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»Wie hast du das gemacht?«, fragte Mike erstaunt. »Das grenzt ja an Zauberei!«
»Nur ein kleiner optischer Trick«, antwortete Sarn. »Aber sprich jetzt nicht mehr. Diese Gänge sollten eigentlich sicher
sein, aber die Akustik hier unten ist manchmal seltsam. Wir
dürfen nichts riskieren.«
Mike nickte. Mit klopfendem Herzen sah er sich um. Die Höhle wurde weiter hinten noch niedriger und die Wände rückten näher zusammen, bis die gesamte Höhle schließlich zu einem schmalen Tunnel zu werden schien, der sich in düsterer Entfernung verlor. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, in diesen Tunnel hineinzugehen.
Aber wenn er Ben und die anderen retten wollte, hatte er keine andere Wahl.
Das ungute Gefühl wurde nicht besser, als sie in die Tiefe stiegen. Der Weg war sehr schwierig. Sie trafen zwar auf keine weiteren Monster und auch von Argos’ Soldaten zeigte sich nicht die geringste Spur, aber mehr als einmal mussten sie halsbrecherische Kletterpartien bewältigen und manchmal wurde der Gang so niedrig, dass sie auf Händen und Knien kriechen mussten. Die Luft wurde immer schlechter.
Mike hatte keine Ahnung, wie tief sie sich mittlerweile unter dem gewachsenen Boden Lemuras befanden, aber es musste sehr tief sein. Der Weg hatte ununterbrochen nach unten geführt und er glaubte das ungeheure Gewicht der Felsmassen, unter denen sie sich bewegten, fast körperlich zu fühlen. Gerade, als er fast so weit war, einfach nicht mehr weiterzukönnen, gab Sarn das Zeichen zum Anhalten.
»Wartet hier«, flüsterte er. »Ich gehe voraus und schaue mich um. Wir sind dem Bergwerk jetzt ganz nahe, also keinen Laut!«
Noch bevor Mike irgendetwas sagen konnte, wandte er sich um und verschwand mit schnellen Schritten in der grünen Dämmerung. Mike sah ihm mit klopfendem Herzen nach. Er brannte noch immer darauf, Ben, Chris und Juan zu befreien, aber seine Angst wuchs auch in jedem Augenblick. Jeder Quadratzentimeter Boden hier unten machte ihm Angst. Und er wusste nicht einmal, warum.
Weil du es auch spürst,flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken.Irgendetwas ist hier. Und es ist nicht sehr gut.
Mike schrak zusammen. Astaroth hatte sie in das unterirdische Labyrinth begleitet, aber der Kater hatte sich auf seinen weichen Pfoten so lautlos bewegt, dass er seine Anwesenheit einfach vergessen hatte. Er sah den Kater auch jetzt noch nicht, aber er glaubte zu spüren, wie er sich hinter ihm bewegte.
Wie meinst du das?fragte er nervös.
Keine Ahnung,antwortete Astaroth.Aber irgendetwas ist hier. Ich weiß nicht, was, aber es ist lebendig. Und sehr zornig.
Mike sparte es sich, eine weitere Frage zu stellen. Er wusste, wie sinnlos es war, von dem Kater etwas erfahren zu wollen, über das dieser nicht sprechen wollte. Und darüber hinaus hatte er nicht vergessen, dass Astaroth den größten Teil seiner telepathischen Fähigkeiten eingebüßt hatte, seit sie in Lemura waren.
Gerade das war es aber auch, was ihn am meisten beunruhigte. Wenn Astaroth die Gefahr, die hier unten lauerte, trotz seiner fast erloschenen Kräfte noch spürte, dann musste sie gewaltig sein.
