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»Mein Vater war ein großherziger Mann«, antwortete Serena. »Wir halten nichts davon, Verbrecher für den Rest ihres Lebens in einen winzigen Raum einzusperren, in dem sie allmählich den Verstand verlieren. Das macht niemanden besser und es macht kein geschehenes Unheil wieder gut. Also ließ er diese Stadt bauen. Eine ganze Stadt auf dem Meeresgrund, die groß genug war, dass sie dort in Ruhe und Frieden ihr eigenes Leben leben konnten.«
Tarras lachte schrill. »Ja, das hat er dir erzählt, nicht wahr? Aber hast du es jemals selbst gesehen?«
»Nein«, sagte Serena.
»Nun«, erklärte Tarras, mit einem breiten Grinsen, »das wirst du. Vielleicht denkst du anschließend über die Großzügigkeit deines Vaters etwas anders.«
»Sie reden, als ob Sie ihn gekannt hätten«, sagte Mike.
»Kaum«, erwiderte Tarras. »Dieses Vergnügen hatte ich leider nicht. Und wenn, dann wäre es für einen von uns beiden ein sehr kurzer Spaß gewesen, das schwöre ich dir.«
»Wenn es nicht so ist, wie Serena sagt, wie war es dann?«, wollte Juan wissen.
»In einem Punkt hat sie die Wahrheit gesagt«, antwortete Tarras. Er machte eine wütende Geste auf die riesige unterseeischen Kuppel, die ganz langsam zu dem Schiff emporzusteigen schien. »Es war ihr Vater, der dieses Monstrum erbauen ließ. Aber nicht für gewöhnliche Verbrecher. Unsere Vorfahren waren keine Räuber und Diebe, wie sie euch glauben machen will.«
»Was dann?«
»Es waren Menschen, die nur ihre Freiheit wollten«, antwortete Argos an Tarras’ Stelle. Seine Stimmewar sehr leise und sehr traurig. »Ihr einziges Verbrechen bestand darin, die Herrschaft des Königs von is nicht anzuerkennen. Sie haben sich gegen seine Tyrannei aufgelehnt. Er ließ diesen Aufstand blutigniederschlagen, aber die, die überlebten, hörten nicht auf gegen ihn zu kämpfen. Also befahl er sie in Ketten zu legen und Lemura zu erbauen. Die meisten von ihnen starben während dieser Arbeit, denn sie dauerte fast ein Menschenleben lang. Und die, die sie überlebten, wurden in dem Gefängnis, das sie selbst errichtet hatten, ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen.«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte Serena. »Mein Vater war kein Tyrann!«
»Warte nur noch einige Minuten und du wirst sehen, welches Paradies dein Vater für uns erschaffen hat«, sagte Tarras. Auch seine Stimme wurde bitter, aber es war ein harter Klang darin, den Argos nicht gehabt hatte. »Es war die Hölle und das ist es immer noch. Der König versprach ihnen, regelmäßigNahrungsmittel und Dinge des täglichen Bedarfs zu schicken, aber nach einer Weile hörten dieLieferungen auf. Von hunderttausend, die dort ausgesetzt wurden, überlebten am Ende weniger als fünfhundert! Er hat sie einfach ihrem Schicksal überlassen, dieser großherzige König.«
»Ihr tut ihm Unrecht«, sagte Mike. »Atlantis ging unter, als
Serena zwölf Jahre alt war. Deshalb wurden diese Leute
vergessen.«
»Das spielt keine Rolle«, antwortete Tarras zornig. »Dass sie nicht alle starben, grenzt an ein Wunder. Und das haben wir nicht dem König von Atlantis zu verdanken oder irgendwem, sondern nur dem Mut und der Zähigkeit jener tapferen Männer und Frauen.«
»Sie waren unsere Vorfahren«, ergänzte Argos. »Tausende von Jahren lang kämpften sie um das nackteÜberleben, bis sich wieder so etwas wie eine Zivilisation bildete. Wir – Tarras, Varan und die anderen, die auf dem Schiff waren – waren die ersten, denen es gelang, Lemura zu verlassen und zur Oberfläche hinaufzukommen. Das war vor zehn Jahren. Seither suchen wir nach einem Weg, um auch den Rest unseres Volkes wieder an die Erdoberfläche hinaufzuschaffen.«
»Habt ihr ihn gefunden?«, fragte Trautman. Argos schüttelte stumm den Kopf, während Tarras überhaupt nichts sagte, sondern sich wieder auf seine Instrumente konzentrierte.
»Sie werden euch niemals entkommen lassen«, sagte Serena. »Die Wächter wurden eigens geschaffen, um Lemura zu bewachen.«
»Uns haben sie auch nicht getötet«, sagte Tarras.
»Ja, weil ihr mich als Geisel hattet«, antwortete Serena wütend. »Aber lieber sterbe ich, ehe ich zusehe, wie–«
»Red nicht so einen Unsinn«, unterbrach sie Mike. Er wandte sich an Tarras. »Sie hat Recht«, sagte er. »Die Haie haben euch ziehen lassen, weil ihr uns hattet, aber ich glaube nicht, dass sie auch weiter noch auf unsere Leben Rücksicht nehmen werden, wenn ihr alle zu entkommen droht.«
»Das werden wir sehen. Schweig jetzt.«
Mike gehorchte. Schon weil Tarras’ scharfer Tonfall klarmachte, dass er ihm sowieso nicht mehr antworten würde.
Außerdem hatte die NAUTILUS die riesige Kuppel mittlerweile fast erreicht. Das Schiff näherte sich jetzt rasch dem künstlichen Meeresboden. Kurz bevor es ihn berühren konnte, begann der Sand plötzlich zu zittern wie unter einem Seebeben, dann bildete sich ein langer, schnurgerader Riss, der rasch zu einer Spalte und schließlich zu einem gewaltigen Kanal wuchs, groß genug, um fünf Schiffe von den Abmessungen der NAUTILUS aufzunehmen.
