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Aber trotzdem besaß er einen winzigen Rest jenes Funkens der Neugier, der einst die größte Gabe des Menschen gewesen war. Er war immer noch bereit, ein Risiko einzugehen.
Er sah Alvin an und versuchte, sich an seine eigene Jugend zu erinnern, an seine eigenen Träume vor einem halben Jahrtausend. Jeder Augenblick seiner Vergangenheit stand, wenn er es wollte, klar und scharf in seinem Gedächtnis. Wie Perlen auf einer Schnur erstreckten sich dieses Leben und alle anderen davor durch die Zeiten zurück.
In seiner Jugend hatte er sich von seinen Kameraden nicht unterschieden. Erst als er erwachsen wurde und die Erinnerungen an seine früheren Lebensperioden zurückfluteten, übernahm er die Rolle, für die er längst bestimmt war. Manchmal erfüllte es ihn mit Bitterkeit, daß ihn die Menschen, die Diaspar mit solch gewaltigem Verstand geschaffen hatten, auch nach so langer Zeit noch wie eine Marionette über die Bühne tanzen lassen konnten. Jetzt bot sich ihm vielleicht die Chance einer lang verschobenen Rache. Ein neuer Schauspieler war aufgetreten, der vielleicht zum letztenmal den Vorhang vor einem Schauspiel niedergehen ließ, das schon zu viele Akte hatte.
Sympathie für jemanden, dessen Einsamkeit noch größer sein mußte als seine eigene; Eintönigkeit, durch Zeitalter der Wiederholung hervorgerufen; ein koboldartiger Sinn für Humor — das waren die einander widersprechenden Faktoren, die Khedron zu seinem Entschluß bewegten.
„Vielleicht kann ich dir helfen“, sagte er zu Alvin, „vielleicht auch nicht.
Ich möchte keine falschen Hoffnungen erwecken. Komm in einer halben Stunde zur Kreuzung Radius drei — Ring zwei. Ich kann dir wenigstens eine interessante Fahrt versprechen.“
Alvin war zehn Minuten zu früh am Treffpunkt, obwohl er auf der unteren Seite der Stadt lag. Er wartete ungeduldig, während die fließenden Straßen unaufhörlich an ihm vorbeizogen und die zufriedenen Menschen der Stadt zu ihren unwichtigen Zielen brachten. Endlich tauchte die große Gestalt Khedrons in der Feme auf, und einen Augenblick später befand er sich zum erstenmal in der leiblichen Gegenwart des Spaßmachers.
Der Spaßmacher setzte sich auf ein Marmorgelände und sah Alvin mit seltener Eindringlichkeit an.
„Ich frage mich“, sagte er, „ob du weißt, was du willst. Und ich frage mich auch, was du tun würdest, wenn du es erreichtest.
Glaubst du wirklich, du könntest die Stadt verlassen, selbst wenn du einen Weg fändest?“
„Ich weiß es“, erwiderte Alvin tapfer, obwohl Khedron die Unsicherheit in seiner Stimme spürte.
„Dann will ich dir etwas sagen, was du noch nicht wissen dürftest. Siehst du diese Türme dort?“ Khedron deutete auf die zwei Spitzen der Energiezentrale und der Ratshalle, die sich über einer Häuserschlucht von eineinhalb Kilometer Tiefe gegenüberstanden. „Angenommen, ich lege ein völlig festes Brett zwischen die beiden Türme — ein Brett, das nur fünfzehn Zentimeter breit wäre. Könntest du darübergehen?“ Alvin zögerte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Ich möchte es nicht versuchen.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, daß du es niemals schaffen würdest. Du würdest schwindlig werden und herunterfallen, bevor du ein Dutzend Schritte gegangen wärst. Wenn aber das gleiche Brett knapp über dem Boden angebracht wäre, könntest du ohne Schwierigkeiten darübergehen.“
„Und was beweist das?“
„Ganz einfach dies: Bei diesen Versuchen handelt es sich um ein und dasselbe Brett. Einer der beräderten Roboter, die man manchmal trifft, könnte es ebensogut überqueren, wenn es zwischen den beiden Türmen läge, wie wenn es knapp über dem Boden schwebte. Wir könnten es nicht, weil wir Angst vor großen Höhen haben. Das mag unlogisch sein, aber das Gefühl ist zu mächtig, um durch logisches Denken beeinflussen zu können. Es ist uns angeboren.
