122179.fb2
Wie würde das sein Leben beeinflussen, — wenn überhaupt? Er wußte es nicht, und Unsicherheit war für Alvin ein völlig neuartiges Gefühl. Vielleicht machte es überhaupt keinen Unterschied; wenn er sich in diesem Leben nicht vollkommen an Diaspar anpaßte, dann im nächsten oder im übernächsten…
Schon als er diesen Gedanken hegte, verwarf er ihn. Diaspar mochte dem Rest der Menschheit genügen, aber nicht ihm. Er bezweifelte nicht, daß man tausend Leben hier verbringen konnte, ohne alle Wunder zu erschöpfen oder Erfahrungen zu sammeln, die sie zu bieten hatte. All diese Dinge konnte er tun — aber wenn nichts mehr zu tun war, würde er niemals zufrieden sein.
Dabei stand er allerdings einem Problem gegenüber. Was gab es darüber hinaus noch zu tun?
Die unbeantwortete Frage riß ihn aus seiner Versunkenheit. Er konnte nicht hierbleiben, solange er in dieser ruhelosen Stimmung war, und es gab nur einen einzigen Platz in der Stadt, wo er seine Gemütsruhe wiederfinden konnte.
Die Wand löste sich teilweise auf, als er durch sie hindurch auf den Korridor trat; ihre polarisierten Moleküle stemmten sich ihm wie schwacher Wind entgegen. Es gab viele Möglichkeiten, mühelos zu seinem Ziel zu gelangen, aber er zog es vor zu gehen. Ein kurzer Durchgang brachte ihn auf eine spiralenförmige Rampe hinaus, die zur Straße führte. Er ließ die fließende Straße unbeachtet und blieb auf dem schmalen Gehsteig — ein exzentrisches Verhalten, da er mehrere Kilometer Weg vor sich hatte. Aber Alvin zog die körperliche Bewegung vor; sie beruhigte ihn. Außerdem gab es so viel zu sehen, daß es schade gewesen wäre, an den neuesten Wundern Diaspars vorüberzueilen, wenn man die Ewigkeit vor sich hatte.
Es war Brauch unter den Künstlern — und zu irgendeiner Zeit einmal war jeder Bewohner Diaspars Künstler —, ihre neuesten Schöpfungen am Rande der fließenden Straße auszustellen, damit die Passanten sie bewundern konnten. Auf diese Weise dauerte es gewöhnlich nur ein paar Tage, bis die gesamte Bevölkerung jedes beachtenswerte Erzeugnis kritisch geprüft und auch ihrer Meinung entsprechenden Ausdruck verliehen hatte. Das sich daraus insgesamt ergebende Urteil, automatisch von Meinungsforschungsgeräten aufgezeichnet, die bisher noch niemand übertölpeln konnte — an Versuchen dazu hatte es nicht gefehlt —, entschied das Schicksal des Meisterwerks. Wenn die positiven Stimmen in der Mehrzahl waren, ging das Modell in das Gedächtnis der Stadt über, so daß jedermann in Zukunft eine vom Original nicht zu unterscheidende Reproduktion besitzen konnte, wenn sein Sinn danach stand.
Die weniger erfolgreichen Werke gingen den üblichen Weg solcher Erzeugnisse. Sie wurden entweder in ihre ursprünglichen Bestandteile aufgelöst oder wanderten in die Häuser der Freunde des Künstlers.
Alvin sah auf dem Weg nur ein Kunstwerk, das ihn ansprach. Es war eine Schöpfung aus reinem Licht, die verschwommen an eine aufblühende Blume erinnerte. Langsam aus einem winzigen Farbenkern wachsend, weitete sie sich zu komplizierten Spiralen und Schleiern, sank plötzlich in sich zusammen und begann von neuem. Aber kein Muster glich dem vorhergegangenen. Obwohl Alvin längere Zeit zusah, waren jedesmal feine, undefinierbare Unterschiede zu sehen, blieb auch das Grundmuster immer das gleiche.
Er wußte, warum ihm dieses Werk unberührbarer Skulptur gefiel. Sein pulsierender Rhythmus vermittelte einen Ausdruck von Weite — sogar von Flucht. Aus diesem Grund gerade würde es vielen Mitbürgern Alvins mißfallen. Er notierte sich den Namen des Künstlers und beschloß, ihn bei nächster Gelegenheit aufzusuchen.
