunken, das alle Meere und Berge der Erde dahingerafft hatte, vor Alvins Geburt.
Licht erfüllte wieder den Raum, und das schimmernde Rechteck, auf das Alvin seine Träume aufgezeichnet hatte, verschmolz mit seiner Umgebung, wurde zu einer Wand wie die anderen Wände. Aber waren es Wände? Einem Wesen, das einen solchen Raum noch nicht gesehen hatte, mußte er sehr seltsam vorkommen. Er war völlig ohne besondere Merkmale und ohne jedes Mobiliar, so daß es schien, als stünde Alvin im Mittelpunkt einer Kugel. Keine sichtbaren Trennlinien schieden die Wände von Boden oder Decke. Es gab nichts, worauf sich das Auge einstellen konnte; der Raum, der Alvin einschloß, mochte einen Durchmesser von drei Metern oder drei Kilometern haben, so wenig konnte das Auge des Betrachters hier unterscheiden. Es wäre schwer der Versuchung zu widerstehen gewesen, mit ausgebreiteten Armen vorwärtszugehen, um die körperlichen Begrenzungen dieses außerordentlichen Raumes zu entdecken.
Aber solche Räume waren für die meisten Mitglieder der menschlichen Rasse seit langer Zeit das Zuhause. Alvin brauchte nur den entsprechenden Gedanken zu formulieren, und die Wände wurden zu Fenstern, die sich nach jedem Teil der Stadt hin öffneten, den er zu sehen wünschte. Ein anderer Wunsch, und niegesehene Maschinen füllten das Zimmer mit den projizierten Abbildern jeder Art von Mobiliar, das er brauchte. Ob sie wirklich waren oder nicht, dieses Problem hatte in der letzten Jahrmilliarde nur sehr wenige Menschen bekümmert. Gewiß waren sie nicht weniger wirklich als diese andere Betrügerin, die feste Materie, und wenn man sie nicht mehr benötigte, wurden sie in die Phantomwelt der Gedächtnisanlagen der Stadt zurückgeschickt. Wie alles andere in Diaspar nützten sie sich niemals ab — und sie würden sich nie verändern, wenn ihre gespeicherten Muster nicht durch einen überlegten Willensakt gelöscht wurden.
Alvin hatte seinen Raum teilweise rekonstruiert, als an seinem Ohr ein beharrliches, glockenähnliches Läuten ertönte. Er gab gedanklich das Eintrittssignal, und die Wand, auf der er eben noch gemalt hatte, löste sich wieder auf. Wie erwartet, standen dort seine Eltern und hinter ihnen Jeserac. Die Anwesenheit seines Lehrers bedeutete, daß es sich um keinen üblichen Familienbesuch handelte — aber das wußte er ja schon.
Die Illusion war vollkommen, und sie verflog auch nicht, als Eriston zu sprechen begann. In Wirklichkeit waren Eriston, Etania und Jeserac, wie Alvin wohl wußte, Kilometer voneinander entfernt, denn die Erbauer der Stadt hatten ebenso den Raum besiegt wie die Zeit unterworfen. Alvin wußte nicht einmal genau, wo seine Eltern unter den unzähligen Türmen und verworrenen Labyrinthen Diaspars wohnten, denn sie waren umgezogen, seit er zum letztenmal wirklich bei ihnen gewesen war.
„Alvin“, begann Eriston, „es sind jetzt genau zwanzig Jahre her, seit deine Mutter und ich dich zum erstenmal trafen. Du weißt, was das bedeutet. Unsere Vormundschaft ist beendet, und es steht dir frei, zu tun, was dir behagt.“
In Eristons Stimme schwang eine Spur — nur eine Spur — Traurigkeit mit.
Zum größten Teil war es Erleichterung, als sei Eriston froh, daß eine seit längerer Zeit feststehende Tatsache endlich gesetzliche Anerkennung gefunden habe. Alvin hatte seine Freiheit schon seit Jahren vorweggenommen.
„Ich verstehe“, antwortete er. „Ich danke euch für eure Mühe, und ich werde in all meinen Leben an euch denken.“
Das war die formelle Erwiderung; er hatte sie so oft gehört, daß den Worten jegliche Bedeutung fehlte — sie bestand lediglich aus einer Reihe von Lauten, ohne besonderen Sinn. Dabei war der Ausdruck ›all mein Leben‹ sehr merkwürdig, wenn man es sich genau überlegte. Er wußte ungefähr, was er bedeutete; jetzt war endlich die Zeit gekommen, da er alles genau erfahren würde. Es gab in Diaspar viele Dinge, die er nicht verstand und die er in den vor ihm liegenden Jahrhunderten begreifen lernen mußte.
Einen Augenblick hatte er den Eindruck, als wollte Etania etwas sagen.