Das Schiff glitt lautlos in diesen Spalt hinab, hörte auf zu sinken und für eine ganze Weile trieben sie durch absolute Dunkelheit dahin. Dann schimmerte vor ihnen wieder jenes seltsame grüne Licht, das sieschon von oben gesehen hatten. Diesmal war es jedoch sehr viel intensiver.
Sie konnten von ihrer Position aus nicht erkennen, wohin die NAUTILUS fuhr, aber das Licht wurde heller und heller und schließlich brach es sich an einem schimmernden zerbrochenen Wasserspiegel über ihnen. Mike hielt staunend den Atem an, als die NAUTILUS aufzutauchen begann und nach wenigen Augenblicken die Wasseroberfläche durchbrach. Das Fenster führte auf einen breiten, offenbar künstlich angelegten See mit gemauerten Rändern hinaus.
Tarras betätigte noch einige Schalter, dann legte die NAUTILUS am Ufer an und das Geräusch der Motoren erlosch. »Wir sind da.« Tarras machte eine einladende Geste. »Wenn ich euch bitten dürfte.«
Niemand rührte sich.
»Was soll das?«, fragte Trautman. »Sie haben versprochen, uns gehen zu lassen, sobald Sie zu Hause sind!«
Tarras schüttelte den Kopf und sah ihn strafend an. »Wer wird denn so unhöflich sein, mein lieber Herr Kapitän? Sie werden doch unsere Gastfreundschaft nicht ausschlagen, nach allem, was wir Ihnen zu verdanken haben! Lassen Sie mich Ihnen zumindest unsere Heimat zeigen, bevor Sie wieder in Ihre furchtbar trockene Welt zurückkehren.«
Der zynische Unterton in seiner Stimme war nun nicht mehr zu überhören und er gab sich auch gar keine Mühe mehr, in irgendeiner Form überzeugend zu lügen. Als Trautman jedoch noch zögerte, sich in Bewegung zu setzen, zuckte er mit den Achseln, zog seine Pistole aus dem Gürtel und richtete sie auf ihn.
»Bitte, Kapitän. Ich war lange von zu Hause fort. Und Sie wissen ja, wie das mit Seeleuten ist: Sie können es kaum erwarten, nach einer langen Reise ihre Familien wieder zu sehen.«
»Aber ... aber Sie haben versprochen uns freizulassen!«, protestierte Chris.
Mike lachte bitter. »Glaubst du wirklich, das hätte er auch nur eine Sekunde lang wirklich vorgehabt, duDummkopf?«, fragte er. »Überleg doch mal selbst. Erinnerst du dich nicht, was er gesagt hat? Sie haben endlich die Möglichkeit, aus ihrem Gefängnis zu fliehen. Und wir haben ihnen den Schlüssel geliefert. Was glaubst du, was dieser Schlüssel ist? Die NAUTILUS!«
Keiner der anderen antwortete darauf. Nach einer Weile drehte sich Trautman langsam herum und verließ den Salon und nach einem kurzen Zögern folgten ihm auch die anderen.
Mike und Serena waren die Letzten, die den Salon verließen, Hand in Hand und Schutz suchend aneinander geklammert, mit klopfenden Herzen und einem ungewissen Schicksal entgegen.
Mike fragte sich, was sie erwarten mochte.
Oben, unter dem immer gleich bleibenden, leuchtend grünen Himmel Lemuras, musste die Schlafenszeit gekommen und wieder gegangen sein. Mike war so müde, dass sein Kopf dröhnte und seine Augen brannten, aber sie redeten noch immer; und Singh und die anderen machten keine Anstalten, ihm eine Pause zu gönnen.
Natürlich hätte er sowieso keinen Schlaf gefunden. Singhs Anblick hatte die Barriere, die vor seinen Erinnerungen gewesen war, schlagartig und endgültig niedergerissen. Er wusste jetzt eindeutig wieder, wer er war und wie er und alle anderen hierher gekommen waren.
Mehr aber auch nicht.
Als hätten seine Gedanken eine Drehtür durchschritten, waren all seine Erinnerungen an sein Leben inLemuravollkommen ausgelöscht. Er erinnerte sich an den Moment, in dem er die NAUTILUS verlassen hatte, und dann wieder an den Augenblick, in dem er Astaroth wieder gesehen hatte. Alles, was sich dazwischen abgespielt hatte, war wie ausgelöscht.
»Deine Erinnerungen werden zurückkehren«, beruhigte ihn Singh, als er eine entsprechende Frage stellte. »Es wird nur eine Weile dauern.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Mike.
»Weil es bei mir genauso war«, antwortete der Inder. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Seine Lippen verzogen sich, doch es war kein wirkliches Lächeln. Mike hatte Singh noch nie so ernst und besorgt erlebt wie jetzt. Und seine nächsten Worte unterstrichen dieses Gefühl noch.
»Ich hoffe nur, uns bleibt noch so lange Zeit«, sagte der Sikh leise. »Argos wird die NAUTILUS zerstören, wenn er so weitermacht.«
Mike erschrak. »Wieso?«
»Das ist eine lange Geschichte«, seufzte Singh. Er warf Mike einen raschen, aber vielsagenden Blick zu. Offensichtlich gab es Dinge, die nicht für die Ohren der anderen bestimmt waren. Trotzdem fuhr er fort: »Ich fürchte nur, dass wir es kaum noch verhindern können.«
»Dann greifen wir ihn an!«, sagte Sarn. »Wir haben genug Verbündete! Die Bevölkerung steht auf unserer Seite! Es braucht nur ein Signal und –«