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Welch ironische Situation: Er, der die Stadt verlassen hatte, um zu den Sternen zu fliegen, kam nun nach Hause wie ein geängstigtes Kind zu seiner Mutter.
Diaspar war nicht besonders erfreut, Alvin wiederzusehen. Die Stadt befand sich noch in Aufruhr, wie ein riesiger Bienenstock, den man mit einem Stecken aufgerührt hat. Sie sah der Realität immer noch widerwillig ins Auge; die Menschen, die sich weigerten, die Existenz von Lys und der Außenwelt anzuerkennen, konnten sich nirgends mehr verbergen.
Die Gedächtnisanlagen nahmen sie nicht mehr auf; sie gingen vergebens zur Halle der Schöpfung. Niemand konnte mehr hunderttausend Jahre schlafen; das Zentralgehirn beachtete weder die Bitten, noch gab es eine Erklärung für sein Verhalten.
Die verhinderten Flüchtlinge mußten traurig in die Stadt zurück und die Probleme ihrer eigenen Zeit bewältigen.
Alvin landete am Parkrand, nicht weit von der Ratshalle entfernt. Bis zum letzten Augenblick war er nicht sicher, ob er das Schiff in die Stadt bringen konnte, durch alle Abschirmungen hindurch, die ihren Himmel von der Außenwelt abschlossen. Das Firmament von Diaspar war, wie alles andere auch, künstlich, wenigstens zum Teil. Die Nacht, mit ihren sternenhaften Erinnerungen an all das, was der Mensch verloren hatte, durfte nie über die Stadt niedersinken; Diaspar war auch vor den Stürmen geschützt, die manchmal über die Wüste tobten.
Die unsichtbaren Wächter ließen Alvin durch, und als Diaspar unter ihm ausgebreitet lag, wußte er, daß er heimgekehrt war. So stark ihn auch das Universum und seine Geheimnisse riefen, hier war er geboren, und hier gehörte er hin. Es würde ihn nie befriedigen, aber er würde immer wieder zurückkommen. Um diese einfache Wahrheit begreifen zu können, hatte er das halbe All durchquert.
Die Menschenmenge versammelte sich, noch ehe das Schiff landete, und Alvin fragte sich, wie ihn seine Mitbürger wohl empfangen würden.
Er konnte ihre Mienen deutlich erkennen, als er sie durch den Bildschirm betrachtete, bevor er die Luftschleuse öffnete. Die beherrschende Empfindung schien Neugier zu sein — an. sich schon etwas Neues in Diaspar.
Daneben fand sich noch Besorgnis, hier und da sogar Furcht. Nicht einer, dachte Alvin, schien sich zu freuen, daß er zurückgekommen war…
Der Rat dagegen begrüßte ihn ausgesprochen liebenswürdig — wenn auch nicht aus reiner Freundschaft. Obwohl er diese Krise heraufbeschworen hatte, konnte er allein die Tatsache mitteilen, auf die sich eine künftige Politik stützen mußte. Man lauschte ihm mit großer Aufmerksamkeit, als er seinen Flug zu den Sieben Sonnen und sein Zusammentreffen mit Vanamonde beschrieb. Anschließend beantwortete er zahllose Fragen mit einer Geduld, die seine Partner überraschte. Ihre Gedanken wurden, wie er schnell herausfand, immer noch von der Furcht vor den Invasoren beherrscht, obwohl sie diesen Namen nie erwähnten und sichtlich unglücklich waren, als er dieses Thema direkt ansprach.
