Diaspar sah in den folgenden Wochen sehr wenig von Alvin, wenn auch seine Abwesenheit nur wenigen Menschen auffiel. Jeserac fühlte sich etwas erleichtert, als er erfuhr, daß sein früherer Schüler eine ganze Zeit in der Ratshalle verbrachte, statt an der Stadtgrenze herumzustreifen, weil er glaubte, daß Alvin dort in keine Unannehmlichkeiten kommen konnte. Eriston und Etania riefen ein- oder zweimal in sein Zimmer, stellten fest, daß er ausgegangen war und zerbrachen sich nicht weiter den Kopf darüber. Alystra dagegen war etwas beharrlicher.
Ihrer eigenen Gemütsruhe wegen war es bedauerlich, daß sie ausgerechnet Alvin hebte. Alystra hatte nie Schwierigkeiten gehabt, einen Partner zu finden, aber verglichen mit Alvin schienen alle anderen Männer, die sie kannte, völlig unbedeutend, aus dem gleichen ausdruckslosen Stoff geprägt. Sie wollte ihn nicht kampflos aufgeben; seine Gleichgültigkeit wirkte als unwiderstehliche Herausforderung.
Und doch waren ihre Motive vielleicht nicht so ganz selbstsüchtig, sondern eher mütterlicher Natur. Alvin mochte eigensinnig und selbstsicher scheinen, aber Alystra fühlte seine innere Einsamkeit.
Als sie festgestellt hatte, daß Alvin verschwunden war, fragte sie sofort Jeserac, was mit ihm geschehen sei. Jeserac erzählte es ihr nach kurzem Zögern. Wenn Alvin keine Gesellschaft wünschte, sollte er es selbst sagen. Jeserac konnte Alystra gut leiden; er hoffte, ihr Einfluß würde Alvin auf den richtigen Weg bringen.
Die Tatsache, daß sich Alvin in der Ratshalle aufhielt, konnte nur bedeuten, daß er sich mit einer Forschungsaufgabe beschäftigte, und dieses Wissen zerstreute zumindest Alystras Verdacht auf mögliche Rivalinnen.
An die Stelle der Eifersucht trat Neugier. Sie machte sich manchmal Vorwürfe, Alvin im Turm von Loranne davongelaufen zu sein, obwohl sie wußte, daß sie unter den gleichen Umständen wieder so handeln würde.
Man konnte Alvins Gedanken nicht verstehen, sagte sie sich, solange man nicht herausbrachte, womit er sich abmühte.
Sie ging zielbewußt in den Hauptsaal, beeindruckt von der Stille, die sie nach ihrem Eintritt empfing. Die Auskunftsmaschinen standen nebeneinander an der Wand; sie ging auf eine von ihnen zu und blieb davor stehen.
Als die Lampe blinkte, sagte sie: „Ich suche Alvin; er hält sich irgendwo in diesem Gebäude auf. Wo kann ich ihn finden?“
Selbst nach Ablauf eines ganzen Lebens gewöhnte man sich nie ganz an das völlige Fehlen einer zeitlichen Verzögerung, wenn eine Auskunftsmaschine eine gewöhnliche Frage beantwortete. Es gab Leute, die wußten oder zu wissen vorgaben, wie das kam, und gelehrt von Anstiegszeit und Speicherungsraum sprachen, aber das machte das Ergebnis nicht weniger erstaunlich. Jede Frage rein praktischer Art konnte sofort beantwortet werden. Nur bei komplizierten Berechnungen ergab sich eine merkbare Verzögerung.
„Er ist bei den Monitoren“, kam die Antwort. Das nützte nicht sehr viel, weil sich Alystra darunter nichts vorstellen konnte. Keine Maschine gab jemals mehr Auskünfte, als von ihr verlangt wurden. Die richtige Formulierung von Fragen war daher eine Kunst, zu deren Erlernung man oft viele Jahre brauchte.
„Wie erreiche ich ihn?“ fragte Alystra.
