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Sie verließen den kleinen Hain und näherten sich vorsichtig wieder der Straße, von der sie abgebogen waren. Nach einigen Schritten blieb Mike jedoch noch einmal stehen und sah zurück. Aus der Entfernung betrachtet wirkte der Kristallwald noch unheimlicher als aus der Nähe. Es war, als ob ein unsichtbarer Schatten über den Bäumen hing; etwas, was nicht zu sehen, aber sehr deutlich zu spüren war.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Singh. »Dein Kater kommt schon zurück, wenn er sich beruhigt hat.«
Mike sah den Inder verwirrt an, aber dann schüttelte er den Kopf. »Das meine ich nicht«, sagte er. »Aber irgendetwas stimmt mit diesem Wald nicht.«
»Was soll damit nicht stimmen?«, fragte Singh. »Aber spürst du es denn nicht?«, fragte Mike. »Da ist irgendetwas. Ich fühle mich in seiner Nähe einfach nicht wohl.«
Singh machte eine wegwerfende Geste. »Ich fühle mich in ganz Lemura nicht wohl«, sagte er. »Je schneller wir hier wegkommen, desto besser.« Er machte eine Handbewegung zu dem künstlichen, in sanftem Grün schimmernden Himmel über ihnen. »Der Druck von viertausend Metern Wasser lastet auf dieser Kuppel. Irgendwann wird sie zusammenbrechen. Und dann möchte ich möglichst weit weg sein.« »Zusammenbrechen? Wie kommst du darauf? Sie steht seit zehntausend Jahren.«
»Und das sind wahrscheinlich neuntausend mehr, als ihre Konstrukteure vorgesehen haben«, antwortete Singh. Er schüttelte heftig den Kopf, als Mike widersprechen wollte, und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Lemura ist dem Untergang geweiht, Mike. Die Kuppelstadt ist ein technisches Wunderwerk, zu dem unsere Zivilisation niemals in der Lage wäre, aber auch ihr sind Grenzen gesetzt. Und ihre Grenzen sind erreicht, Mike, schon seit langer Zeit. Lemura wird untergehen. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht auch erst in fünf, vielleicht aber auch schon morgen.«
Mike war verwirrt – nicht einmal so sehr über das, was Singh sagte, sondern über die Art,wieer es tat. Der Inder war über die Maßen erregt.
»Du weißt eine Menge über Lemura«, sagte er vorsichtig.
»Ich habe lange mit Argos gesprochen«, antwortete Singh.
»Wann?«
»Auf dem Weg hierher«, antwortete Singh. »Er hat mich ein paar Mal zu sich gerufen, während du und die anderen in euren Kabinen gefangen wart. Wir haben lange miteinander geredet. Er hat versucht, mich von seiner Sache zu überzeugen ... Ich weiß nicht, warum gerade mich. Vielleicht weil er glaubte, mich am ehesten überzeugen zu können.«
»Und wieso?«
Singh hob die Schultern. »Vielleicht, weil ichichbin«, sagte er. »Es ist noch nicht so furchtbar lange her, da war auch ich ein Sklave – ganz wie die meisten Menschen hier.«
»Man könnte fast glauben, es wäre ihm gelungen«, sagte Mike leise. Singh lächelte. »Kaum. Allerdings bin ich nicht mehr der Meinung, dass er und die anderen wirklich so blutrünstige Ungeheuer sind, wie Sarn und viele hier glauben.«
»Das ist doch nicht dein Ernst!«, empörte sich Mike. »Ich habe als Sklave in den Korallenbrüchen gelebt! Ich habe am eigenen Leib gespürt, wie wenig ein Menschenleben hier zählt!« »Es ist die einzige Art, auf die sie überleben können, Mike«, sagte Singh ernst.
»Wie bitte?«, keuchte Mike. »Du ... duverteidigstdiese Kerle auch noch?« »Keineswegs«, antwortete Singh ruhig. »Ich versuche nur, es dir zu erklären. Lemura war niemals für so viele Menschen gedacht und niemals für eine so lange Zeit. Als der Nachschub aus Atlantis ausblieb, da wären die Menschen hier beinahe alle gestorben. Sie mussten lernen, mit dem zu leben, was die Natur hier unten bietet. Was nicht viel war.«
»So kann man es auch sehen«, sagte Mike düster.