„Wenn sich die Invasoren noch in diesem Universum aufhalten“, erklärte er dem Rat, „dann müßte ich gewiß in seinem Mittelpunkt auf sie gestoßen sein. Aber auf den Planeten der Sieben Sonnen existiert kein intelligentes Leben; das hatten wir bereits vermutet, als es uns Vanamonde bestätigte. Ich glaube, daß die Invasoren schon vor sehr, sehr langer Zeit abgezogen sind; jedenfalls weiß Vanamonde, der mindestens so alt wie Diaspar ist, nichts von ihnen.“
„Ich möchte Folgendes zu bedenken geben“, sagte einer der Räte plötzlich. „Vielleicht ist Vanamonde ein Abkömmling der Invasoren, in einer Form, die wir gegenwärtig nicht begreifen. Er hat seine Herkunft vergessen, aber das bedeutet nicht, daß er nicht doch eines Tages wieder gefährlich werden könnte.“
Hilvar, der nur als Zuschauer anwesend war, wartete nicht auf eine Worterteilung. Zum erstenmal sah ihn Alvin zornig.
„Vanamonde hat in meinen Verstand gesehen“, sagte er, „und ich habe einen flüchtigen Blick auf seinen Geist werfen können. Meine Leute haben schon viel über ihn erfahren, obwohl sie noch nicht wissen, was er ist. Aber eines steht fest — er ist gutgesinnt und war froh, uns zu finden.
Wir haben nichts von ihm zu fürchten.“
Nach diesem Ausspruch herrschte Schweigen, und Hilvar setzte sich mit einem etwas verlegenen Ausdruck. Von da an verminderte sich die Spannung im Ratssaal beträchtlich, als sei ein drohendes Gewölk abgezogen. Jedenfalls machte auch der Präsident keinen Versuch, Hilvar zur Ordnung zu rufen.
Alvin bemerkte deutlich, daß sich der Rat aus drei verschieden eingestellten Gruppen zusammensetzte. Die Konservativen, die sich in der Minderheit befanden, hofften immer noch, die Zeit zurückdrehen und die alte Ordnung wiederherstellen zu können. Gegen alle Vernunft klammerten sie sich an den Gedanken, man könne Lys und Diaspar dazu bringen, alles wieder zu vergessen.
Die Fortschrittlichen bildeten eine ebenso kleine Minderheit; die Tatsache, daß es sie im Rat überhaupt gab, überraschte und freute Alvin ganz besonders. Sie begrüßten diesen Einbruch der Außenwelt nicht gerade, aber sie waren entschlossen, das Beste daraus zu machen. Einige von ihnen gingen sogar so weit, darauf hinzuweisen, daß eine Beseitigung der psychologischen Schranken möglich sein müsse, die Diaspar noch wirksamer als die physischen Hindernisse abgeschlossen hatten.
Die Mehrheit des Rates, in der sich die Meinung der Stadt widerspiegelte, nahm eine Haltung wachsamer Vorsicht ein, während sie das Auftauchen einer Struktur der Zukunft abwarteten. Sie begriffen, daß sie weder große Pläne machen noch eine bestimmte Politik verfolgen konnten, bis der Sturm vorübergezogen war.
Nach der Sitzung gesellte sich Jeserac zu Alvin und Hilvar. Er schien sich verändert zu haben, seit sie im Turm von Loranne Abschied genommen hatten. Jeserac schien jünger, als hätten die Flammen des Lebens neue Nahrung gefunden. Trotz seines Alters gehörte er zu jenen, die sich der von Alvin nach Diaspar gebrachten Herausforderung stellen konnten.
„Ich habe Neuigkeiten für dich, Alvin“, sagte er. „Du kennst doch Senator Gerane.“
Alvin dachte einen Augenblick nach; dann fiel es ihm ein.
