122179.fb2 Die sieben Sonnen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 20

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Aber eigentlich brauchte er sich doch dafür nicht schuldig zu fühlen, dachte Alvin. Es bewies nur, was er bereits gewußt hatte — daß Khedron ein Feigling war. Vielleicht kein größerer Feigling als alle anderen Menschen in Diaspar auch; dafür aber besaß er das zusätzliche Mißgeschick einer gewaltigen Phantasie. Alvin trug einen Teil der Verantwortung für sein Schicksal, aber keineswegs die gesamte Schuld.

Wen hatte er in Diaspar sonst gekränkt oder verletzt? Er dachte an Jeserac, seinen Lehrer, der seinem schwierigsten Schüler gegenüber unendliche Geduld bewiesen hatte. Er dachte an die vielen kleinen Freundlichkeiten seiner Eltern; jetzt, da er auf sie zurückblickte, waren es mehr, als er geglaubt hatte.

Und er dachte an Alystra. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte diese Liebe akzeptiert oder übersehen, wie es ihm beliebte. Aber was hätte er anderes tun sollen? Wäre sie glücklicher gewesen, wenn er sie verächtlich abgewiesen hätte.

Er begriff jetzt, warum er Alystra nie geliebt hatte, noch eine andere der Frauen von Diaspar. Diaspar hatte vieles vergessen, auch die wahre Bedeutung der Liebe. In Airlee hatte er den Müttern zugesehen, wie sie ihre Kinder auf den Knien schaukelten, und selbst diese schützende Zärtlichkeit für alle kleinen und hilflosen Wesen gespürt, die uneigennützige Zwillingsschwester der Liebe. Aber in Diaspar gab es keine Frau, die vom letzten Ziel der Liebe wußte oder danach strebte.

In der unsterblichen Stadt gab es keine wirklichen Gefühle, keine tiefen Leidenschaften. Vielleicht blühten solche Dinge nur, weil sie nicht ewig dauern konnten, weil sie immer unter jenem Schatten standen, den Diaspar verbannt hatte.

Das war der Augenblick, in dem Alvin begriff, worin seine Bestimmung lag. Bis jetzt war er unbewußter Handlanger seiner eigenen Willenskräfte gewesen. Aber nun wußte er, wohin. er wirklich gehen wollte.

Alvins Träumerei wurde rauh von dem Glockenton des Wandschirms unterbrochen. Der Klang verriet ihm sofort, daß es kein Anruf von außen war, sondern daß jemand erschienen war, um ihn persönlich zu sehen.

Er gab das Eintrittssignal; einen Augenblick später stand Jeserac vor ihm.

Sein Lehrer sah ihn ernst an. Aber es schien, als sei er dabei nicht unfreundlich gesinnt.

„Man hat mich gebeten, dich zum Rat zu bringen, Alvin“, sagte er. „Er wartet auf dich.“ Dann bemerkte Jeserac den Roboter und er betrachtete ihn neugierig. „Das ist also der Begleiter, den du von deinen Reisen mitgebracht hast. Es ist am besten, wenn er mit uns kommt.“

Das paßte Alvin sehr gut. Der Roboter hatte ihn bereits einmal aus einer gefährlichen Situation gerettet; vielleicht konnte er ihm noch einmal nützlich werden. Er fragte sich, was die Maschine über die Abenteuer und Wechselfälle dachte, in die sie verwickelt worden war, und wünschte zum zehntausendstenmal, verstehen zu können, was in ihr vorging. Alvin gewann den Eindruck, daß der Roboter zunächst beschlossen hatte, zu beobachten, zu prüfen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen, aber zunächst selbst nichts zu unternehmen, bis ihm die Zeit reif erschien. Dann würde er sich, vielleicht ganz plötzlich, zum Handeln entschließen, und es konnte sein, daß seine Aktionen mit Alvins Plänen nicht übereinstimmten.

Alystra erwartete sie an der Rampe, die zur Straße hinabführte. Selbst wenn Alvin sie wegen der Schuld an der Aufdeckung seines Geheimnisses hätte anklagen wollen, er brachte es nicht übers Herz. Ihre Qual war zu offensichtlich, und ihre Augen standen voll Tränen, als sie herbeilief, um ihn zu begrüßen.

„Oh, Alvin!“ rief sie. „Was werden sie mit dir tun?“

Alvin nahm ihre Hände mit einer Zärtlichkeit, die sie beide überraschte.

„Sorge dich nicht, Alystra“, sagte er. „Alles wird gut werden. Schließlich kann mich der Rat höchstens in die Gedächtnisanlagen zurückschicken — und irgendwie glaube ich nicht an diese Möglichkeit.“

Sanft entzog sich ihr Alvin und folgte Jeserac zum Ratssaal.

Alystras Herz war einsam, aber nicht mehr mit Bitterkeit erfüllt, als sie ihm nachsah. Sie wußte jetzt, daß sie ihn nicht verlor, weil er ihr nie gehört hatte.

Alvin bemerkte die seltsamen und entsetzten Blicke seiner Mitbürger kaum, als er mit seiner Begleitung durch die vertrauten Straßen schritt.

