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Wir brauchten einige Zeit für die Lösung dieses Problems, aber die Antwort war eigentlich ganz einfach. Vor langer Zeit besaß unsere Erde einen einzigen, großen Trabanten, den Mond. Als er im Kampf zwischen den Gezeiten und der Schwerkraft schließlich auf die Erde zu stürzen drohte, mußte man ihn zerstören. Dafür wurde Shalmirane gebaut, und um seine Verwendung rankten sich die Legenden, die Sie ja alle kennen.“ Callitrax lächelte ein wenig reumütig.
„Es gibt viele solche Legenden, teils wahre, teils falsche, und andere Paradoxe in unserer Vergangenheit, die noch nicht geklärt wurden. Dieses Problem geht jedoch eher die Psychologen als die Historiker an. Selbst den Aufzeichnungen des Zentralgehirns darf man nicht völlig trauen — sie enthalten deutliche Beweise für Fälschungen in der allerletzten Vergangenheit.
Auf der Erde haben nur Diaspar und Lys die Zeit der Dekadenz überstanden — Diaspar dank der Vollkommenheit seiner Maschinen, Lys wegen seiner Isolierung und der ungewöhnlichen geistigen Kräfte seines Menschen. Aber beide Kulturen, auch als sie sich wieder auf ihr früheres Niveau hochgearbeitet hatten, wurden von den Ängsten und Mythen hin und her gerissen, die sie geerbt hatten.
Von diesen Ängsten brauchen wir uns nicht länger verfolgen zu lassen.
Es ist nicht meine Pflicht als Historiker, die Zukunft vorherzusagen; ich habe nur die Vergangenheit zu studieren und zu deuten. Aber ihre Lehre liegt klar zutage; wir haben zu lange ohne Berührung mit der Wirklichkeit gelebt, und jetzt ist es an der Zeit, unser Leben neu aufzubauen.“
Jeserac wanderte in stillem Staunen durch die Straße eines Diaspar, das er nie gesehen hatte. Es unterschied sich sogar so stark von der Stadt, in der er sein Leben zubrachte, daß er sie nie wiedererkannt hätte. Aber er wußte einfach, daß dies Diaspar war.
Die Straßen waren eng, die Gebäude niedrig — und der Park war verschwunden. Oder vielmehr, es gab ihn noch nicht. Dies war das Diaspar vor dem Wechsel, das Diaspar, das der Welt und dem Universum offenstand. Der Himmel über der Stadt war blaßblau und mit kleinen Wolkenfetzen besetzt, die sich langsam im Wind drehten.
Zwischen diesen Wolken bewegten sich solidere Himmelsreisende. Kilometerhoch über der Straße flogen die Schiffe, die Diaspar mit der Außenwelt verbanden. Jeserac starrte lange auf das Geheimnis und das Wunder des offenen Himmels, und für einen Augenblick streifte die Angst seine Seele. Er fühlte sich nackt und ungeschützt.
Die Angst war nicht stark genug, seinen Willen zu lähmen. In einem Winkel seines Verstandes wußte Jeserac, daß dieses Erlebnis ein Traum war, und ein Traum konnte ihn nicht anmahnen.
Er ging zur Mitte der Stadt, auf jene Stelle zu, an der sich in seiner Zeit das Grabmal Yarlan Zeys befand. Jetzt stand dort kein Grabmal — nur ein niedriges, rundes Gebäude mit vielen Eingängen. An einem dieser Eingänge wartete ein Mann auf ihn.
Jeserac hätte vor Staunen überwältigt sein müssen, aber jetzt konnte ihn nichts mehr überraschen. Irgendwie schien es richtig und natürlich, daß er dem Mann gegenüberstand, der Diaspar erbaut hatte.
„Sie wissen sicher, wer ich bin“, sagte Yarlan Zey.
„Natürlich; ich habe Ihre Statue sehr oft gesehen. Sie sind Yarlan Zey, und das ist Diaspar vor einer Milliarde Jahren. Ich weiß, daß ich träume und daß wir beide nicht wirklich hier sind.“
„Dann brauchen Sie sich vor nichts zu fürchten. Folgen Sie mir und denken Sie daran, daß Ihnen nichts passieren kann; Sie können im Diaspar Ihrer eigenen Zeit aufwachen, wann immer Sie wollen.“
Gehorsam folgte Jeserac Yarlan Zey in das Gebäude. Eine Erinnerung oder das Echo einer Erinnerung warnte ihn vor dem folgenden Geschehen, und er wußte, daß er einst entsetzt davor zurückgewichen wäre.
Aber jetzt spürte er keine Furcht. Er fühlte sich nicht nur vor dem Wissen geschützt, daß diese Erfahrung nicht wirklich war, auch die Gegenwart Yarlan Zeys schien eine Abschirmung gegen alle möglichen Gefahren.