Gleicherweise haben wir Angst vor dem leeren Raum. Man zeige einem Mann aus Diaspar eine Straße, die aus der Stadt hinausführt — eine Straße, die genauso aussehen könnte, wie diese hier vor uns —, und er wird nicht weit kommen. Er würde umkehren müssen wie du, wenn du versuchen wolltest, das Brett zwischen den beiden Türmen zu überqueren.“
„Aber warum?“ fragte Alvin. „Es muß doch einmal eine Zeit gegeben haben —“
„Ich weiß, ich weiß“, sagte Khedron. „Die Menschen gingen einst über die ganze Welt und sogar zu den Sternen. Irgend etwas hat sie verändert und ihnen diese Furcht eingepflanzt, mit der sie jetzt auf die Welt kommen. Du allein glaubst, sie nicht zu haben. Nun, wir werden sehen. Ich führe dich zur Ratshalle.“
Die Ratshalle war eines der größten Gebäude der Stadt und beherbergte fast ausschließlich die Maschinen, die als wirkliche Verwalter Diaspars fungierten. Unter der Turmspitze lag der Saal, in dem der Rat in unregelmäßigen Abständen zusammentraf, wenn es, was selten vorkam, etwas zu entscheiden galt.
Der weite Eingang verschluckte sie, und Khedron ging in die goldene Düsternis hinein. Alvin hatte die Ratshalle noch nie betreten; es gab keine Vorschrift, die das untersagte — es gab kaum Verbotsvorschriften in Diaspar —, aber wie alle anderen Bürger fühlte er eine eigenartige Scheu vor diesem Ort.
Khedron führte Alvin, ohne auch nur einmal zu zögern, durch Korridore und Rampen hinab, die offensichtlich für beräderte Maschinen und nicht für menschlichen Verkehr gedacht waren. Einige Rampen führten so steil und im Zickzack in die Tiefe, daß man sich nicht hätte halten können, wenn nicht die Schwerkraft zum Ausgleich verändert worden wäre.
Sie erreichten schließlich eine geschlossene Tür, die sich öffnete, als sie herankamen, hinter ihnen aber wieder zuglitt. Vor ihnen befand sich eine andere Tür, die bei ihrer Annäherung geschlossen blieb. Khedron berührte diese Tür nicht, sondern wartete bewegungslos. Nach einer kurzen Pause sagte eine ruhige Stimme: „Bitte nennen Sie Ihren Namen.“
„Ich bin Khedron, genannt der Spaßmacher. Mein Begleiter ist Alvin.“
„Und der Grund Ihres Erscheinens?“
„Reine Neugier.“
Zu Alvins Erstaunen öffnete sich die Tür sofort. Nach seinen Erfahrungen stiftete man nur Verwirrung, wenn man einer Maschine spaßhafte Antworten gab, und man mußte dann meistens wieder von vorne anfangen.
Die Maschine, die Khedron befragt hatte, mußte also sehr klug sein — an einem hohen Platz in der Hierarchie des Zentral-Elektronengehirns.
Sie trafen auf keine Hindernisse, aber Alvin vermutete, daß sie unterwegs zahlreichen Tests unterworfen wurden, von denen er keine Ahnung hatte. Ein kurzer Korridor führte sie plötzlich in einen riesigen runden Saal mit versenktem Boden hinaus, und in diesen Boden war etwas so Erstaunliches eingelassen, daß sich Alvin einen Augenblick wie von einem Wunder überwältigt fühlte. Er sah auf die gesamte Stadt Diaspar hinunter, die vor ihm ausgebreitet lag und deren höchste Gebäude knapp bis an seine Schulter reichten.