„Natürlich — er war einer der ersten, die ich in Lys kennenlernte. Ist er nicht Mitglied Ihrer Delegation?“
„Ja. Wir haben uns ziemlich gut kennengelernt. Er ist ein glänzend begabter Mann und versteht mehr vom menschlichen Geist, als ich für möglich gehalten hätte — obwohl er mir erklärt hat, nach den Maßstäben von Lys sei er noch Anfänger. Während er sich hier aufhält, beginnt er ein Projekt, das dir sehr entsprechen wird. Er hofft, die Zwangsvorstellung analysieren zu können, die uns in der Stadt hält, und er glaubt, daß er sie beseitigen kann, sobald er festgestellt hat, wie sie uns eingepflanzt wurde. Etwa zwanzig Leute von uns arbeiten bereits mit ihm zusammen.“
„Und du gehörst zu ihnen?“
„Ja“, erwiderte Jeserac, beinahe etwas verschämt. „Es ist nicht leicht und gewiß nicht angenehm — aber es ist reizvoll.“
„Wie geht Gerane vor?“
„Er arbeitet mit den Abenteuern. Er hat sich eine ganze Reihe vorführen lassen und beobachtet unsere Reaktion, wenn wir sie durchleben. Ich hätte nicht gedacht, daß ich in meinem Alter noch einmal zu meinen kindlichen Vergnügen zurückkehren würde!“
„Was sind Abenteuer?“ fragte Hilvar.
„Eingebildete Traumwelten“, erklärte Alvin. „Das heißt, die meisten sind eingebildet, obwohl einige auf historischen Tatsachen beruhen dürften.
In den Gedächtniszellen der Stadt sind Millionen davon aufgezeichnet; man kann jede Art von Abenteuer oder Erfahrung auswählen, und sie erscheinen einem völlig wirklich, solange die entsprechenden Impulse in das Gehirn dringen.“ Er wandte sich an Jeserac.
„In welche Abenteuer führt euch Gerane?“
„Die meisten behandeln, wie sich denken läßt, das Verlassen Diaspars.
Einige Abenteuer haben uns in unsere frühesten Lebensperioden zurückgeführt, so nahe an die Gründung der Stadt wie nur möglich. Gerane glaubt, je näher er dem Ursprung dieser Zwangsvorstellung kommt, desto leichter wird es ihm gelingen, sie zu beseitigen.“
Alvin fühlte sich durch diese Nachricht sehr ermutigt. Sein Werk wäre nur halb getan, wenn er die Tore nach Diaspar aufgestoßen hätte — nur um festzustellen, daß niemand durchging.
„Wollen Sie wirklich Diaspar verlassen können?“ fragte Hilvar scharfsinnig.
„Nein“, antwortete Jeserac ohne Zögern. „Ich finde den Gedanken entsetzlich. Aber ich habe begriffen, daß unsere bisherige Anschauung völlig falsch war, und die Logik sagt mir, daß man etwas tun muß, um diesen Fehler wiedergutzumachen. Gefühlsmäßig bin ich immer noch nicht in der Lage, die Stadt zu verlassen; vielleicht wird sich das nie ändern.
Gerane meint, er könne einige von uns dazu bringen, daß wir nach Lys gehen, und ich helfe ihm bei diesem Versuch — obwohl ich mit halbem Herzen hoffe, es möge mißlingen.“
Alvin betrachtete seinen alten Lehrer mit neuem Respekt. Gerane würde seine Aufgabe zum Erfolg führen. Vielleicht war Jeserac schon zu alt, um das Gefüge eines ganzen Lebens durchbrechen zu können, aber er besaß jedenfalls den Willen, von vorne anzufangen. Sobald auch nur ein paar aus dieser Verstrickung entkommen waren, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis alle anderen nachfolgten.
Er fragte sich, was wohl mit Diaspar — und mit Lys — geschehen würde, wenn die Schranken völlig beseitigt waren. Irgendwie mußte man die besten Elemente beider Zivilisationen bewahren und sie in eine neue und gesündere Kultur verschmelzen. Die Aufgabe war entsetzlich schwer und würde alle Geduld und alle Weisheit beider Kulturen verlangen.
Einige Schwierigkeiten der kommenden Anpassung waren bereits aufgetaucht. Die Besucher aus Lys hatten sich, allerdings sehr höflich, geweigert, in den von der Stadt zur Verfügung gestellten Häusern zu wohnen.
Sie hatten ihre eigene Notunterkunft im Park aufgestellt, in einer Umgebung, die sie an Lys erinnerte. Hilvar war die einzige Ausnahme; obwohl er nicht gerne in einem Gebäude mit unbestimmbaren Wänden und vergänglichem Mobiliar wohnte, nahm er Alvins Gastfreundschaft tapfer an, durch die Versicherung beruhigt, er brauche nicht lange hierzubleiben.