Alle Straßen, die fließenden wie die unbeweglichen, endeten, wenn sie den Park, das grüne Herz der Stadt, erreichten. Hier, in einem kreisrunden Platz von fünf Kilometern Durchmesser, befand sich die einzige Erinnerung an das Bild der Erde, ehe die Wüste mit Ausnahme Diaspars alles verschluckt hatte. Ein weiter Rasengürtel, dann niedrige Bäume, die immer dichter wurden, wenn man unter ihrem Schatten vorwärtsschritt.
Dabei neigte sich der Boden sanft nach unten, so daß nach dem Verlassen des schmalen Waldes von der Stadt nichts mehr zu sehen war.
Der breite Strom, der vor Alvin dahinglitt, hieß einfach Der Fluß. Er besaß und brauchte keinen anderen Namen. In regelmäßigen Abständen schwangen sich Brücken über ihn, und er floß in einem vollständigen, in sich geschlossenen Kreis um den Park, nur von gelegentlichen Lagunen unterbrochen. Daß ein schnell strömender Fluß nach einem Weg von zehn Kilometern in sich selbst zurückkehren konnte, war Alvin nie als ungewöhnlich erschienen; in der Tat hätte er sich nicht einmal gewundert, wenn der Fluß an irgendeiner Stelle seines Kreislaufs bergauf geströmt wäre. In Diaspar gab es viel seltsamere Dinge.
In einer der kleinen Lagunen schwamm eine Gruppe junger Leute, und Alvin blieb stehen, um ihnen zuzuschauen. Er kannte die meisten vom Sehen, wenn nicht sogar beim Namen, und fühlte sich einen Augenblick versucht, mit ihnen zu spielen. Dann aber dachte er an sein Geheimnis; er entschied sich dagegen und für die Rolle des Zuschauers.
Körperlich gesehen, gab es keine Möglichkeit zu entscheiden, welcher dieser jungen Bürger in diesem Jahr aus der Halle der Schöpfung getreten war und welcher schon so lange in Diaspar lebte wie Alvin. Obwohl beträchtliche Unterschiede in Größe und Gewicht bestanden, hatten sie mit dem Alter nichts zu tun. Die Menschen wurden einfach so geboren und, obwohl in der Regel die Größe eines Menschen seinem Alter entsprach, konnte man diese Richtschnur doch nur dann anwenden, wenn man in Jahrhunderten rechnete.
Das Gesicht war ein besserer Hinweis. Einige der Neugeborenen überragten zwar Alvin, aber sie hatten einen Ausdruck der Unreife, ein verwundertes Staunen über die Welt, in die sie sich plötzlich gestellt sahen, an dem man sie sofort erkannte. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß in ihren Gehirnen, noch unberührt, unendlich viele Erinnerungen schlummerten und bald in ihr Bewußtsein treten würden. Alvin wußte nicht, ob er sie beneiden sollte. Die erste Erfahrung war ein köstliches, unwiederholbares Geschenk. Es war wunderbar, das Leben zum erstenmal zu betrachten wie in der frischen Morgendämmerung. Wenn es nur noch andere wie ihn gäbe, mit denen er seine Gedanken und Gefühle teilen könnte…
Aber physisch bestand ein Unterschied zwischen ihm und den spielenden Kindern. Der menschliche Körper hatte sich in der Milliarde von Jahren seit der Gründung der Stadt nicht verändert. Ein beträchtlicher Unterschied bestand jedoch gegenüber der ursprünglichen, primitiven Form, obwohl die meisten Veränderungen dem Auge nicht sichtbar waren. Der Mensch hatte sich in seiner langen Geschichte viele Male angepaßt, um die Krankheiten zu überwinden, die einst des Fleisches Erbteil gewesen waren.
So unnötiges Zubehör wie Nägel und Zähne war verschwunden. Das Haar beschränkte sich auf den Kopf; auf dem Körper war keine Spur davon verblieben. Das Merkmal aber, das einen Menschen der frühen Zeitalter am meisten überrascht hätte, war vielleicht das Verschwinden des Nabels. Seine unerklärliche Abwesenheit hätte ihm reichlich Nahrung zum Nachdenken gegeben.