Er sagte nichts mehr zu Astaroth, sondern wandte sich stattdessen an Singh. »Wieso liegen diese Minen so tief unter der Erde?«, fragte er. »Und wieso bewachen sie sie so streng?«
»Weil es keine wirklichen Minen sind«, antwortete Singh. »Nicht in dem Sinn, in dem wir das Wort verstehen. Es ist kein Bergwerk, in dem sie das Erz von den Wänden brechen.« Er deutete mit dem Zeigefinger der linken Hand auf den Boden. »Unter uns befindet sich eine Art unterirdischer Fluss. Das Erz liegt in großen Stücken auf seinem Grund. Man muss tauchen, um es herauszuholen. Sehr anstrengend und sehr gefährlich.«
»Aber warum bergen sie es nicht auf die ganz normale Art?«, fragte Mike.
»Weil das hier die ganz normale Art ist«, antwortete Singh. »Es gibt hier kein erzhaltiges Gestein, wie wir es kennen. Das ist einer der Gründe, aus denen die Atlanter die Strafkolonie genau hier errichtet haben. Sie wollten verhindern, dass die Bewohner Lemuras Metalle herstellen.«
»Damit sie nicht von hier entkommen können«, sagte Mike ernst.
»Vermutlich.« Singh machte ein düsteres Gesicht. »Sie wollten eben sichergehen, dass ihre Gefangenen für alle Zeiten hier unten festsitzen.«
»Und das werdet ihr auch, wenn ihr noch ein bisschen lauter redet«, erklang Sarns Stimme hinter ihnen. Mike sah auf und blickte in das finstere Gesicht des Kriegers, verbiss sich aber jede Antwort und auch Singh beließ es bei einem kalten Lächeln.
»Eure Freunde sind hier«, fuhr Sarn nach sekundenlangem Schweigen fort. Er sprach sehr leise und in einem gehetzten, fast angsterfüllten Flüsterton. »Aber sie werden streng bewacht. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.«
»Na dann viel Spaß«, sagte Singh hämisch. »Hier unten wimmelt es von Kriegern. Ich dachte, du hättest einen Plan.«
»Das hatte ich auch!«, verteidigte sich Sarn. »Aber sie scheinen die Wachen verdoppelt zu haben.«
»Und das wundert dich?« Singh deutete mit einer Kopfbewegung auf Mike. »Nachdem du ihn auf so spektakuläre Weise befreit hast, rechnen Argos und seine Begleiter natürlich damit, dass ihr auch seine Freunde herausholen wollt. Sie wären ja dumm, es nicht zu tun.« Er lachte böse. »Wahrscheinlich laufen wir geradewegs in eine Falle!«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Hört auf, euch zu streiten«, mischte sich Mike ein. Er warf sowohl Sarn als auch dem Inder einen ärgerlichen Blick zu, dann sah er sich suchend nach Astaroth um und entdeckte den Kater nur wenige Meter hinter sich. Er hockte auf einem Felsen, leckte sich die Vorderpfoten und schien von dem ganzen Streit nichts mitbekommen zu haben. Laut, damit die anderen seine Worte hörten, sagte er: »Astaroth. Bitte geh und sieh nach, ob die Luft rein ist.«
Ist sie nicht,nörgelte Astaroth.Dazu müssten wir fünftausend Meter weiter nach oben. Aber ich gehe ja schon. Ich bin das gewohnt, weißt du? Ihr hackt zwar ständig und mit wachsender Begeisterung auf mir herum, tut so, als wäre ich gar nicht da, und füttert mich mit Abfällen, aber wenn es wirklich brenzlig
wird, dann bin ich wieder dafür gut, die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
»Was hat er gesagt?«, fragte Sarn.
»Ja«, übersetzte Mike.
Astaroth blinzelte, stand dann beleidigt auf und ging. Sie verfielen wieder in brütendes Schweigen. Niemand sprach. Die meisten Männer starrten einfach nur dumpf vor sich hin, bloß Sarn und Singh funkelten einander böse an. Die Feindschaft zwischen den beiden Männern wurde immer deutlicher. Mike verstand das nicht mehr.
Nach einer Ewigkeit, wie es schien, kam Astaroth zurück.Singh hat Recht,sagte er.Es ist eine Falle. Sie erwarten uns.
»Was soll das heißen?«, fragte Mike erschrocken.
Kommt mit,antwortete der Kater.Dann zeige ich es euch. Und seid bloß leise!