Die Gleittreppen, die in die Tiefe führten, wurden nur von wenigen Menschen benützt, und als sie kurz darauf schweigend neben dem langen, stromlinienförmigen Zylinder standen, der Jeserac aus der Stadt hinausbringen würde, waren sie ganz allein. Als sein Führer auf die offene Tür deutete, zögerte er nur einen Augenblick an der Schwelle. Dann betrat er das Fahrzeug.
„Sehen Sie?“ sagte Yarlan Zey lächelnd. „Entspannen Sie sich und denken Sie daran, daß Sie in Sicherheit sind — daß Ihnen nichts geschehen kann.“
Jeserac glaubte ihm. Er fühlte nur leichte Besorgnis, als der Tunneleingang auf sie zuglitt und die Maschine schneller wurde. Alle Angst war durch den Eifer, mit dieser legendären Gestalt aus der Vergangenheit sprechen zu können, völlig vergessen.
„Finden Sie es nicht seltsam“, begann Yarlan Zey, „daß wir uns in der Erde verkriechen, obwohl uns der Himmel offensteht? Das ist der Anfang jener Krankheit, deren Ende Sie in Ihrer Zeit beobachten können. Die Menschheit versucht sich zu verbergen; sie fürchtet sich vor dem, was da draußen im Weltraum liegt, und bald wird sie alle Türen, die ins All führen, verschlossen haben.“
„Aber ich sah doch Raumschiffe im Himmel über Diaspar“, warf Jeserac ein.
„Sie werden sie nicht mehr lange sehen. Wir haben die Verbindung mit den Sternen verloren, bald werden auch die Planeten verlassen sein. Wir brauchten Jahrmillionen für den Flug in den Weltraum — aber nur ein paar Jahrhunderte, um wieder heimzukommen. Und in nicht allzu ferner Zukunft werden wir auch fast die ganze Erde aufgegeben haben.“
„Warum habt ihr das getan?“ fragte Jeserac. Er kannte die Antwort, aber irgendwie fühlte er sich zu dieser Frage gezwungen.
„Wir brauchten eine Zuflucht, die uns vor zwei Ängsten schützte — der Angst vor dem Tod und der Angst vor dem Weltraum. Wir waren ein krankes Volk und wollten mit dem All nichts mehr zu tun haben — daher taten wir so, als existierte es nicht. Wir hatten das Chaos durch die Sterne wüten sehen und sehnten uns nach Frieden und Sicherheit. Diaspar mußte abgeschlossen werden, damit nichts Neues eintreten konnte.
Wir gestalteten die Stadt, die Sie kennen, und erfanden eine falsche Vergangenheit, um unsere Feigheit zu verbergen. Oh, wir waren nicht die ersten — aber wir machten es als erste gründlich. Und wir veränderten den menschlichen Geist, nahmen ihm den Ehrgeiz und die wilderen Leidenschaften, damit er mit der Welt zufrieden sein sollte, die ihm blieb.
Der Bau der Stadt und ihrer Maschinen nahm tausend Jahre in Anspruch. Sobald jeder von uns seine Arbeit beendet hatte, wurden die Erinnerungen in seinem Gehirn gelöscht, durch die sorgfältig vorbereiteten falschen Erinnerungen ersetzt, und seine Persönlichkeit in den Gedächtnisanlagen gespeichert.
So kam schließlich der Tag, an dem kein einziger Mensch in Diaspar mehr am Leben war; es gab nur das Zentralgehirn, das die Befehle ausführte, die wir ihm gegeben hatten, und die Gedächtnisanlagen kontrollierte, in denen wir schliefen. Es gab keinen Menschen, der irgendeine Berührung mit der Vergangenheit hatte — und an diesem Punkt begann die Geschichte neu.
Dann kamen wir, einer nach dem anderen, in vorherbestimmter Folge aus den Anlagen und wurden wieder zu lebendigen Menschen. Wie eine Maschine, die eben gebaut, zum erstenmal eingesetzt wird, begann Diaspar ihre Pflichten zu erfüllen.
Und doch hatten einige von uns von Anfang an Zweifel. Die Ewigkeit ist eine lange Zeit; wir erkannten die Risiken, die mit dem Mangel eines Ablaßventils und mit der völligen Absperrung vor dem Universum verbunden waren. Wir durften den Wünschen unserer Kultur nicht zuwiderhandeln, also arbeiteten wir im geheimen an den Änderungen, die wir für notwendig hielten.