Alvin verließ seine verspielten Genossen und setzte seinen Weg zum Mittelpunkt des Parks fort. Hier gab es wenig betretene Pfade, die sich zwischen niedrigem Gebüsch kreuzten und gelegentlich in schmale Hohlwege zwischen moosbedeckten Felsblöcken hinabtauchten. Einmal kam er an einer kleinen, vielflächigen Maschine vorbei, die nicht größer als der Kopf eines Mannes war und zwischen den Zweigen eines Baumes schwebte. Niemand wußte, wie viele verschiedene Arten von Robotern es in Diaspar gab; sie hielten sich abseits und kümmerten sich so ausschließlich um ihre Arbeit, daß es als äußerst ungewöhnlich gelten konnte, einem von ihnen zu begegnen.
Kurz darauf begann der Boden wieder anzusteigen; Alvin näherte sich dem kleinen Hügel, der sich genau im Mittelpunkt des Parks und damit auch der Stadt erhob. Hier gab es weniger Hindernisse und Umwege, und er hatte klare Sicht auf den Gipfel des Hügels und das schlichte Gebäude darauf. Als er sein Ziel erreicht, hatte, war er etwas außer Atem; er lehnte sich an eine der rosig getönten Säulen und blickte auf den Weg zurück, den er gekommen war.
Es gibt gewisse Formen der Architektur, die sich niemals verändern können, weil sie Vollkommenheit erreicht haben. Das Grabmal Yarlan Zeys hätte von den Tempelbauern der ersten menschlichen Kulturen entworfen sein können, obwohl sie wohl kaum begriffen hätten, aus welchem Material es hergestellt war. Zum Himmel hin öffnete sich das Bauwerk; der Innenraum war mit großen Blöcken gepflastert, die nur auf den ersten Blick wie Naturstein aussahen. Seit geologischen Zeitaltern hatten menschliche Füße diesen Boden betreten, immer wieder betreten, ohne die geringste Spur der Abnützung zu hinterlassen.
Der Schöpfer des großen Parks — manche meinten sogar, es sei der Gründer Diaspars — saß mit halb niedergeschlagenen Augen da, als prüfe er die auf seinen Knien ausgebreiteten Pläne. Sein Gesicht zeigte diesen eigenartigen, schwer zu fassenden Ausdruck, der die Welt seit so vielen Generationen verwirrte. Einige hatten ihn als bloße Laune des Künstlers abgetan, aber anderen schien es, als lächle Yarlan Zey über einen verborgenen Scherz.
Das ganze Gebäude war ein Rätsel, denn in den geschichtlichen Aufzeichnungen der Stadt fand sich darauf nicht der geringste Hinweis. Alvin wußte nicht einmal genau, was das Wort Grabmal bedeutete; wahrscheinlich konnte es ihm Jeserac sagen, der gerne veraltete Wörter sammelte und damit zur Verwirrung der Zuhörer seine Gespräche würzte.
Von seinem Platz aus konnte Alvin weit über den Park, über die Bäume hinaus, bis zur Stadt sehen. Die nächstgelegenen Gebäude, fast drei Kilometer entfernt, bildeten einen niedrigen Gürtel, der den Park völlig umschloß. Jenseits der Häuser erhoben sich, stufenweise übereinandergereiht, die Türme und Terrassen der Stadt. Sie erstreckten sich Kilometer um Kilometer dahin, kletterten langsam zum Himmel empor, wurden immer komplizierter und eindrucksvoller. Diaspar war als Einheit geplant, als eine einzige, mächtige Maschine. Und obwohl ihre äußere Erscheinung in ihrer Vielfalt beinahe überwältigte, deutete sie die verborgenen Wunder der Technik nur an, ohne die diese großen Gebäude leblose Grabstätten gewesen wären.
Alvin starrte hinaus, bis zur Begrenzung seiner Welt. Fünfzehn, zwanzig Kilometer entfernt, alle Einzelheiten durch die Entfernung ausgelöscht, lagen die Außenwälle der Stadt, auf denen das Dach des Himmels zu ruhen schien. Jenseits von ihnen lag nichts — nichts als die schmerzende Leere der Wüste, in der ein Mensch dem Irrsinn verfallen würde.
