122179.fb2 Die sieben Sonnen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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„Das stimmt“, erwiderte Jeserac. „Ich sehe ihn mehrmals in der Woche — so oft er es wünscht.“

„Und würden Sie sagen, daß er ein befähigter Schüler ist?“

Jeserac überdachte diese Frage; sie war schwer zu beantworten. Die Lehrer — Schüler — Beziehung war ungeheuer wichtig und in der Tat eine der Lebensgrundlagen Diaspars. Im Durchschnitt kamen jedes Jahr zehntausend neue Menschen auf die Welt. Ihre früheren Erinnerungen schlummerten noch, und während der ersten zwanzig Jahre ihres Lebens war für sie alles neu und seltsam. Man mußte sie den Gebrauch der unzähligen Maschinen und Vorrichtungen lehren, die den Alltag beherrschten, und sie mußten sich in der kompliziertesten Gesellschaft bewegen lernen, die der Mensch jemals aufgebaut hatte.

Ein Teil dieser Unterrichtung wurde von den Paaren vermittelt, die als Eltern des neuen Bürgers bestimmt waren. Die Wahl erfolgte durch Auslosung, und die Pflichten waren nicht besonders beschwerlich. Eriston und Etania hatten nur ein Drittel ihrer Zeit auf Alvins Erziehung verwendet und damit alles getan, was man von ihnen erwartete.

Jeseracs Pflichten beschränkten sich auf die mehr förmlichen Aspekte der Erziehung Alvins; es war vorgesehen, daß ihm seine Eltern beibrachten, wie man sich in der Gesellschaft zu benehmen hatte, und daß sie ihn in einen ständig sich erweiternden Freundeskreis einführten. Sie waren für Alvins Charakter verantwortlich, Jeserac dagegen für seinen Verstand.

„Die Antwort darauf fällt mir nicht leicht“, erwiderte Jeserac. „Gewiß ist an Alvins Intelligenz nichts auszusetzen, aber viele Dinge, die ihn beschäftigen sollten, scheinen ihm völlig gleichgültig zu sein. Andererseits zeigt er Dingen gegenüber, die wir üblicherweise nicht diskutieren, eine krankhafte Neugierde.“

„Der Welt außerhalb Diaspars, zum Beispiel?“

„Ja — aber woher wissen Sie das?“

Khedron zögerte einen Augenblick; er fragte sich, wieweit er Jeserac ins Vertrauen ziehen sollte. Er wußte, daß Jeserac freundlich war und gute Absichten hegte, aber er wußte ebensogut, daß er von denselben Tabus geknebelt war, denen alle Menschen in Diaspar unterlagen — alle außer Alvin.

„Ich habe es vermutet“, sagte er schließlich.

Jeserac lehnte sich bequemer in den Sessel, den er eben materialisiert hatte. Hier handelte es sich um eine interessante Situation, die er so gründlich wie möglich studieren wollte. Er konnte jedoch nicht viel erfahren, ehe sich Khedron entschloß mitzuspielen.

Er hätte voraussehen müssen, daß Alvin eines Tages Khedron begegnen würde, und zwar mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Khedron war die einzige andere Person in der Stadt, die man als exzentrisch bezeichnen konnte — und selbst diese Eigenart war von den Gründern Diaspars geplant. Vor langer Zeit hatte man erkannt, daß auch Utopia ohne Verbrechen oder Unordnung unerträglich langweilig wird. Bei Verbrechen konnte man jedoch nach Lage der Dinge nicht garantieren, daß sie auf dem Niveau verblieben, das die gesellschaftlichen Gleichungen, verlangten. Wenn sie genehmigt und geregelt wurden, hörten sie auf, Verbrechen zu sein.

Das Amt des Spaßmachers war die Lösung — auf den ersten Blick eine naive Lösung, in Wirklichkeit äußerst scharfsinnig erdacht —, zu der die Stadtplaner gelangten. In der ganzen Geschichte Diaspars gab es nicht einmal zweihundert Personen, deren geistige Haltung sich für diese Rolle eignete. Sie besaßen gewisse Vorrechte, die sie vor den Folgen ihrer Aktionen schützten, obwohl es auch Spaßmacher gegeben hatte, die ihre Grenze überschritten und dafür die einzige Strafe erhalten hatten, die Diaspar verhängen konnte — die Verbannung in die Zukunft, ehe das gegenwärtige Leben beendet war.