Sie hob eine Hand, wobei sich der schillernde Stoff ihres Gewandes verschob, ließ sie wieder sinken. Dann wandte sie sich hilflos an Jeserac, und Alvin begriff zum erstenmal, daß seine Eltern beunruhigt waren.
Schnell überdachte er die Vorkommnisse der letzten Wochen. Nein, es hatte sich nichts ereignet, das diese leichte Unsicherheit, diese milde Besorgnis hätte verursachen können.
Jeserac schien jedoch die Situation zu beherrschen. Er sah Eriston und Etania fragend an, vergewisserte sich, daß sie nichts mehr zu sagen hatten, und begann mit der Erklärung, die er schon seit Jahren vorbereitet hatte.
„Alvin“, sagte er, „du bist zwanzig Jahre mein Schüler gewesen, und ich habe mein Bestes getan, dich zu dem Vermächtnis zu geleiten, das auf dich wartet. Du hast mir viele Fragen gestellt, nicht alle konnte ich beantworten. Für manche Dinge warst du noch nicht reif genug, andere wieder kannte ich selbst nicht. Jetzt ist deine Unmündigkeit zu Ende, obgleich deine Kindheit kaum begonnen hat. Es ist immer noch meine Pflicht, dich zu leiten, wenn du meine Hilfe brauchst. In zweihundert Jahren, Alvin, wirst du angefangen haben, von dieser Stadt und ihrer Geschichte ein wenig zu verstehen. Selbst ich, der ich mich dem Ende dieses Lebens nähere, habe weniger als ein Viertel Diaspars gesehen und nicht einmal ein Tausendstel seiner Schätze.“
Bisher war nichts gesagt, was Alvin nicht schon wußte, aber man konnte Jeserac nicht drängen, sich zu beeilen. Der alte Mann blickte ihn über den Abgrund der Jahrhunderte hinweg unverwandt an; seine Worte erhielten Gewicht durch die unschätzbare, im lebenslangen Umgang mit Menschen und Maschinen erworbene Weisheit.
„Sag mir, Alvin“, fuhr er fort, „hast du dich jemals gefragt, wo du gewesen bist, ehe du auf die Welt kamst, ehe du in der Halle der Schöpfung Etania und Eriston gegenüberstandest?“
„Ich nahm an, daß ich nirgends war, daß ich nichts als eine Struktur im Geist der Stadt war, auf den Augenblick der Erschaffung wartend — wie dies hier.“
Neben Alvin materialisierte sich eine niedrige Couch. Er setzte sich darauf und wartete, bis Jeserac fortfuhr.
„Du hast natürlich recht“, kam die Erwiderung. „Aber das ist nur ein Teil der Antwort — ein sehr kleiner Teil. Bis jetzt bist du nur mit Kindern deines Alters in Berührung gekommen, und sie wissen die Wahrheit nicht.
Sie werden sich bald daran erinnern, aber nicht du, so daß wir dich auf die Tatsachen vorbereiten müssen.
Seit über tausend Millionen Jahren, Alvin, lebt die Menschheit in dieser Stadt. Seit das Galaktische Imperium zusammenbrach und die Invasoren zu den Sternen zurückkehrten, ist das hier unsere Welt. Außerhalb der Mauern Diaspars gibt es nichts als die Wüste.
Wir wissen wenig über unsere primitiven Vorfahren, abgesehen von der Tatsache, daß sie sehr kurzlebige Wesen waren und sich, so merkwürdig es auch klingen mag, ohne die Hilfe von Gedächtnisanlagen und Materiebildnern fortpflanzen konnten. In einem komplizierten und anscheinend unkontrollierbaren Prozeß wurden die Grundstrukturen jedes menschlichen Wesens in mikroskopisch kleinen Zellen bewahrt, die tatsächlich im Körper selbst entstanden. Wenn du dich dafür interessierst, können dir die Biologen mehr dafür sagen, aber das Verfahren ist nicht von großer Bedeutung.
Ein menschliches Wesen wird durch seine Persönlichkeitsstruktur, seinen Charakter bestimmt. Die Struktur eines Menschen, und noch viel mehr die Struktur eines menschlichen Geistes, ist unglaublich kompliziert. Und doch brachte die Natur diese Struktur in einer winzigen Zelle unter, die so klein war, daß man sie nicht mit bloßem Auge sehen konnte.
Was der Natur gelingt, kann der Mensch auf seine Art nachmachen. Wir wissen nicht, wie lange es dauerte — eine Million Jahre vielleicht —, aber was ist das schon! Schließlich lernten unsere Vorfahren, wie man die Einzelheiten, die jedes bestimmte menschliche Wesen definieren, ermitteln und aufbewahren konnte — und wie diese Kenntnis dazu zu verwenden war, das Original wiederzubeschaffen, so, wie du eben diese Couch geschaffen hast.