Warum also rief ihn diese Leere, wie sie keinen anderen rief, den er kannte? Alvin wußte es nicht. Er starrte hinaus, über die farbigen Türme und Befestigungen, die jetzt den ganzen Besitz der Menschheit eingeschlossen, als suche er eine Antwort auf seine Frage.
Er fand sie nicht. Aber in diesem Augenblick, als sich sein Herz nach dem Unerreichbaren sehnte, traf er seine Entscheidung. Er wußte jetzt, was er mit seinem Leben anfangen würde.
Jeserac war nicht sehr hilfsbereit, wenn er sich auch nicht so ablehnend verhielt, wie es Alvin erwartet hatte. In seiner langen Laufbahn als Berater waren ihm oft solche Fragen gestellt worden, und er glaubte nicht, daß ihm selbst ein Einzigartiger wie Alvin große Überraschungen bereiten oder unlösbare Probleme vorsetzen konnte.
Es war richtig, daß Alvins Benehmen gewisse merkwürdige Züge aufzuweisen begann, die vielleicht eines Tages der Korrektur bedurften. Er nahm nicht in vollem Umfang an dem vielfältigen Gesellschaftsleben der Stadt oder an den Phantasiewelten seiner Kameraden teil. Er zeigte kein Interesse für die höheren Gebiete des Denkens, obwohl das bei seinem Alter kaum überraschen durfte. Auch in Herzensdingen schien es, daß Alvin, wie überall, nach einem Ziele suchte, das ihm Diaspar nicht geben konnte.
Keine dieser Tatsachen beunruhigte Jeserac. Bei einem Einzigartigen mußte man sich auf ein derartiges Benehmen gefaßt machen, und Alvin würde sich zur rechten Zeit an das normale Leben der Stadt anpassen.
Keine Einzelpersönlichkeit, gleichgültig wie exzentrisch und brillant sie sein mochte, konnte die gewaltige Trägheit einer Gesellschaft, die sich praktisch über eine Milliarde Jahre unverändert erhalten hatte, wesentlich beeinflussen. Jeserac glaubte nicht nur an die Stabilität, er konnte sich nichts anderes vorstellen.
„Das Problem, mit dem du dich herumschlägst, ist schon sehr alt“, sagte er zu Alvin, „aber du wirst staunen, wie viele Menschen die Welt als so selbstverständlich ansehen, daß sie sich nie darüber Gedanken machen.
Es stimmt, daß die Menschheit einst einen unendlich größeren Raum als diese Stadt hier bewohnte. Du hast gesehen, wie die Erde aussah, bevor die Wüste kam und die Meere verschwanden. Die Aufzeichnungen, in die du dich so gerne versenkst, sind die ältesten, die wir überhaupt besitzen; sie sind die einzigen, auf denen die Erde so zu sehen ist, wie sie vor dem Auftreten der Invasoren war. Ich glaube nicht, daß das schon viele Bewohner der Stadt gesehen haben; wir ertragen solche grenzenlosen, offenen Landschaften nicht.
Und selbst die Erde war natürlich im Galaktischen Imperium nur ein Sandkorn. Wie die Abgründe zwischen den Sternen ausgesehen haben mögen, das ist ein Alptraum, den sich kein geistig normaler Mensch auch nur vorzustellen wagt. Unsere Vorfahren überquerten sie in der Morgendämmerung der Geschichte, als sie hinausflogen, um das Imperium aufzubauen. Sie überquerten sie wieder, zum letztenmal, als die Invasoren sie auf die Erde zurücktrieben.
Die Legende sagt — und es ist nur eine Legende —, daß wir mit den Invasoren einen Pakt schlossen. Sie sollten das Universum haben, wenn sie es so dringend brauchten, und wir würden uns mit der Welt zufriedengeben, auf der wir geboren waren.
Wir haben uns an diesen Pakt gehalten und die eitlen Träume unserer Kindheit vergessen, wie auch du sie vergessen wirst, Alvin. Die Menschen, die diese Stadt erbauten und die dazu passende Gesellschaft entwarfen, beherrschten den Geist ebenso wie die Materie. Sie legten alles, was die Menschheit jemals brauchen würde, in, diese Mauern und sorgten dafür, daß wir sie niemals verlassen würden.