Bei seltenen und unvorhersehbaren Gelegenheiten stellt der Spaßmacher die Stadt durch irgendeinen Streich auf den Kopf, bei dem es sich nur um einen ausgedehnten Scherz oder aber auch um einen berechneten Angriff auf einen behüteten Glauben oder Lebensstil der jeweiligen Gegenwart handeln konnte. Bei Berücksichtigung aller Tatsachen war der Name Spaßmacher berechtigt. Es hatte einmal Männer mit ähnlichen Pflichten und mit denselben Vorrechten gegeben, in jenen Tagen, als es noch Höfe und Könige gab.

„Es ist besser“, sagte Jeserac, „wenn wir offen miteinander reden. Wir wissen beide, daß Alvin einzigartig ist — daß er in Diaspar vor diesem Leben noch nie auf der Welt war. Vielleicht können Sie die Folgerungen besser erkennen als ich. Ich bezweifle, daß in dieser Stadt irgend etwas völlig ohne Vorausplanung geschieht, so daß seinem Auftreten ein Zweck zugrunde liegen muß. Ob er diesen Zweck erreichen kann, weiß ich nicht. Ebensowenig weiß ich, ob er gut oder böse ist. Ich kann mir nicht vorstellen, worin er besteht.“

„Angenommen, er bezieht sich auf etwas außerhalb der Stadt Liegendes?“

Jeserac lächelte geduldig; man durfte dem Spaßmacher seinen kleinen Scherz nicht vergällen.

„Ich habe ihm gesagt, was dort liegt. Er weiß, daß außerhalb Diaspars nichts als Wüste existiert. Führen Sie ihn hinaus, wenn Sie das können; vielleicht wissen Sie einen Weg. Vielleicht wird er kuriert, wenn er die Wirklichkeit vor Augen hat.“

„Ich glaube, er hat sie schon gesehen“, sagte Khedron leise. Aber er sagte es zu sich selbst, nicht zu Jeserac.

„Ich bin der Meinung, daß Alvin nicht glücklich ist“, fuhr Jeserac fort. „Er hat sich nirgends angeschlossen, und das ist wohl auch nicht möglich, solange er unter dieser Besessenheit leidet. Aber schließlich ist er noch sehr jung. Vielleicht wächst er aus diesem Stadium heraus und wird ein normaler Bürger dieser Stadt.“

Jeserac versuchte, sich selbst zu beruhigen; Khedron fragte sich, ob er wirklich glaubte, was er sagte.

„Sagen Sie, Jeserac“, fragte Khedron plötzlich, „weiß Alvin, daß er nicht der erste Einzigartige ist?“

Jeserac starrte Khedron an. „Ich hätte mir denken können“, sagte er bedauernd, „daß Sie das wissen. Wie viele Einzigartige hat es in der Geschichte Diaspars gegeben? Waren es zehn?“

„Vierzehn“, erwiderte Khedron ohne zu zögern. „Ohne Alvin.“

„Sie verfügen über genauere Informationen als ich“, meinte Jeserac.

„Vielleicht können Sie mir sagen, was mit diesen Einzigartigen geschehen ist.“

„Sie verschwanden.“

„Vielen Dank, das wußte ich schon. Deswegen habe ich Alvin so wenig wie möglich über seine Vorgänger erzählt; bei seiner gegenwärtigen Stimmung würde ihm das kaum nützlich sein. Kann ich mich auf Ihre Unterstützung verlassen?“

„Im Augenblick — ja. Ich will ihn selbst beobachten. Geheimnisse haben mich immer interessiert, und in Diaspar gibt es zu wenige davon. Außerdem könnte es sein, daß das Schicksal einen Scherz vorbereitet, gegen den meine sämtlichen Bemühungen verblassen werden. Und das möchte ich miterleben.“

„Sie sprechen gerne in Rätseln“, beschwerte sich Jeserac. „Was genau sehen Sie voraus?“

„Ich bezweifle, daß meine Vermutungen besser sind als die Ihrigen.