„Das kann ich Ihnen nur sagen, wenn Sie die Genehmigung des Rates besitzen.“
Das hatte sie nicht vorausgesehen. Es gab wenig Orte in Diaspar, die nicht jeder aufsuchen konnte, den es danach verlangte. Alystra war ziemlich sicher, daß Alvin nicht die Genehmigung des Rates eingeholt hatte; das konnte also nur bedeuten, daß ihn eine höhere Autorität unterstützte.
Der Rat regierte Diaspar, aber seine Entscheidungen konnten von einer übergeordneten Macht aufgehoben werden — durch den nahezu unermeßlichen Intellekt des Zentral-Elektronengehirns. Es fiel schwer, das Zentral-Elektronengehirn nicht als lebendes Wesen anzusehen, obgleich es praktisch die Summe aller Maschinen in Diaspar war. Auch wenn es im biologischen Sinn nicht lebte, besaß es mindestens ebensoviel Bewußtheit und Erkenntnisvermögen, wie ein menschliches Wesen.
Was Alvin tat, mußte ihm bekannt sein — also mußte es zustimmen, sonst hätte es ihn daran gehindert oder an den Rat verwiesen, wie die Auskunftsmaschine bei Alystra.
Es hatte keinen Sinn hierzubleiben. Alystra wußte, daß jeder Versuch, Alvin zu finden — selbst wenn sie genau wußte, wo er sich in diesem Gebäude befand —, zum Scheitern verurteilt war. Türen würden sich nicht öffnen; Gleitwege würden sich rückläufig bewegen, wenn sie darauf stand; Liftfelder würden den Dienst versagen. Wenn sie weiter auf ihrem Vorhaben bestünde, würde sie ein höflicher, aber bestimmter Roboter auf die Straße bringen, oder man würde sie immer wieder rund um die Ratshalle transportieren, bis sie genug hätte und aus eigenem Antrieb ginge.
Sie war schlechter Stimmung, als sie auf die Straße hinaustrat. Außerdem war sie nachdenklich, denn sie spürte zum erstenmal, daß hier etwas vor sich ging, das ihre Wünsche und Interessen als unwichtig erscheinen ließ. Das hieß nicht, daß sie ihr deswegen weniger wichtig geworden wären. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte, aber eines wußte sie genau: Alvin war nicht der einzige Mensch in Diaspar, der hartnäckig und beharrlich sein konnte.
Das Bild auf dem Leuchtschirm blendete aus, als Alvin seine Hände vom Bedienungspult nahm. Eine Weile saß er völlig regungslos da und starrte in das dunkle Rechteck, das ihn so viele Wochen hindurch beschäftigt hatte. Er hatte seine Welt umrundet; über diesen Bildschirm war jeder Quadratmeter der Außenwände Diaspars gewandert. Er kannte die Stadt besser als jeder andere lebende Mensch, Khedron vielleicht ausgenommen; und er wußte jetzt, daß es keinen Weg durch die Wand gab.
Das Gefühl, das ihn bewegte, war nicht Mutlosigkeit; er hatte nie erwartet, daß es so leicht sein würde, daß er schon beim ersten Versuch Erfolg haben würde. Wichtig war, daß er eine Möglichkeit ausgeschieden hatte. Nun mußte er sich mit den anderen beschäftigen.
Er stand auf und ging zum Bild der Stadt, das fast den ganzen Saal ausfüllte. Es fiel nicht schwer, darin tatsächlich ein Modell zu sehen, obwohl er genau wußte, daß es in Wirklichkeit nur die optische Projektion einer Struktur in den eben durchforschten Gedächtniszellen war. Wenn er die Tasten bediente und seinen Blickpunkt über Diaspar bewegte, schwebte ein Lichtpunkt über die Oberfläche dieses Ebenbildes, so daß er genau erkennen konnte, wo er sich jeweils befand. In den ersten Tagen hatte sich das als nützliches Hilfsmittel erwiesen, aber bald beherrschte er das Gerät so sicher, daß er es nicht mehr brauchte.