»Und die herrschende Klasse hat rasch gelernt, es sich auf Kosten der anderen gut gehen zu lassen, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte Singh. »Und das müssen sie auch.« Mike riss ungläubig die Augen auf. »Wie?« »Es sind nur wenige«, sagte Singh. »Aber die wenigen entschieden über das Weiterleben oder Sterben
aller. Sie sind die Einzigen, die noch mit der alten Technik umgehen können. Ohne Argos und die anderen, die im Palast leben, würden alle hier binnen kürzester Zeit zugrunde gehen.«
»Das gibt ihnen doch nicht das Recht –« »Es ginge keinem hier wesentlich besser, wenn es die herrschende Kaste nicht gäbe«, fiel ihm Singh ins Wort. »Und sie sind nicht nur Ausbeuter und Tyrannen. Warum glaubst du wohl, haben Argos und die anderen Lemura verlassen und ihr eigenes Leben dabei aufs Spiel gesetzt?«
»Du hast es vorhin selbst gesagt: Lemura wird untergehen.« »Sie hätten nicht zurückkommen müssen«, fuhr Singh fort. »Sie haben fast alles, was von Lemuras alter Technik noch übrig war, aufgewandt, um an die Meeresoberfläche zu gelangen. Aber nicht, um ihre
eigenen Leben zu retten, sondern um eine Möglichkeit zu finden, wie alle Menschen von hier fortkommen können!« »Die Flugscheibe«, murmelte Mike.
»Anfangs, ja«, antwortete Singh. »Aber dann trafen sie uns.
Deshalb haben sie uns die NAUTILUS weggenommen, Mike: Um mit ihrer Hilfe die Menschen von hier wegzubringen.« »Und warum haben sie uns nicht einfach um Hilfe gebeten?«, fragte Mike. »Wir hätten es doch getan!« »Das musst du Argos und die anderen fragen«, antwortete Singh. »Ich habe ihm dasselbe gesagt, aber er
hat mir nicht geglaubt.« Er zuckte mit den Schultern.
»Was ist los mit dir, Singh?«, fragte Mike. »Wieso ... verteidigst du Argos und die anderen plötzlich? Du ... du bist ja gar nicht mehr du selbst!« »Vielleicht habe ich angefangen, über gewisse Dinge nachzudenken«, antwortete Singh hart. »Wenn dir
das nicht gefällt, sag es einfach. Ich kann gerne wieder dein Sklave sein wie früher.« Mike war vollkommen fassungslos. Früher, lange bevor sie die NAUTILUS gefunden und damit ihr neues, abenteuerliches Leben begonnen hatten, war Singh tatsächlich sein Diener und Leibwächter gewesen. Aber er hatte ihn niemals als Dienstboten behandelt oder gar alsSklaven!Singhs Worte
entbehrten nicht nur jeder Grundlage, sie taten weh. Mike antwortete nicht darauf, sondern drehte sich wortlos herum und starrte zu Boden. Hinter ihm raschelte etwas. Mike hob den Blick und erwartete Astaroth wieder zu sehen, der sich
möglicherweise beruhigt hatte und zurückkam. Statt des Katers jedoch stand plötzlich Sarn wie aus dem
Boden gewachsen vor ihnen. »Das war ein äußerst interessanter Vortrag«, sagte er an Singh gewandt. »Ich beginne mich allmählich zu fragen, ob unser
Anführer nicht in Wirklichkeit auf der Seite unserer Feinde steht.« Singh funkelte ihn zornig an, antwortete aber zu Mikes Überraschung nicht darauf, sondern sagte
stattdessen: »Wo warst du so lange?« »Oh, ich bin schon eine ganze Weile hier«, antwortete Sarn. »Ich dachte mir, dass es vielleicht nicht das
Dümmste wäre, einmal zuzuhören, was du und dein Freund zu bereden haben, wenn ihr glaubt, alleine zu sein. Wie sich gezeigt hat, zu Recht. Und wir haben dir vertraut!« »Ich habe euch nie versprochen –«, begann Singh, aber Sarn hörte ihm gar nicht mehr zu, sondern
wandte sich an Mike. »War das die Wahrheit, was du gerade zu ihm gesagt hast?«, fragte er. »Was?«
»Dass ihr Argos und den anderen geholfen hättet, von hier zu entkommen?« »Selbstverständlich«, antwortete Mike. Sarn zögerte. Er warf einen raschen, unsicheren Blick in Singhs Richtung, ehe er fortfuhr: »Würdet ihr