Ich weiß, daß dich solche Dinge interessieren, Alvin, aber ich kann dir nicht genau sagen, wie man es machte. Die Art, in der diese Einzelheiten aufbewahrt werden, ist völlig unwichtig; nur die Struktur selbst spielt eine Rolle. Sie mag in Form von Schriftzeichen auf Papier, in Form von Magnetfeldern oder in Form von elektrischen Impulsen gespeichert werden.
Die Menschen haben diese Methoden der Speicherung angewendet und noch viele andere. Es möge die Feststellung genügen, daß es ihnen vor langer Zeit gelang, sich selbst zu speichern oder, genauer ausgedrückt, die entkörperlichten Strukturen, mit denen sie in das Dasein zurückgerufen werden konnten.
So viel ist dir schon bekannt. Durch diesen Weg haben uns unsere Vorfahren praktisch die Unsterblichkeit gegeben und gleichzeitig die Probleme vermieden, die mit der Beseitigung des Todes verbunden sind.
Tausend Jahre in einem Körper sind genug für jeden Menschen; am Ende dieser Zeit ist sein Gehirn mit Erinnerungen überlastet, und er fragt nur noch nach Ruhe — oder einem neuen Anfang.
In nicht ferner Zeit, Alvin, werde ich mich darauf vorbereiten, dieses Leben zu verlassen. Ich werde meine Erinnerungen durchgehen, sie überprüfen und diejenigen löschen, die ich nicht behalten will. Dann werde ich die Halle der Schöpfung betreten, aber durch eine Tür, die du nie gesehen hast. Dieser alte Körper wird zu existieren aufhören und mit ihm das Bewußtsein. Von Jeserac wird nichts bleiben als eine Milchstraße von Elektronen, erstarrt im Innern eines Kristalls.
Ich werde schlafen, Alvin, ohne Träume. Dann, eines Tages, vielleicht hunderttausend Jahre später, werde ich mich in einem neuen Körper wiederfinden und diejenigen treffen, die als meine Vormünder bestellt sind. Sie werden sich um mich kümmern, wie Eriston und Etania dich geleitet haben, denn am Anfang werde ich nichts von Diaspar wissen und keine Erinnerung an mein früheres Dasein besitzen. Diese Erinnerungen werden langsam wiederkehren, am Ende meiner Kindheit, und ich werde auf ihnen aufbauen.
Das ist die Struktur unseres Lebens, Alvin. Wir alle sind schon viele, viele Male hier gewesen, obgleich sich, da die Zwischenzeiten der Nicht-Existenz nach gewissen Gesetzen unterschiedlich lange sind, die gegenwärtige Bevölkerung in dieser Zusammensetzung nicht wiederholen wird. Der neue Jeserac wird neue und andere Freunde und Interessen haben, aber der alte Jeserac — soviel ich von ihm zu bewahren wünsche — wird noch existieren.
Das ist nicht alles. In jedem Augenblick, Alvin, lebt nur ein Hundertstel der Bürger Diaspars in seinen Straßen. Die gewaltige Mehrheit schläft in den Gedächtnisanlagen und wartet auf das Signal, das sie wieder auf die Bühne des Daseins ruft. So besitzen wir also Stetigkeit, aber doch Veränderung — Unsterblichkeit, aber keine Stagnation.
Ich weiß, was du dich fragst, Alvin. Du möchtest wissen, wann du die Erinnerung an deine früheren Lebensperioden wiedergewinnst, wie es deine Kameraden bereits an sich erfahren.
Es gibt keine solchen Erinnerungen, denn du bist einzigartig. Wir haben versucht, dir diese Tatsache so lange wie möglich vorzuenthalten, damit kein Schatten über deine Kindheit fiele — obwohl ich glaube, daß du einen Teil der Wahrheit schon erraten hast.
Du, Alvin, bist etwas, das in Diaspar seit der Gründung der Stadt erst wenige Male aufgetreten ist. Vielleicht lagst du während der ganzen Zeiten schlafend in den Gedächtnisanlagen — vielleicht bist du aber auch erst vor zwanzig Jahren durch eine zufällige Permutation geschaffen worden. Du magst am Anfang von den Gründern der Stadt vorgesehen worden oder ein absichtsloses Produkt unserer eigenen Zeit sein.
Wir wissen es nicht. Alles, was wir wissen, ist dies: Du allein, von allen Menschen, Alvin, hast noch nie gelebt. Wörtlich genommen, bist du das erste Kind, das seit mindestens zehn Millionen Jahren auf der Erde geboren wurde.“
Als Jeserac und seine Eltern verschwunden waren, lag Alvin lange Zeit auf der Couch und versuchte, seinen Geist von Gedanken frei zu halten.
Er schloß seinen Raum um sich, damit ihn niemand stören konnte.
Er schlief nicht; Schlaf gehörte zu einer Welt aus Tag und Nacht, und hier gab es nur den Tag.