Hilvar hatte sich in seinem ganzen Leben nie einsam gefühlt, aber in Diaspar lernte er die Einsamkeit kennen. Die Stadt schien ihm fremder, als Lys es für Alvin gewesen war, und ihre unendliche Kompliziertheit und die vielen Fremden bedrückten ihn schwer. In Lys kannte er jeden Menschen, ob er ihn getroffen hatte oder nicht. In Diaspar konnte er nicht einmal in tausend Leben alle Menschen kennenlernen. Nur seine Treue zu Alvin hielt ihn in einer Welt, die mit der seinigen nichts gemein hatte.
Innerhalb weniger Tage nach seiner Ankunft in Diaspar traf Hilvar mehr Leute als jemals zuvor in seinem ganzen Leben. Traf sie — und lernte praktisch keinen richtig kennen. Weil sie so eng beieinander wohnten, behaupteten die Stadtbewohner eine schwer zu durchdringende Reserve. Die einzige Privatsphäre, die sie kannten, war die des Geistes, und sie klammerten sich daran, auch wenn sie an den zahllosen gesellschaftlichen Ereignissen Diaspars teilnahmen. Hilvar fühlte Mitleid für sie, obwohl er wußte, daß sie dieses Mitleid nicht wollten. Sie wußten nicht, was ihnen entging — sie konnten das warme Gefühl der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit in Lys nicht verstehen. Ja, die meisten Leute, mit denen er sich unterhielt, bemitleideten ihn wegen seines unglaublich langweiligen und trüben Daseins.
Eriston und Etania, Alvins Vormünder, erkannte Hilvar als nette, aber unbedeutende Leute. Mit Verwirrung hörte er Alvin sie Vater und Mutter nennen — Worte, die in Lys ihre alte biologische Bedeutung beibehalten hatten. Man mußte sich ständig vor Augen halten, daß die Gesetze von Leben und Tod von den Gründern Diaspars außer Kraft gesetzt worden waren, und manchmal schien es Hilvar, als sei die Stadt trotz der allgemeinen Geschäftigkeit halb leer, weil es keine Kinder gab.
Er fragte sich, was mit Diaspar geschehen würde, jetzt, da die lange Isolierung zu Ende gegangen war. Das Vernünftigste wäre, entschied er, wenn die Stadt ihre Gedächtnisanlagen zerstören würde. So wunderbar sie auch schienen — als vielleicht höchster Triumph der Wissenschaft —, sie waren doch die Schöpfung einer kranken Kultur, einer ängstlichen Kultur. Eine dieser Ängste beruhte sogar ausschließlich auf Einbildung.
Hilvar kannte einen Teil der Ergebnisse der Erforschung von Vanamondes Geist. In wenigen Tagen würde sie auch Diaspar erfahren — und entdecken, wieviel von seiner Vergangenheit nichts als ein Märchen war.
Wenn jedoch die Gedächtnisanlagen zerstört würden, wäre die Stadt innerhalb von tausend Jahren tot, da ihre Menschen die Kraft, sich fortzupflanzen, verloren hatten. Das war das Dilemma, dem man gegenübertreten mußte, aber Hilvar hatte eine mögliche Lösung erspäht. Für jedes technische Problem gab es eine Lösung, und seine Leute waren Meister in den biologischen Wissenschaften. Was geschehen. war, konnte ungeschehen gemacht werden, wenn Diaspar es wollte.
Zuerst jedoch mußte die Stadt erkennen, was sie verloren hatte. Ihre Erziehung würde viele Jahre in Anspruch nehmen — vielleicht viele Jahrhunderte. Aber ein Anfang war gemacht; sehr bald würde die Wirkung der ersten Lehrstunde Diaspar so gründlich erschüttern wie die erste Berührung mit Lys.