dasselbe auch ... auch für uns tun, wenn wir euch darum bitten würden?« »Sogar, wenn ihr unsnichtdarum bitten würdet«, sagte Mike überzeugt. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, sagte Singh. »Wie stellst du dir das vor? Willst du
zwanzigtausend Menschen an Bord der NAUTILUS schaffen? Dazu ist sie ein bisschen zu klein.« »Dann fahren wir eben mehrmals«, antwortete Mike verärgert. Was war nur mit Singh los? »Ach, und wie oft? Zehnmal? Zwanzigmal?« »Wenn es sein muss, fünfzigmal!«, erwiderte Mike wütend. »Wir werden schon einen Weg finden! Was
ist los mit dir, Singh?Willstdu diesen Leuten hier nicht helfen?«
»Ich will vor allem keine falschen Hoffnungen erwecken!«, antwortete Singh in ungewohnt scharfem Ton. »Was du vorhast, ist unmöglich!« »Wieso?«, fragte Sarn. »Was Mike vorschlägt, ist nicht zu schaffen«, antwortete Singh. »Es hat nichts damit zu tun, ob wir euch
helfen wollen oder nicht. Es geht nicht. Die NAUTILUS ist nicht groß genug, um auch nur einen Bruchteil der Bewohner Lemuras an Bord zu nehmen. Und wir können nicht zehnmal fahren. Du wirst es wahrscheinlich nicht verstehen, aber eure Welt liegt auf dem Grunde des Meeres. Der Wasserdruck in dieser Tiefe ist unvorstellbar. Es ist ein Wunder, dass die NAUTILUS es einmal hier herunter geschafft hat!«
»Und wer sagt dir, dass –«, begann Sarn. Er kam nicht weiter. Irgendetwas ... Gewaltiges geschah. Mike spürte es den Bruchteil einer Sekunde, bevor es wirklich passierte. Einen Moment später begann der Boden unter ihren Füßen zu zittern und
dann ertönte ein unheimliches, knirschendes Geräusch, ein Laut, als führe der größte Fingernagel der Welt über eine noch viel größere Glasscheibe. Und es kam vonoben!Mike, Singh und der Krieger warfen erschrocken die Köpfe in den Nacken. Der Anblick, der sich ihnen
bot, ließ Mike das Herz stocken. Der künstliche Himmel über ihnen ... bewegte sich! Die gesamte, riesenhafte Kuppel hatte zu zittern begonnen. Teile des ungeheuerlichen Gebildes schoben
sich knirschend gegeneinander, bewegten sich hin und her und dann entstand im Zenit des künstlichen Himmelsgewölbes ein scheinbar haarfeiner Riss, aus dem rauchiger Dunst quoll.
Mike hatte jedoch keine Sekunde lang die Dimension der Kuppelstadt vergessen. Der künstliche Himmel befand sich mehrere Kilometer über ihnen. Was wie ein haardünner Riss aussah, musste in Wahrheit ein meterbreiter Spalt sein, durch den das Wasser mit unvorstellbarer Gewalt hereindrang. Singhs Prophezeiung hatte sich schneller erfüllt, als er vermutlich selbst geahnt hatte. Die Kuppel über Lemura brach zusammen und der Ozean strömte herein!
»Großer Gott!«, flüsterte Mike. »Sarn! Die Kuppel!« »Warte«, sagte Sarn. Er wirkte angespannt, aber eigentlich nicht in Panik. Er schien nicht einmal wirklich Angst zu haben.
Mike sah wieder nach oben. Was im ersten Moment wie grauer Dunst ausgesehen hatte, war mittlerweile zu einer Sturzflut aus Meereswasser geworden, die sich in der Kuppel verteilte und zu eisigem Regen wurde, ehe sie den Boden erreichte.
Dann jedoch geschah etwas, was Mike noch viel unglaublicher erschien. Der unvorstellbare Wasserdruck, der in dieser Tiefe herrschte, hätte den Riss binnen Sekunden erweitern und die Kuppel zerbersten lassen müssen. Doch das genaue Gegenteil geschah: Vor Mikes ungläubig aufgerissenen Augen begann sich der Riss zu schließen und der Wasserstrom versiegte!
»Aber ... aber wie ist denn das möglich!«, stammelte Mike. Sein Herz jagte und er zitterte am ganzen Leib. Auch wenn es ihm nicht bewusst gewesen war, so hatte er doch in den letzten Sekunden innerlich praktisch mit dem Leben abgeschlossen.