Die Einzigartigen waren unsere Erfindung. Sie sollten in langen Zeitabständen auftreten und, falls die Umstände das zuließen, feststellen, ob sich außerhalb Diaspars etwas fand, mit dem sich eine Verbindung lohnte. Wir dachten nie, daß es so lange dauern würde und daß der Erfolg schließlich so gewaltig sein könnte.“
Trotz der Ausschaltung der Kritikfähigkeit, der Grundlage jeden Traums, fragte sich Jeserac, wie Yarlan Zey von Dingen sprechen konnte, die eine Jahrmilliarde nach seiner Zeit geschahen. Es war alles sehr verwirrend — er wußte nicht mehr, wo in Raum und Zeit er sich befand.
Die Fahrt näherte sich ihrem Ende. Yarlan Zey begann mit einer Dringlichkeit und einer Autorität zu sprechen, die er vorher nicht gebraucht hatte.
„Die Vergangenheit ist vorbei. Wir haben unsere Arbeit getan, und damit ist sie erledigt. Als Sie geschaffen wurden, Jeserac, bekamen Sie die Furcht vor der Außenwelt und diesen Zwang, in der Stadt bleiben zu müssen, wie alle anderen Bürger der Stadt mit auf den Weg. Sie wissen jetzt, daß diese Furcht grundlos war und daß man sie Ihnen künstlich aufzwang. Ich, Yarlan Zey, der sie Ihnen gegeben hat, befreie Sie nun aus dieser Knechtschaft. Verstehen Sie?“
Bei diesen letzten Worten wurde die Stimme Yarlan Zeys immer lauter, bis sie im ganzen Raum zu hallen schien. Das unterirdische Fahrzeug, indem er dahinglitt, verschwamm und zitterte um Jeserac, als nähere sich der Traum seinem Ende. Als das Bild verblaßte, hörte er jedoch immer noch die gebieterische Stimme: „Du hast keine Angst mehr, Jeserac. Du hast keine Angst mehr.“
Er kämpfte sich ins Bewußtsein hoch, wie ein Taucher von den Ozeantiefen zum Meeresspiegel drängt. Yarlan Zey war verschwunden, aber es gab ein seltsames Zwischenspiel, als Stimmen, die er kannte, aber nicht erkannte, ermunternd auf ihn einsprachen und er sich von freundlichen Händen gestützt fühlte. Dann flutete die Wirklichkeit wie eine schnelle Dämmerung in ihn zurück.
Er öffnete die Augen und sah Alvin, Hilvar und Gerane besorgt neben sich stehen. Aber er achtete nicht auf sie; sein Denken war zu sehr von dem Wunder erfüllt, das jetzt vor ihm ausgebreitet lag — das Panorama aus Wäldern und Flüssen und der blauen Wölbung des offenen Himmels.
Er war in Lys — und er hatte keine Angst.
Niemand störte ihn, als dieser zeitlose Augenblick für die Ewigkeit eine Spur in seiner Seele hinterließ. Schließlich wandte er sich an seine Begleiter.
„Ich danke Ihnen, Gerane“, sagte er. „Ich hätte nie geglaubt, daß es Ihnen gelingen würde.“
Der Psychologe, dem man es ansah, daß er sehr mit sich zufrieden war, bediente verschiedene Hebel an einer kleinen Maschine, die neben ihm in der Luft schwebte.
„Sie haben uns ganz schön erschreckt“, gab er zu. „Ein- oder zweimal fingen Sie mit Fragen an, die nicht logisch zu beantworten waren, und ich fürchtete schon, abbrechen zu müssen.“
„Angenommen, Yarlan Zey hätte mich nicht überzeugt — was hätten Sie dann getan?“
„Wir hätten Sie bewußtlos gehalten und nach Diaspar zurückgebracht.
Dort wären Sie ganz natürlich aufgewacht, ohne je zu wissen, daß Sie in Lys waren.“
„Und dieses Bild von Yarlan Zey — wieviel von dem, was er sagte, entsprach wirklich der Wahrheit?“
„Das meiste, glaube ich. Ich bemühte mich, mein Abenteuer eher überzeugend als historisch genau zu gestalten, aber Callitrax hat es studiert und keinen Fehler gefunden. Es stimmt jedenfalls mit allem überein, was wir von Yarlan Zey und der Entstehung Diaspars wissen.“
„Jetzt können wir die Stadt richtig öffnen“, sagte Alvin. „Es mag noch lange dauern, aber wir werden diese Furcht bannen, damit jeder, der es will, Diaspar verlassen kann.“
„Es wird lange dauern“, erwiderte Gerane trocken. „Und vergessen Sie nicht, daß Lys nicht groß genug ist, um noch einige hundert Millionen Menschen aufzunehmen, wenn sich alle Bewohner Diaspars entschließen wollten, hierherzukommen. Ich halte das nicht für wahrscheinlich, aber möglich ist es immerhin.“
„Dieses Problem wird sich zur gegebenen Zeit selbst lösen“, meinte Alvin. „Lys ist klein, ja, aber die Welt ist weit. Warum sollten wir alles der Wüste überlassen?“