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Trotzdem gönnte ihm der Mann am Ufer nur wenige Atemzüge, ehe er Ben mit einem derben Fußtritt wieder ins Wasser schleuderte. Noch während er unter heftigem Plantschen und Wellenschlägen unterging, tauchten zwei weitere, mit Erzknollen beladene Gestalten aus dem Wasser auf. Mike war nicht einmal mehr überrascht, als er erkannte, dass es sich um Chris und Juan handelte. Aber er war zutiefst entsetzt. Beide boten einen ebenso ausgezehrten Anblick wie Ben. Was hatten Argos’ Krieger vor? Wollten sie, dass die drei Jungen sich zu Tode arbeiteten?
Sarn schien zu spüren, wie es in Mike aussah, denn er machte eine besänftigende Geste. Seine Krieger waren bereits dabei, sich zwischen den Felsen zu verteilen, um in eine vorteilhafte Angriffsposition zu kommen. Mike war nicht wohl bei dem Gedanken, dass hier gleich ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod losbrechen würde. Aber sie mussten Chris und die beiden anderen rausholen. So wie seine drei Freunde aussahen, war er nicht einmal sicher, dass sie die nächste Stunde überleben würden.
Es kam nicht zu dem Angriff; wenigstens nicht sofort. Sarns Männer schlichen geduckt und von Deckung zu Deckung huschend weiter, doch gerade, als der Krieger nach seinem Schwert griff und das vereinbarte Zeichen geben wollte, begann der Wasserspiegel des Sees zu zittern und nur eine Sekunde später wankte der Boden unter ihren Füßen.
Und das war erst der Anfang.
Noch bevor Mike überhaupt begriff, was geschah, begann es Steine zu regnen. Die gesamte riesige Höhle begann zu schwanken und sich zu bewegen und von der Decke regneten Felsbrocken und Steine, die zu Boden krachten oder mit einem gewaltigen Aufspritzen im Wasser verschwanden. Zwei, drei der Männer am Ufer wurden getroffen und stürzten zu Boden und auch der Wächter am Eingang verschwand unter einer gewaltigen Staub- und Trümmerwolke.
»Jetzt!«Sarn sprang in die Höhe und riss gleichzeitig sein Schwert aus dem Gürtel.»Greift an!«
Auch seine Leute hatten sich mit hastigen Sprüngen vor den niederregnenden Felsbrocken in Sicherheit gebracht, gehorchten seinem Befehl aber trotzdem sofort. Ohne zu zögern stürzten sie sich auf die als Sklaven verkleideten Krieger. Einige von denen versuchten zwar noch, ihre Waffen unter den Kleidern hervorzuziehen, aber sie hatten keine Chance. Der Kampf war nur kurz, aber sehr hart. Zwei von Sarns Männern und fünf der verkleideten Wachen lagen reglos am Boden, als alles vorbei war. Die Höhle bebte noch immer und fallweise regneten auch noch Steine von der Decke, aber das Schlimmste war vorüber.
Mike ignorierte die Gefahr, sprang hinter seiner Deckung hervor und war mit zwei, drei gewaltigen Sätzen am Ufer des Wasserloches. Zu seiner Erleichterung schwammen Ben, Juan und Chris noch immer im Wasser herum; unverletzt, aber vollkommen erschöpft. Mike streckte blitzschnell die Hände nach Juan aus, der ihm am nächsten war, packte ihn und riss ihn ohne große Anstrengung ans Ufer. Dann angelte er nach Ben, um ihn auf gleiche Weise zu retten.
In diesem Moment begann der Boden wieder heftig zu zittern. Die gesamte Höhle schien zu stöhnen wieein riesiges, sonderbares Tier. Überall rings um ihn herum stürzten Felsbrocken und Steine zu Boden. Männer schrien in Schmerz und Panik auf und auch Mike fühlte einen harten Schlag gegen die Schulter und wäre um ein Haar gestürzt.
Auch in den See schlugen die tödlichen Geschosse ein. Rings um Ben und Chris spritzte das Wasser in meterhohen Fontänen auf. Und als wäre das alles nicht genug, gewahrte Mike plötzlich etwas, was ihm schier das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Zwischen Ben und Chris erschien eine riesige, dreieckige Flosse.
Ein Hai!
