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»Soll das heißen, dass das schon öfter passiert ist?«, fragte Mike.
»Dreimal, allein seit ich hier bin«, antwortete Singh.
»Das stimmt«, fügte Sarn leise hinzu. »Und es wird jedes Mal schlimmer.«
»Das ist es, was ich meine«, sagte Singh. Er zögerte eine Sekunde weiterzusprechen, und als er es schließlich tat, klang seine Stimme hörbar härter und er sah demonstrativ an Sarn vorbei. »Lemura ist zum Untergang verurteilt und keine Macht der Welt kann daran noch etwas ändern. Auch du nicht.«
»Vielleicht stimmt es«, murmelte Sarn nach einer Weile. Seufzend ließ er sich neben Mike auf einen Felsen sinken und starrte ins Leere. »Wir wussten immer, dass Lemura eines Tages untergehen wird. Aber natürlich haben wir gedacht, dass esirgendwanneinmal geschehen würde. In der nächsten Generation oder der übernächsten ... nur nicht jetzt.«
Er seufzte erneut, legte den Kopf in den Nacken und sah zu der Stelle im Kuppeldach empor, an der das Wasser eingebrochen war. Der Sprühregen aus Salzwasser hatte wieder aufgehört, aber Mike glaubte plötzlich so deutlich wie nie zuvor das Gewicht der Millionen und Abermillionen Tonnen Wasser zu spüren, das darauf lastete.
»Es sieht so aus, als hätten wir uns geirrt«, murmelte Sarn.
Die Worte machten Mike wütend, auch wenn er im ersten Moment selbst nicht genau wusste, warum. »Wenn du wirklich so denkst, dann frage ich mich, warum du das alles überhaupt getan hast!«, sagte er scharf. »Warum bist du nicht einfach der Krieger der Palastwache geblieben, der du warst, und hast auf den Tag gewartet, an dem euch der Himmel auf den Kopf fällt?«
Sarn blinzelte. Mikes Zornesausbruch irritierte ihn sichtlich. Aber er sagte nichts.
Nach einer Weile erhoben sie sich schweigend und gingen.
Für mehr als eine Stunde bewegten sie sich in die Richtung zurück, aus der Mike und Sarn vor zwei Tagen gekommen waren, und Mike begann sich schon zu fragen, ob der Krieger ihn vielleicht wieder geradewegs in die Korallenbrüche zurückbringen würde, in denen alles begonnen hatte. Dann aber wich Sarn in nahezu rechtem Winkel von seinem Kurs ab und nach kurzer Zeit standen sie vor einer gewaltigen, lotrecht in die Höhe strebenden Felswand, die sich nahezu am Rande der Kuppelstadt befinden musste.
»Was ist das hier?«, fragte Mike.
»Die Eisengruben.« Es war Singh, der antwortete, nicht Sarn. Er klang ein bisschen verwirrt, aber auch besorgt. Mit einer Handbewegung auf den Boden fuhr er fort: »Sie schürfen dort unten nach Eisenerz und anderen Metallen. Es ist ziemlich gefährlich dort unten.« Er wandte sich an Sarn. »Warum hast du uns hierher gebracht?«
»Weil eure Freunde hier sind«, antwortete Sarn. »Ben und Juan ... das waren doch ihre Namen, oder?«
Singh nickte verblüfft. »Ja. Aber woher weißt du ... ?«
»Ich war Mitglied der Palastwache, schon vergessen?«, antwortete Sarn achselzuckend. »Es gibt nicht viele Geheimnisse in Argos’ Palast. Ich wusste die ganze Zeit über, wo sie waren.«
»Und warum hast du dann mich befreit statt der anderen?«, wollte Mike wissen.
»Weil es einfacher war«, sagte Singh an Sarns Stelle. »In den Eisengruben arbeiten nur Sklaven oder verurteilte Schwerverbrecher. Sie werden streng bewacht. Es ist beinahe unmöglich hineinzukommen.«
»Und noch schwerer wieder hinaus«, fügte Sarn grimmig hinzu. »Aber wir werden es schaffen.«
»Was?«, fragte Singh.
»Eure Freunde zu befreien«, antwortete Sarn. »Aus diesem Grund sind wir doch hergekommen, oder?«
»Natürlich«, sagte Singh. »Aber dort hinunterzugehen ist Wahnsinn. Es wimmelt von Kriegern und bewaffneten Posten!«
»Ein kleines Risiko müssen wir schon eingehen«, sagte Sarn spöttisch. Er hob die Hand, als Singh auffahren wollte. »Nur keine Angst. Ich kenne einen Weg, auf dem wir zumindest ungesehen hineinkommen.«
»Wie beruhigend«, sagte Singh höhnisch. »Und über das Hinaus machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist, wie?«
»Ganz genau«, bestätigte Sarn. »Und jetzt sucht euch irgendwo ein Versteck. Ich muss für eine oder zwei Stunden fort. Das Beste wird sein, wenn ihr ein wenig zu schlafen versucht.«
Und damit verschwand er mit schnellen Schritten im Unterholz, noch bevor Singh oder Mike Gelegenheit fanden, auch nur eine weitere Frage zu stellen.
Es erwies sich als nicht besonders schwer, in dem dichten Unterholz einen Platz zu finden, von dem aus sie ihre Umgebung im Auge behalten konnten, ohne selbst sofort gesehen zu werden. Die Lichtung war klein; trotzdem setzte sich Singh so weit von ihm entfernt hin, wie es nur ging, und wich auch seinem Blick aus und Mike bekam ein weiteres Mal Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie sehr sich Singh doch verändert hatte. Und er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sich diese Veränderung wohl jemals wieder rückgängig machen lassen würde.