Er verbrachte so viel Zeit damit, bekannte Stellen herauszusuchen und unerwartete Ausblicke zu genießen, daß es eine Weile dauerte, ehe er seine Aufmerksamkeit dem übrigen Teil des Saales zuwandte. Die Wände waren mit einem mikroskopisch fein verteilten Muster aus schwarzen und weißen Quadraten bedeckt; das Muster selbst war völlig unregelmäßig ausgebildet, und wenn er die Augen schnell bewegte, gewann er den Eindruck, als flimmere etwas, obwohl es sich nicht veränderte. In regelmäßigen Abständen standen rings an den Wänden Maschinen mit Tastaturen, jede mit eigenem Bildschirm und Sitz für das Bedienungspersonal.
Khedron ließ Alvin sich satt sehen. Dann deutete er auf die verkleinerte Stadt und sagte: „Weißt du, was das ist?“
Alvin war versucht, ›ein Modell, nehme ich an‹, zu erwidern, aber diese Antwort schien ihm so einfach, daß er sie für falsch hielt. Darum schüttelte er den Kopf und wartete, bis Khedron seine eigene Frage beantwortete.
„Du erinnerst dich“, sagte der Spaßmacher, „daß ich dir schon einmal erzählte, wie die Stadt erhalten wird und wie die Gedächtnisanlagen ihre Struktur, für immer fixiert, bewahren. Diese Anlagen mit ihrem unermeßlichen Schatz an Informationen befinden sich hier an den Wänden. Jedes Atom Diaspars wird irgendwie — durch Kräfte, die wir nicht kennen — an die in diesen Mauern verborgenen Strukturen gekettet.“
Er deutet auf das vollkommene, unendlich vielfältige Abbild Diaspars unter ihnen.
„Das ist kein Modell; es existiert nicht wirklich. Das ist nur das Abbild der in den Gedächtnisanlagen aufbewahrten Struktur, und daher mit der Stadt absolut identisch. Diese Beobachtungsmaschinen hier ermöglichen es, jede gewünschte Einzelheit zu vergrößern, sie in Lebensgröße oder noch größer zu betrachten. Man verwendet sie für Veränderungen an der Stadt, obwohl schon lange nichts mehr verändert wurde. Wenn du wissen willst, wie Diaspar aussieht, mußt du hierherkommen. Du kannst hier in wenigen Tagen mehr lernen als in einem ganzen Leben direkter Erforschung der Stadt.“
„Es ist herrlich“, sagte Alvin. „Wie viele Leute wissen, daß es das gibt?“
„Oh, sehr viele, aber es kümmert sie selten. Der Rat kommt von Zeit zu Zeit hierher; an der Stadt kann nichts geändert werden, wenn nicht alle hier versammelt sind. Und nicht einmal dann, wenn das Zentral-Elektronengehirn der vorgeschlagenen Abänderung nicht zustimmt. Ich bezweifle, daß dieser Saal öfter als zwei-, dreimal jährlich aufgesucht wird.“
Alvin hätte gern gewußt, warum Khedron Zugang dazu hatte, erinnerte sich aber daran, daß es zu den Vorrechten des Spaßmachers gehören würde, alles in Erfahrung zu bringen; einen besseren Führer zu den Geheimnissen Diaspars konnte er sich nicht wünschen.
„Vielleicht existiert das, was du suchst, nicht“, sagte Khedron, „aber wenn überhaupt, dann kannst du es hier finden. Ich will dir zeigen, wie man die Kontrollgeräte bedient.“
Während der nächsten Stunde saß Alvin vor einem der Bildschirme und lernte, das Gerät zu steuern. Er konnte jeden Punkt in der Stadt auswählen und ihn unter jeder gewünschten Vergrößerung betrachten. Straßen, Türme, Wände und die fließenden Transportverbindungen huschten über den Schirm, wenn er die Koordinaten änderte; es schien, als sei er ein körperlicher Geist, der mühelos über ganz Diaspar dahinschwebte.