Die Stadt lag unter ihm ausgebreitet; er starrte auf sie herunter. Aber er sah sie kaum, als er sich überlegte, wie er jetzt weiter vorgehen sollte.
Wenn alles schiefging, gab es immer noch eine Lösung. Diaspar mochte ewig unveränderlich erhalten werden, für immer entsprechend der Struktur in den Gedächtniszellen erstarrt. Aber diese Struktur selbst konnte verändert werden, und mit ihr änderte sich die Stadt. Es mußte möglich sein, einen Teil der Außenwand so umzugestalten, daß sie eine Tür ins Freie enthielt, diese Struktur in die Monitoren einzulegen und die Stadt sich an diese neue Konzeption anpassen zu lassen.
Alvin vermutete, daß die Teile des Bedienungspultes, deren Zweck Khedron nicht erklärt hatte, mit solchen Veränderungen zusammenhingen.
Es hatte keinen Zweck, mit diesen Tasten zu experimentieren. Die Regler zur Veränderung der Stadtstruktur waren fest verschlossen, und sie konnten nur im Auftrag des Rates und mit Genehmigung des Zentral-Elektronengehirns bedient werden. Es bestand kaum eine Chance, daß ihm der Rat die Erlaubnis dazu erteilen würde.
Er wandte seine Gedanken dem Himmel zu. Manchmal hatte er sich vorgestellt, er habe die Freiheit der Lüfte wiedergewonnen, auf die der Mensch vor so langer Zeit verzichtet hatte. Einst war der Himmel über der Erde mit seltsamen Objekten erfüllt gewesen. Aus dem Weltraum waren die großen Schiffe gekommen, unbekannte Reichtümer mit sich führend, um im legendären Hafen von Diaspar zu landen. Aber der Hafen hatte außerhalb der Stadtgrenzen gelegen; Äonen zuvor war er vom Treibsand begraben worden. Er konnte träumen, daß irgendwo in den Labyrinthen Diaspars noch eine Flugmaschine versteckt sein mochte, aber er glaubte nicht ernstlich daran.
Selbst in den Tagen, als kleine Privatflugzeuge allgemein in Gebrauch gewesen waren, hatte man sie wohl kaum innerhalb der Stadt geduldet.
Einen Augenblick verlor er sich in den alten, vertrauten Raum. Er stellte sich vor, daß er Herr des Himmels sei, daß die Welt unter ihm ausgebreitet läge und ihn aufforderte zu reisen, wohin es ihm beliebte. Das war nicht die Welt seiner eigenen Zeit, die er sah, sondern die verlorene Welt der Frühzeit — ein fruchtbares, lebendes Panorama aus Hügeln, Seen und Wäldern. Er fühlte bitteren Neid auf seine unbekannten Vorfahren, die über die Erde fliegen konnten und ihre Schönheit sterben ließen.
Diese betäubende Träumerei war nutzlos; er zwang sich in die Gegenwart zurück und zu seinem Problem. Wenn der Himmel unerreichbar und der Landweg versperrt war, was blieb dann?
Wieder war er an einem Punkt angelangt, da er Hilfe brauchte, da er durch eigene Bemühung keinen weiteren Fortschritt erzielen konnte. Er gab es nicht gerne zu, war aber auf der anderen Seite ehrlich genug, es nicht zu leugnen. Unvermeidlich richteten sich seine Gedanken wieder auf Khedron.
Alvin war sich noch nicht klar darüber, ob er den Spaßmacher mochte.
Es gab in Diaspar niemanden, mit dem er so viel gemeinsam hatte, aber trotzdem lag in der Persönlichkeit des anderen ein Element, das ihn abstieß. Vielleicht war es Khedrons ironische Überlegenheit, die Alvin manchmal glauben ließ, er lache heimlich über seine Anstrengungen.
Aus diesem Grund und wegen seiner angeborenen Hartnäckigkeit und Unabhängigkeit zögerte Alvin, den Spaßmacher um Hilfe zu bitten; aber es blieb ihm nichts anderes übrig.