Neben ihm raschelte etwas. Mike fuhr erschrocken zusammen, doch zu seiner Erleichterung war es. weder eine Raubkrabbe noch irgendein anderes lemurisches Ungeheuer aus dem Unterholz, sondern eine pechschwarze, einäugige Katze.
»Astaroth!«, rief er überrascht. »Wo kommst du denn her?!«
Der Kater funkelte ihn aus seinem einzigen Auge an.
Na du machst mir Spaß!nörgelte er.Erst lasst ihr zwei Tölpel mich mutterseelenallein im Nichts zurück und dann meckerst du auch noch! Wenn du glaubst, dass ich das komisch finde, dann irrst du dich!
»Wie?«, fragte Mike.
Tu nicht noch so unschuldig,maulte Astaroth.Dein Humor war auch schon mal komischer.
Mike starrte den schwarzen Kater total verdattert an. Im allerersten Moment hatte er geglaubt, dass Astaroth ihn auf den Arm nehmen wollte, aber die Entrüstung des Katers wirkte echt. Trotzdem sagte er: »Moment mal!Dubist einfach weggelaufen, als wir im Kristallwald waren!«
Weggelaufen? Ich?!Astaroth fauchte ärgerlich.Da hört sich doch alles auf. Ihr zwei seid einfach verschwunden und ich habe bis jetzt gebraucht, um euch wieder zu finden! Und jetzt machst du dich auch noch über mich lustig?!
Mike sagte jetzt nichts mehr. Offenbar hatte Astaroth den Zwischenfall im Kristallwald einfach vergessen. Singh war wohl nicht der Einzige hier, der sich sonderbar benahm. Und schließlich hatte Astaroth ihm ja schon zuvor gesagt, dass seine telepathischen Kräfte hier unten in Lemura nicht besonders gut funktionierten.
Die nächste Überraschung stand ihm auch unmittelbar bevor. Mike ließ sich zurück gegen einen Baumstamm sinken und kaum hatte er es getan, da sprang Astaroth auf seinen Schoß, rollte sich zusammen und begann wie ein junges Kätzchen zu schnurren; ein Benehmen, das er normalerweise als Lichtjahre unter seiner Würde betrachtet hätte. Und er reagierte auch nicht, als Mike ihn mehrmals lautlos in Gedanken ansprach.
Die Zeit, bis Sarn zurückkam, schien kein Ende zu nehmen. Singh starrte weiter finster ins Leere und auch Astaroths Konversation beschränkte sich auf ein anhaltendes Schnurren. Irgendetwas stimmte hier nicht. Mike konnte nicht sagen, was,
aber das Gefühl wurde immer deutlicher.
Schließlich aber kehrte ihr neuer Verbündeter doch zurück und er kam nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich fast ein Dutzend Männer. Einige Gesichter kamen Mike bekannt vor; offensichtlich gehörten sie zu den Männern, die er in der Höhle unterhalb der Hauptstadt getroffen hatte.
»Habt ihr euch ein wenig ausgeruht?«, fragte Sarn, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
»Ja«, log Mike. Mit einer Geste auf Sarns Begleiter fügte er hinzu: »Es freut mich, dass Argos’ Krieger nicht alle deine Leute geschnappt haben.«
»Die meisten leider schon«, antwortete Sarn düster. »Wir haben zwei geheime Treffpunkte ausgemacht für den Fall, dass so etwas wie vergangene Nacht geschieht. Das hier sind alle Männer, die an einem der beiden waren.« Er seufzte tief. »Ich fürchte, die meisten sind in Gefangenschaft geraten. Niemand weiß, was Argos und die anderen ihnen antun werden.«
»Wir werden sie befreien«, versprach Mike. »Sobald wir Chris, Ben und Juan herausgeholt haben, befreien wir auch deine Leute.«
Sarns Blick machte sehr deutlich, was er von diesem Versprechen hielt, aber er sagte nichts, sondern zuckte nur die Achseln und deutete auf die Felswand hinter sich. »Wir sollten keine Zeit mehr verlieren.«
»Der Eingang zur Mine liegt in der anderen Richtung«, gab Singh zu bedenken.
»Das stimmt«, sagte Sarn. »Aber wir nehmen nicht den offiziellen Eingang. Dort lungern mir zu viele meiner
ehemaligen Kollegen herum, weißt du?«
Das erschien Mike einleuchtend. Sarn war zwar nicht allein gekommen, aber der Zugang zu den Erzgruben wurde ganz bestimmt gut bewacht und sie waren nicht hier, um Krieg zu führen. Singh schien aus irgendeinem Grund jedoch gar nicht begeistert von Sarns Vorschlag zu sein. Zu Mikes Erleichterung widersprach er jedoch nicht, sondern machte nur ein mürrisches Gesicht und schloss sich ihnen an. Das heißt: Eigentlich hätte es heißen müssen, erwurde angeschlossen.Sarns Männer nahmen den muskulösen Sikh-Krieger in einer Bewegung in die Mitte, die wie zufällig wirkte, es aber ganz bestimmt nicht war. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Mike. Dafür, dass Singh noch vor einem Tag der Anführer des Widerstandes gewesen war, behandelten sie ihn mit einer erstaunlichen Feindseligkeit.