Oh, die körperlichen Hindernisse spielen die unbedeutendste Rolle. Vielleicht gibt es Wege, die aus der Stadt herausführen, aber ich glaube nicht, daß du weit gehen würdest, selbst wenn du sie fändest. Und wenn es dir tatsächlich gelänge: Was hättest du davon? Dein Körper würde es in der Wüste nicht lange aushalten, wenn ihn die Stadt nicht mehr schützen und ernähren könnte.“
„Wenn es tatsächlich einen Weg aus der Stadt gibt“, sagte Alvin langsam, „was kann mich daran hindern, sie zu verlassen?“
„Das ist eine unsinnige Frage“, erwiderte Jeserac. „Ich glaube, du kennst die Antwort schon.“
Jeserac hatte recht, aber nicht so, wie er sich vorstellte. Alvin wußte es oder vielmehr, er hatte es erraten. Seine Kameraden hatten ihm die Antwort gegeben, sowohl in ihrem Wachleben als auch in den Traumabenteuern. Sie würden nie in der Lage sein, Diaspar zu verlassen; was Jeserac nicht wußte, war jedoch dies: Der Zwang, der ihr Leben regierte, besaß keine Macht über Alvin. Ob seine Einzigartigkeit auf Zufall oder auf einem uralten Plan beruhte, wußte er nicht, aber an diesem Ergebnis war nicht zu rütteln.
Niemand in Diaspar hatte es eilig, und Alvin brach diese Regel selten. Er überdachte das Problem mehrere Wochen von allen Seiten und verbrachte viel Zeit damit, die ältesten Geschichtserinnerungen der Stadt zu studieren. Stundenlang lag er in den unsichtbaren Armen eines Anti-Schwerkraft-Feldes und ließ sich vom Hypnon-Projektor die Vergangenheit zeigen. Wenn die Aufzeichnung abgelaufen war, verschwand die Maschine — aber Alvin starrte noch lange Zeit ins Leere, ehe er durch die Zeiten hindurch zur Wirklichkeit zurückkehrte. Vor sich sah er die endlosen Meilen blauen Wassers, das seine Wellen gegen den goldenen Strand auflaufen ließ. In seinen Ohren dröhnte das Rauschen der Brecher, die seit tausend Millionen Jahren verstummt waren. Er dachte an die Wälder und Prärien und an die seltsamen Tiere, die einst die Welt mit dem Menschen geteilt hatten.
Von diesen alten Aufzeichnungen gab es nur noch sehr wenige; man nahm allgemein an, obwohl niemand wußte, warum, daß irgendwann zwischen dem Auftreten der Invasoren und der Gründung Diaspars alle Erinnerungen an die primitiven Zeiten verlorengegangen waren. Diese Auslöschung war so vollkommen, daß man kaum an das blinde Walten des Zufalls glauben konnte. Die Menschheit hatte ihre Vergangenheit verloren, abgesehen von ein paar Chroniken, die ebensogut völlig erdichtet sein konnten. Vor Diaspar gab es einfach nur das Zeitalter der Morgendämmerung. In dieser Leere waren unentwirrbar die ersten Menschen, die das Feuer bezwungen hatten, mit den ersten Menschen vermischt, die Atomenergie freisetzten — die ersten Menschen, die ein Baumkanu schnitzten, und die ersten Menschen, die den Weltraum erschlossen. Auf der anderen Seite dieser Zeitwüste waren sie alle Nachbarn.
Alvin hatte beabsichtigt, sein Vorhaben allein auszuführen, aber Einsamkeit war in Diaspar nicht immer leicht zu erreichen. Er hatte kaum sein Zimmer verlassen, als er auf Alystra stieß, die gar nicht den Versuch machte, ihre Gegenwart als Zufall hinzustellen.
Es kam Alvin nie zum Bewußtsein, daß Alystra schön war, weil er nie menschliche Häßlichkeit gesehen hatte. Wenn die Schönheit allgemein ist, verliert sie ihre Macht, die Herzen zu rühren, und nur ihre Abwesenheit kann eine gefühlsmäßige Wirkung auslösen.