Von Zeit zu Zeit versicherte er sich, daß er nicht im geringsten beunruhigt und immer noch Herr der Situation war.

Sie warteten im Vorraum nur einige Minuten, aber das genügte Alvin, sich zu wundern, warum seine Beine so schwach schienen, obwohl er sich nicht fürchtete. Er hatte dieses Gefühl erst einmal gehabt, als er sich die letzten Meter auf den Berg hinaufzwang, wo ihm Hilvar den Wasserfall gezeigt hatte. Er fragte sich, was Hilvar jetzt wohl tat und ob sie sich jemals wieder treffen würden. Es war ihm plötzlich sehr wichtig, ihn wiederzusehen.

Die großen Türen glitten zur Seite, und er folgte Jeserac in den Saal. Die zwanzig Räte saßen bereits an ihrem sichelförmigen Tisch, und Alvin fühlte sich geschmeichelt, als er keinen leeren Platz bemerkte. Seit vielen Jahrhunderten hatte sich der Rat wieder einmal vollzählig versammelt. Die seltenen Sitzungen waren üblicherweise lediglich eine Formalität, die nur manchmal in einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des Rates und dem Zentralgehirn ihren Höhepunkt erlebte.

Alvin kannte die meisten Ratsmitglieder vom Sehen und fühlte sich unter so vielen vertrauten Gesichtern sicherer. Wie Jeserac schienen sie nicht unfreundlich — nur besorgt und verwirrt. Sie waren schließlich vernünftige Männer. Sie mochten sich darüber ärgern, daß man sie eines Besseren belehrt hatte, aber Alvin konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihm deshalb grollen würden. Früher wäre das eine äußerst voreilige Annahme gewesen, aber in gewisser Hinsicht hatten sich die Menschen gebessert.

Sie würden ihm eine gerechte Verhandlung gewährleisten, jedoch ihr Urteil konnte nicht den Ausschlag geben. Sein Richter war nicht mehr der Rat, sondern das Zentralgehirn.

16

Man begann ohne Förmlichkeiten. Der Präsident erklärte die Sitzung für eröffnet und wandte sich dann an Alvin.

„Alvin“, sagte er, ziemlich freundlich, „erzählen Sie uns bitte, was Ihnen zugestoßen ist, seit Sie vor zehn Tagen verschwanden.“

Die Anwendung des Wortes ›verschwinden‹ schien Alvin sehr bedeutsam. Sogar jetzt wollte der Rat nicht zugeben, daß er wirklich Diaspar verlassen hatte. Er fragte sich, ob sie wußten, daß Fremde in der Stadt gewesen waren, und bezweifelte es. In diesem Fall hätten sie sich aufgeregter verhalten.

Er berichtete seine Erlebnisse klar und ohne Übertreibungen; für die Ratsmitglieder waren sie ohnehin so seltsam und unglaublich, daß sie keiner Ausschmückung bedurften. Nur an einer Stelle wich er von der Wahrheit etwas ab, indem er die Art seiner Flucht aus Lys unterschlug.

Es schien mehr als wahrscheinlich, daß er sich noch einmal dieser Methode bedienen mußte.

Es war erstaunlich zu sehen, wie sich die Haltung der Ratsmitglieder im Verlauf seiner Erzählung veränderte. Anfangs waren sie skeptisch. Sie weigerten sich, die Umkehrung ihrer Glaubensgrundsätze, die Verletzung ihrer tiefsten Vorurteile anzuerkennen. Als ihnen Alvin von seinem leidenschaftlichen Wunsch berichtete, die Welt jenseits der Stadt zu erforschen, und seine durch Vernunft nicht belegbare Überzeugung erklärte, daß eine solche Welt existieren mußte, starrten sie ihn an, als sei er ein seltsames und unbegreifliches Tier. In ihren Augen war er es wirklich.

Aber schließlich mußten sie zugeben, daß er recht gehabt hatte und sie im Irrtum gewesen waren. Vielleicht gefiel ihnen nicht, was er mitteilte, aber die Wahrheit konnten sie nicht mehr leugnen. Wenn sie sich dazu versucht fühlten, brauchten sie nur Alvins stummen Begleiter anzusehen.

Es gab nur eine Stelle seines Berichtes, die ihre Entrüstung erregte — aber sie richtete sich nicht gegen ihn. Ein verärgertes Murmeln lief durch die Versammlung, als Alvin die Anstrengung der Bewohner von Lys erwähnte, jede Ansteckung durch Diaspar zu vermeiden, und von den Maßnahmen erzählte, die Seranis getroffen hatte, um eine derartige Katastrophe zu verhindern. Die Stadt war stolz auf ihre Kultur, und mit gutem Grund. Die Ratsmitglieder konnten nicht dulden, daß irgend jemand sie als minderwertig ansah.