Mike übersetzte in aller Hast, was Astaroth gesagt hatte, dann erhoben sie sich von ihren Plätzen und folgten dem Kater. Der Weg war tatsächlich nicht mehr sehr weit. Sie schlichen durch einen kaum anderthalb Meter hohen, mit Schutt und Geröll übersäten Gang, der sich nach kaum fünfzig Schritten zu einer riesigen Höhle erweiterte. In dem dämmrigen grünen Licht erkannte Mike eine Anzahl unterschiedlich großer, runder Teiche, die im grünen Licht der Leuchtalgen unheimlich schimmerten. Auch der Boden dieser großen Höhle war mit einem Gewirr von Felsbrocken und Trümmern übersät, sodass sie den Gang verlassen und ungesehen in Deckung huschen konnten.
Sarn deutete auf den am nächsten liegenden See. Eine Anzahl Männer saß oder stand an seinem Ufer und sah einigen weiteren Gestalten zu, die im Wasser schwammen. Etliche der Männer am Ufer häuften große, nass glänzende Brocken in geflochtene Körbe, die wieder andere zum Ausgang trugen. Mike erinnerte sich an das, was Singh gerade erzählt hatte: Offensichtlich holten die Männer im Wasser die Erzknollen vom Grunde des Sees hinauf, damit sie von den anderen fortgeschafft werden konnten. Eine äußerst mühselige – und bestimmt gefährliche – Art, Erz zu gewinnen. Eisen musste hier unten kostbarer als Gold sein.
Mike sah sich nach den Wachen um, von denen Astaroth gesprochen hatte, konnte aber nur eine einsame Gestalt erkennen, die direkt neben dem Eingang auf einen Speer gestützt dastand und alle Mühe zu haben schien, nicht im Stehen einzuschlafen. Andererseits lagen in der weitläufigen Höhle mehr als genug Felsbrocken herum, um eine ganze Armee dazwischen zu verbergen.
Mike wandte sich mit einem fragenden Blick an Astaroth.Wo sind sie? Zwischen den Felsen versteckt?
In seinem Kopf ertönte ein lautloses Lachen.Keineswegs. Sie sind direkt vor deiner Nase. Sieh genau hin.
Mike tat, was der Kater verlangte, konnte aber zuerst nichts Auffälliges entdecken. Einige Männer trugen Körbe voller Erzknollen oder luden sie gerade voll, die weitaus meisten aber standen einfach nur herum und warteten, dass sie an die Reihe kamen.
Dann aber fiel ihm doch etwas auf. Die wenigen Männer, die die Körbe trugen, waren ausgemergelt und erschöpft und wirkten zum Umfallen müde oder auch krank, die anderen jedoch machten einen durchaus gesunden, kräftigen Eindruck. Und es waren eigentlich auch viel zu viele, wenn man bedachte, dass in dem runden See gerade mal zwei oder drei Gestalten schwammen. An keinem der anderen Wasserlöcher in der Höhle wurde gearbeitet.
Mike machte Singh mit einem Blick auf seine Entdeckung aufmerksam und der Inder nickte grimmig. »Argos’ Krieger«, flüsterte er. »Sie wissen, dass wir kommen.«
»Aber nicht, dass wir schon da sind«, fügte Sarn ebenso leise hinzu. »Wir haben eine gute Chance. Haltet euch bereit.«
Mike sagte nichts dazu, schon weil Sarn erneut heftig gestikulierte still zu sein. Aber er fühlte sich injeder Sekunde weniger wohl. Sarn und seine Männer waren in der Überzahl, und sie hatten den Vorteilder Überraschung auf ihrer Seite, aber ein Kampf würde wieder Tote und Verwundete bedeuten.
Da tauchte eine Gestalt aus dem See auf, ließ einen kopfgroßen Erzbrocken auf das Ufer fallen und zog sich mit einer erschöpften Bewegung aufs Trockene hoch. Als sie den Blick hob, erkannte Mike, dass es sich um niemand anderen als Ben handelte.
Um ein Haar hätte er laut aufgeschrien.