Aber ich glaube dies — weder Sie noch ich, noch irgend jemand sonst in Diaspar wird Alvin aufhalten können, wenn er sich entschieden hat. Wir haben einige interessante Jahrhunderte vor uns.“

Jeserac saß lange Zeit bewegungslos in seinem Sessel, nachdem Khedrons Bild verschwunden war. Ein Gefühl der Vorahnung, wie er es noch nie empfunden hatte, bedrückte ihn schwer. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er eine Audienz beim Rat beantragen sollte — aber wäre das nicht lächerliche Aufregung um nichts? Vielleicht handelte es sich bei der ganzen Angelegenheit um einen komplizierten und geheimnisvollen Scherz Khedrons, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, warum man ihn als Zielscheibe ausersehen hatte.

Er überdachte die Angelegenheit sorgfältig und prüfte sie von jedem Standpunkt aus. Nach einer Stunde traf er eine charakteristische Entscheidung.

Er wollte abwarten.

Alvin verlor keine Zeit, alles Wichtige über Khedron in Erfahrung zu bringen. Hierbei diente ihm, wie üblich, hauptsächlich Jeserac als Informationsquelle. Der alte Lehrer berichtete ihm über sein Zusammentreffen mit dem Spaßmacher und fügte die wenigen Einzelheiten hinzu, die er über die Lebensweise des anderen wußte. Soweit so etwas in Diaspar möglich sein konnte, war Khedron ein Einsiedler; niemand wußte, wo er wohnte oder wie er seine Zeit verbrachte. Sein letzter Scherz hatte sich als ziemlich kindischer Streich mit einer Totallähmung der fließenden Straße entpuppt. Das war vor fünfzig Jahren gewesen; ein Jahrhundert davor hatte er einen besonders abschreckenden Drachen losgelassen, der durch die Stadt wanderte und alle Werke des im Augenblick populärsten Bildhauers verzehrte. Der Künstler hatte sich versteckt, als der einseitige Geschmack der Bestie deutlich wurde, und war erst wieder zum Vorschein gekommen, als das Ungeheuer verschwand.

Aus diesen Berichten ergab sich eine klare Tatsache. Khedron mußte tiefe Einsicht in die Maschinen und Kräfte besitzen, von denen die Stadt beherrscht wurde; er konnte sie, seinen Absichten entsprechend, einsetzen wie kein anderer in Diaspar. Vermutlich gab es eine Art Überaufsicht, die einen allzu ehrgeizigen Spaßmacher hinderte, der komplizierten Struktur Diaspars dauernden und nicht wiedergutzumachenden Schaden zuzufügen.

Alvin behielt diese Informationen im Gedächtnis, aber er versuchte nicht, mit Khedron Kontakt aufzunehmen. Obwohl er den Spaßmacher vieles zu fragen hatte, veranlaßte ihn seine halsstarrige Unabhängigkeit, alles durch seine eigene Anstrengung herausfinden zu wollen. Er hatte sich auf eine Sache eingelassen, die ihn Jahre beschäftigen würde, aber solange er seinem Ziel näher zu kommen glaubte, fühlte er sich glücklich.

Wie ein Reisender alten Stils in einem fremden Land begann er die systematische Erforschung Diaspars. Er verbrachte seine Tage und Wochen damit, die einsamen Türme am Stadtrand zu durchstreifen, in der Hoffnung, irgendeinen Weg in die Welt außerhalb der Stadt zu entdekken. Im Verlauf seiner Suche fand er ein Dutzend der großen Luftschächte, die sich hoch oben über der Wüste öffneten, aber sie waren vergittert — und auch ohne die Gitter waren die senkrecht abfallenden eineinhalb Kilometer Hindernis genug.

Er fand keine anderen Ausgänge, obwohl er tausend Korridore und zehntausend leere Kammern durchforschte. Alle Gebäude befanden sich in dem vollkommenen und fleckenlosen Zustand, den die Bewohner Diaspars als Teil der normalen Ordnung aller Dinge betrachteten. Manchmal begegnete Alvin einem Roboter auf Inspektionstour, und er sprach jede Maschine an. Er erfuhr nichts, weil die Roboter, mit denen er zusammentraf, nicht auf menschliche Sprache oder Gedanken eingestellt waren. Obwohl sie seine Gegenwart bemerkten — sie schwebten höflich beiseite, um ihn vorbeizulassen —, ließen sie sich auf keine Gespräche ein.