Einen Augenblick war Alvin von dem Zusammentreffen unangenehm berührt. Er war noch zu jung und besaß zuviel Selbstvertrauen, um einer dauernden Verbindung zu bedürfen. Trotz seines voll ausgeformten Körpers war er noch ein Kind und würde es für Jahrzehnte bleiben, während seine Kameraden nach und nach die Erinnerung an ihre früheren Lebensperioden wiedergewinnen und ihn weit hinter sich lassen würden. Er hatte gesehen, wie das zuging, und es hielt ihn davon ab, sich uneingeschränkt an einen anderen Menschen anzuschließen. Selbst Alystra, die jetzt so naiv und ungekünstelt schien, würde bald ein Komplex aus Erinnerungen und Talenten jenseits seiner Vorstellungskraft sein.
Sein Ärger verrauchte sofort. Warum sollte ihn Alystra nicht begleiten, wenn sie es wünschte? Er war nicht selbstsüchtig und wollte seine neue Erfahrung nicht wie ein Geizhals für sich behalten. Vielleicht konnte er sogar von ihr lernen.
Als sie der Expreßkanal aus der überfüllten Stadtmitte trug, stellte sie erstaunlicherweise keine Fragen. Gemeinsam arbeiteten sie sich zur Schnellstraße durch, ohne dem Wunder zu ihren Füßen einen Blick zu schenken. Ein Techniker der alten Welt wäre bei dem Versuch zu begreifen, wie eine anscheinend feste Straße an den Seiten starr bleiben konnte, während sie sich in der Mitte mit ständig steigender Geschwindigkeit dahinbewegte, an den Rand des Wahnsinns geraten. Aber Alvin und Alystra schien es ganz natürlich, daß es Materienarten gab, die in der einen Richtung die Eigenschaften fester, in der anderen dagegen die flüssiger Stoffe aufwiesen.
Ringsherum stiegen die Gebäude höher und höher, als verstärke die Stadt ihre Befestigungen gegen die Außenwelt. Wie merkwürdig wäre es, dachte Alvin, wenn diese hochragenden Mauern durchsichtig wie Glas würden und man das Leben hinter ihnen beobachten könnte. Überall um ihn herum lebten Freunde, die er kannte, Freunde, die er eines Tages kennen, und Freunde, die er niemals treffen würde — obwohl sie nur sehr wenige sein würden, weil er im Laufe seines Lebens nahezu alle Menschen in Diaspar kennenlernen konnte. Die meisten würden jetzt in ihren einzelnen Räumen sitzen, aber sie würden nicht allein sein. Sie langweilten sich nicht, weil sie zu all dem Zugang hatten, das in den Bereichen der Phantasie und Wirklichkeit seit der Gründung der Stadt geschehen war. Für Menschen mit dieser geistigen Einstellung war das ein völlig befriedigendes Dasein. Daß es auch ein völlig nutzloses war, begriff noch nicht einmal Alvin.
Während sich Alvin und Alystra von der Stadtmitte entfernten, nahm die Anzahl der Leute in den Straßen langsam ab, und als sie vor einer glatten Plattform grellfarbigen Marmors zum Stehen kamen, war niemand mehr zu sehen. Sie traten über den erstarrten Materiestrudel, von dem aus die Substanz der fließenden Straße zu ihrem Ursprung zurückkehrte, und standen vor einer mit hellerleuchteten Tunnels durchlöcherten Mauer. Alvin betrat ohne Zögern eine der Öffnungen, Alystra dicht hinter ihm.
Das Kraftfeld umschloß sie sofort und transportierte sie vorwärts, während sie sich bequem zurücklegten und ihre Umgebung betrachteten. Es schien kaum möglich, daß sie sich in einem Tunnel tief unter dem Boden befanden. Über ihnen schien der Himmel den Winden offen. Ringsumher schimmerten die Türme der Stadt im Sonnenlicht. Das war nicht die Stadt, die Alvin kannte, sondern das Diaspar eines viel früheren Zeitalters. Obwohl ihm die meisten großen Gebäude vertraut waren, gab es feine Unterschiede. Alvin hätte sich gerne länger aufgehalten, aber er konnte die Fortbewegung durch den Tunnel nicht stoppen.