Sie verabredeten eine Zusammenkunft in einem kleinen, runden Hof, nicht weit von der Ratshalle. Es gab in der Stadt viele einsame abgelegene Plätze, oft nur wenige Meter von einer Hauptverkehrsstraße, aber doch völlig von ihr abgeschlossen. Gewöhnlich konnte man sie nur zu Fuß und über allerlei Umwege erreichen;
manchmal lagen sie sogar im Mittelpunkt geschickt entworfener Irrgärten. Es war eigentlich typisch für Khedron, daß er einen derartigen Platz als Treffpunkt ausgewählt hatte.
Der Hof maß nicht mehr als fünfzig Schritte und lag in Wirklichkeit tief im Innern eines großen Gebäudes. Dabei schien er keine bestimmten physischen Begrenzungen zu besitzen; er war von einem durchscheinenden blaugrünen Material umgeben, das in einem schwachen inneren Licht schimmerte. Obwohl ohne sichtbare Begrenzung, hatte man den Hof so angelegt, daß keine Gefahr bestand, sich im unendlichen Raum verloren zu fühlen. Niedrige Mauern, nicht einmal hüfthoch und in Abständen durchbrochen, damit man sie passieren konnte, vermochten den Eindruck sicherer Behausung zu erwecken, ohne den sich niemand in Diaspar jemals richtig wohlfühlte.
Khedron betrachtete eine dieser Mauern, als Alvin ankam. Sie war mit einem komplizierten Mosaik aus farbigen Kacheln bedeckt.
„Sieh dir dieses Mosaik an, Alvin“, sagte der Spaßmacher. „Fällt dir daran irgend etwas Besonderes auf?“
„Nein“, gestand Alvin nach kurzer Betrachtung. „Ich habe nichts dafür übrig — aber ich finde auch nichts Besonderes daran.“
Khedron fuhr mit den Fingern über die farbigen Kacheln. „Du bist nicht sehr aufmerksam“, sagte er. „Schau diese Ränder an — siehst du, wie rund und abgeschliffen sie sind? Das sieht man in Diaspar sehr selten.
Es ist Abnützung — der Zerfall der Materie unter dem Ansturm der Zeit.
Ich kann mich an die Zeit erinnern, als dieses Muster neu war, vor achtzigtausend Jahren, in meiner letzten Lebensperiode. Wenn ich nach einem Dutzend weiterer Lebenszeiten an diese Stelle zurückkomme, werden diese Kacheln vollkommen verschwunden sein.“
„Was ist daran so überraschend?“ meinte Alvin. „Es gibt andere Kunstwerke in der Stadt, die nicht gut genug sind, um in den Gedächtnisanlagen aufbewahrt zu werden, aber auch nicht so schlecht, daß man sie sofort zerstören will. Eines Tages wird ein anderer Künstler kommen und es besser machen, nehme ich an. Und bei seiner Arbeit wird man nicht zulassen, daß sie sich abnützt.“
„Ich habe den Mann gekannt, der diese Mauer entwarf“, sagte Khedron.
„Seltsam, daß ich mich daran erinnere, aber nicht an den Mann selbst. Ich habe ihn sicher nicht leiden können und deswegen aus meiner Erinnerung gelöscht.“ Er lachte kurz auf. „Vielleicht habe ich sie selbst entworfen, während einer meiner Künstlerperioden, und mich über die negative Entscheidung der Stadt so geärgert, daß ich mich entschied, die ganze Sache zu vergessen. Da — ich wußte, dieses Stück würde sich ablösen!“
Es war ihm gelungen, einen kleinen Splitter aus einer goldenen Kachel herauszuziehen. Er warf das Bruchstück auf den Boden und meinte:
„Jetzt werden sich die Ordnungsroboter darum kümmern müssen!“
Es hatte für ihn etwas zu bedeuten, das wußte Alvin. Er blickte auf den goldenen Splitter zu seinen Füßen und versuchte, ihn irgendwie mit seinem Problem in Verbindung zu bringen.
Die Antwort war gar nicht so schwer zu finden, als er begriffen hatte, daß es eine gab.