Alvin sah oft tagelang kein anderes menschliches Wesen. Wenn er Hunger spürte, ging er in eine der leerstehenden Wohnungen und bestellte eine Mahlzeit. Wunderbare Maschinen, an deren Existenz er nur selten einen Gedanken verschwendete, erwachten aus äonenlangem Schlummer. Die Strukturen in ihrem Gedächtnis flackerten am Rand zur Wirklichkeit. Und so wurde eine vor hundert Millionen Jahren von einem Meisterkoch vorbereitete Mahlzeit wieder ins Dasein gerufen, um den Gaumen zu entzücken oder auch nur den Appetit zu befriedigen.

Die Einsamkeit dieser verlassenen Welt — der leeren Schale um das schlagende Herz der Stadt — bedrückte Alvin nicht. Er war an Einsamkeit gewöhnt, sogar wenn er unter seinen Freunden weilte. Diese eifrige Suche, die sein ganzes Interesse in Anspruch nahm, ließ ihn für eine Weile das Geheimnis seiner Herkunft und die Abartigkeit, die ihn von seinen Mitmenschen trennte, vergessen.

Er hatte noch nicht einmal ein Hundertstel des Stadtrandes erforscht, als er entschied, daß er seine Zeit verschwendete. Seine Entscheidung kam nicht als Ergebnis der Ungeduld, sondern aus klarer Erkenntnis. Wenn nötig, konnte er später wiederkommen und seine Aufgabe zu Ende führen, auch wenn sie den Rest seines Lebens in Anspruch nehmen würde.

Er hatte jedoch genug gesehen, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß der Weg aus Diaspar heraus, wenn es einen solchen überhaupt gab, nicht so leicht zu finden war. Er konnte Jahrhunderte mit fruchtlosem Suchen hinbringen, wenn er sich nicht um die Hilfe weiserer Männer bemühte.

Jeserac hatte ihm kühl erklärt, er kenne keinen Weg aus Diaspar heraus und bezweifle, daß es überhaupt einen solchen gebe. Die Auskunftsmaschinen hatten bei der Befragung durch Alvin ihr nahezu unendliches Gedächtnis umsonst durchforscht. Sie konnten ihm jede Einzelheit aus der Geschichte der Stadt bis zum Beginn der aufgezeichneten Zeiten berichten — zurück bis zu jener Grenze, hinter der die frühen Zeitalter für immer verborgen lagen. Aber sie konnten Alvins einfache Frage nicht beantworten, oder es war ihnen von einer höherstehenden Kraft untersagt.

Er würde Khedron wieder treffen müssen.

7

„Du hast dir Zeit gelassen“, sagte Khedron, „aber ich wußte, daß du früher oder später kommen würdest.“

Dieses Selbstvertrauen ärgerte Alvin; er wollte nicht glauben, daß man sein Verhalten so genau vorhersagen konnte. Er fragte sich, ob der Spaßmacher seine ergebnislose Suche beobachtet hatte.

„Ich versuche, einen Weg aus der Stadt zu finden“, sagte er grob. „Es muß einen geben, und ich glaube, Sie könnten mir helfen, ihn zu finden.“

Khedron schwieg eine Weile; es war noch Zeit, sich von der Straße abzuwenden, die sich vor ihm erstreckte und ihn in eine Zukunft jenseits aller Möglichkeiten der Voraussage führte. Niemand außer ihm hätte gezögert; kein anderer Mensch in der Stadt, auch wenn er die Macht dazu besessen hätte, würde es gewagt haben, die Geister einer Vergangenheit zu stören, die seit Millionen Jahrhunderten tot waren. Vielleicht bestand keine Gefahr, vielleicht konnte nichts die ewige Stabilität Diaspars beeinflussen. Aber wenn das Risiko des Auftritts einer neuen und fremdartigen Gefahr existierte, bot sich jetzt die letzte Chance, sie abzuwenden.