Alvin bemühte sich, mit seinen Bemerkungen keinen Anstoß zu erregen; er wollte den Rat, soweit das möglich war, für sich gewinnen. Daher versuchte er durchweg den Eindruck zu erwecken, daß er in seinem Vorgehen nichts Falsches gesehen hatte und für seine Entdeckung eher Lob als Tadel erwartete. Das war die klügste Einstellung, denn sie entwaffnete seine Kritiker und bewirkte, daß die ganze Schuld auf den verschwundenen Khedron fiel, obwohl er das keineswegs beabsichtigt hatte. Alvin selbst, so erkannten seine Zuhörer, war zu jung, um die Gefahren seines Verhaltens zu sehen. Der Spaßmacher allerdings hätte es besser wissen müssen; er hatte sich verantwortungslos benommen. Sie wußten noch nicht, wie sehr Khedron mit ihnen übereinstimmte.

Auch Jeserac, als Alvins Lehrer, verdiente Tadel, und von Zeit zu Zeit warfen ihm einige Ratsmitglieder nachdenkliche Blicke zu. Es schien ihn nicht zu stören, obwohl er genau wußte, was sie dachten. Er hatte den ursprünglichsten Geist gelenkt, der seit der Frühzeit Diaspars erschienen war, und diese Ehre konnte ihm niemand nehmen.

Erst als Alvin die tatsächliche Wiedergabe seiner Abenteuer beendet hatte, versuchte er es mit Überredung. Irgendwie mußte er diese Männer von den Wahrheiten überzeugen, die er in Lys erfahren hatte, aber wie konnte er ihnen etwas wirklich begreiflich machen, das sie weder gesehen hatten noch sich vorstellen konnten?

„Ich halte es für eine Tragödie“, sagte er, „daß die beiden überlebenden Zweige der Menschheit voneinander getrennt sind. Eines Tages werden wir vielleicht wissen, warum es dazu kommen mußte, aber jetzt ist es richtiger, diesen Riß zu kitten und zu verhindern, daß es noch einmal geschieht. Als ich in Lys war, wandte ich mich gegen die dortige Einstellung, man sei uns überlegen; wir können sicher viel von ihnen lernen, sie aber auch von uns. Wenn wir beide glauben, nichts voneinander lernen zu können, wird da nicht deutlich, daß wir uns beide irren?“

Er sah erwartungsvoll auf die Reihe der Gesichter und fühlte sich ermutigt fortzufahren.

„Unsere Vorfahren“, erklärte er, „errichteten ein Imperium, das bis zu den Sternen reichte. Die Menschen verkehrten nach Belieben zwischen diesen Welten — und jetzt wagen sich ihre Nachkömmlinge nicht über die Mauern ihrer Stadt hinaus. Soll ich Ihnen sagen, warum?“ Er legte eine Pause ein; im großen Saal war es totenstill.

„Weil wir Angst haben — Angst vor einem Ereignis der Geschichte. In Lys erfuhr ich die Wahrheit, wenn ich sie auch längst vermutet hatte. Müssen wir uns immer wie Feiglinge in Diaspar verbergen, müssen wir heucheln, daß sonst nichts existiert — weil uns vor einer Milliarde von Jahren die Invasoren zur Erde zurückgetrieben haben?“

Er hatte den Finger auf ihre geheime Furcht gelegt — die Furcht, die er nie geteilt hatte und deren Macht er daher nie ganz verstehen konnte.

Nun sollten sie tun, was sie für richtig hielten, er hatte die Wahrheit dargelegt, wie er sie sah.

Der Präsident sah ihn ernst an.

„Haben Sie noch etwas zu sagen“, fragte er, „bevor wir beschließen, was zu tun ist?“

„Nur noch eines. Ich möchte diesen Roboter zum Zentralgehirn bringen.“

„Aber warum? Sie wissen, daß das Zentralgehirn alles wahrgenommen hat, was in diesem Raum vor sich ging.“

„Ich möchte trotzdem hingehen“, erwiderte Alvin höflich, aber hartnäkkig. „Ich ersuche um Genehmigung durch Rat und Zentralgehirn.“

Ehe der Präsident antworten konnte, tönte eine klare, ruhige Stimme durch den Saal. Alvin hatte sie noch nie gehört, aber er wußte, wer da sprach. Die Auskunftsmaschinen, die nur kleine Teilchen dieser großen Intelligenz waren, konnten zu den Menschen sprechen — aber sie besaßen nicht diesen unverwechselbaren Klang von Weisheit und Autorität.

„Er kann zu mir kommen“, sagte das Zentralgehirn.

Alvin sah den Präsidenten an. Es sprach für ihn, daß er seinen Sieg nicht auszunützen versuchte. Er fragte lediglich: „Erlauben Sie, daß ich gehe?“

Der Präsident sah sich im Ratssaal um, bemerkte keinen Widerspruch und erwiderte etwas hilflos: „Nun gut. Die Wachen werden Sie begleiten und wieder hierherbringen, sobald unsere Diskussion beendet ist.“

Alvin verbeugte sich leicht, die großen Türen weiteten sich, und er verließ langsam den Saal. Jeserac begleitete ihn, und als sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten, sah er seinen Lehrer an.