Und doch war es nicht in Wirklichkeit Diaspar, was er beobachtete. Er bewegte sich durch die Gedächtniszellen, blickte auf das Traumbild der Stadt — aus jenem Traum, der mächtig genug war, das wirkliche Diaspar seit tausend Millionen Jahren unberührt zu erhalten. Er konnte nur den Teil der Stadt sehen, der ewig war; die Menschen in den Straßen gehörten nicht zu dem erstarrten Abbild. Für seinen Zweck war es auch unwichtig. Sein Interesse lag jetzt nur bei jener Schöpfung aus Stein und Metall, in der er gefangen saß, nicht bei denen, die diese Gefangenschaft teilten.
Er suchte und fand den Turm von Loranne, bewegte sich schnell durch die Korridore und Tunnels, die er schon in Wirklichkeit durchforscht hatte. Als sich das Abbild des Steingitters vor seinen Augen ausbreitete, konnte er beinahe den kalten Wind spüren. Er kam auf das Gitter zu, blickte hinaus — und sah nichts. Einen Augenblick war der Schock so überwältigend, daß er beinahe seine eigene Erinnerung in Zweifel zog; war der Anblick der Wüste nicht mehr als ein Traum gewesen?
Dann begriff er. Die Wüste war nicht ein Teil Diaspars, so daß auch ihr Abbild nicht in der Scheinwelt, die er durchstreifte, vorhanden sein konnte. Jenseits dieses Gitters mochte alles mögliche liegen — auf dem Bildschirm konnte es nie erscheinen.
Aber der Bildschirm zeigte ihm dafür etwas anderes, was noch kein lebender Mensch gesehen hatte. Alvin schob seinen Blickpunkt durch das Gitter hinaus in das Nichts jenseits der Stadt. Er drehte den Regler, der die Blickrichtung veränderte, so daß er genau auf den Weg zurücksah, den er eben hinter sich gebracht hatte. Und dort hinter ihm lag Diaspar — von außen gesehen.
Für die Elektronengehirne, die Gedächtnisstromkreise und all die zahllosen Mechanismen, die das Bild erzeugten, das Alvin beobachtete, war es nur ein einfaches Problem der Perspektive. Sie kannten die Form der Stadt; deshalb konnten sie auch ihr Bild von außen zeigen. Aber Alvin war trotzdem überwältigt. Er war, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch im Geist der Stadt entflohen. Er schien im Raum zu schweben, wenige Meter von der steil abfallenden Außenwand des Turms von Loranne entfernt. Einen Augenblick starrte er auf die glatte graue Fläche vor seinen Augen; dann berührte er den Regler und richtete den Blick nach unten, auf den Boden.
Jetzt, da er die Möglichkeiten dieses wunderbaren Instrumentes kannte, war ihm sein weiteres Vorgehen klar. Er brauchte nicht mehr Monate und Jahre damit zuzubringen, Diaspar vom Innern aus zu erforschen, Raum um Raum, Korridor um Korridor. Von einem neuen Aussichtspunkt konnte er an der Außenseite der Stadt entlangschweben und sofort jede Öffnung erkennen, die zur Wüste und der Welt jenseits hinausführen mochte.
Er drehte sich zu Khedron um und wollte ihm danken. Aber der Spaßmacher war verschwunden.
Alvin war der einzige Mensch Diaspars, der unerschrocken auf diese Bilder blicken konnte, die jetzt auf dem Bildschirm vorbeiglitten. Khedron wollte ihm zwar behilflich sein, aber auch er teilte jenes seltsame Entsetzen vor dem Raum, das die Menschheit in ihrer kleinen Welt festhielt.
Die Einsamkeit, von der sich Alvin befreit geglaubt hatte, überfiel ihn um so stärker. Aber jetzt war keine Zeit für Melancholie; es gab zuviel zu tun.