Mike blinzelte. Eine Sekunde lang glaubte er einfach seinen Augen nicht trauen zu können. Aber es war so: Zu der ersten Flosse gesellte sich eine zweite, dann eine dritte. In dem unterirdischen See waren Haie aufgetaucht!
Auch Ben und Chris mussten die Gefahr bemerkt haben, denn sie schwammen im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben. Immer mehr und mehr Steine ließen das Wasser rings um sie herum aufspritzen. Es grenzte an ein Wunder, dass bisher keiner von ihnen getroffen worden war. Dass auch Mike selbst sich in derselben Gefahr befand, kam ihm in diesem Moment nicht einmal in den Sinn.
Er beugte sich vor, so weit er es wagte, bekam irgendwie Bens Handgelenk zu fassen und riss ihn regelrecht aus dem Wasser. Nur eine halbe Sekunde später durchschnitt eine dreieckige Haiflosse genau dort die Wasseroberfläche, wo Ben gerade noch gewesen war. Nun blieb nur noch Chris. Auch er schwamm mit kräftigen Zügen auf das rettende Ufer zu und Mike beugte sich noch weiter vor, um den Benjamin der NAUTILUS-Besatzung zu erreichen.
Beinahe hätte er es sogar geschafft.
Seine ausgestreckte Hand war nur noch Zentimeter von Chris’ Fingerspitzen entfernt, als etwas wie ein furchtbarer Faustschlag seinen Rücken traf. Mike schrie auf, kippte nach vorne und stürzte halb besinnungslos ins Wasser.
Sekundenlang kämpfte er mit aller Macht darum, nicht gänzlich das Bewusstsein zu verlieren, was sein sicheres Todesurteil gewesen wäre. Er wurde herumgewirbelt und sank immer tiefer ins Wasser. Etwas Riesiges, Dunkles streifte seine Schulter und wirbelte ihn noch mehr herum, schubste ihn aber gleichzeitig auch wieder in die Höhe, sodass sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Instinktiv atmete er ein, machte ein paar hastige Schwimmbewegungen und sah sich um. Er war weiter vom Ufer entfernt, als er angenommen hatte. Rings um ihn herum herrschte das nackte Chaos. Die Höhle schwankte. Von der Decke regneten noch immer Steine. Und mittlerweile pflügten fünf oder sechs große, dreieckige Haifischflossen durch das Wasser. Mike verstand nicht, warum die Tiere Chris und ihn bisher noch nicht angegriffen hatten.
Sein Rücken war noch immer taub vor Schmerz und die Haifische kamen immer näher. Trotzdem warf er sich herum, schwamm mit heftigen Zügen auf Chris zu und versuchte ihn zu packen.
Es gelang ihm nicht. Chris war sichtbar am Ende seiner Kräfte, aber statt seine Hilfe anzunehmen, wich er ihm aus und schlug sogar nach ihm.
»Bist du verrückt?«, brüllte Mike – jedenfalls versuchte er es, schluckte aber so viel Wasser dabei, dass die Hälfte des Satzes in einem qualvollen Husten unterging. Statt noch mehr Zeit zu verschwenden, packte er Chris, wirbelte ihn herum und legte ihm von hinten den Arm um den Hals. Wenn es sein musste, würde er Chris eben mit Gewalt zwingen, sich retten zu lassen. Falls sie beide die nächsten zehn oder zwanzig Sekunden überlebten, hieß das ...
Alles ging viel zu schnell, als dass Mike auch nur begriff, was wirklich geschah. Jemand – etwas – packte ihn und Chris und zerrte sie mit brutaler Kraft in die Tiefe. Im selben Moment begann das Wasser ringsum unter den Einschlägen der ersten Steine regelrecht zu kochen. Mike spürte, wie Chris und er getroffen wurden. Der Schmerz war schlimm, aber schlimmer war, dass die Schläge ihm die Luft aus den Lungen trieben. Alles begann sich um ihn zu drehen und der Druck auf seine Brust wurde schier unerträglich. Chris, den er noch immer umklammert hielt, hatte aufgehört zu zappeln und sich zu wehren, und es ging noch immer weiter und schneller in die Tiefe. In ein paar Sekunden, das wusste er, würde er endgültig das Bewusstsein verlieren.
Sein Kopf knallte gegen einen Stein. Für eine Sekunde sah er nur noch bunte Sterne und ihm wurde, schwarz vor den Augen.
Und dann, ganz plötzlich, wurde es wieder hell um ihn. Mike konnte wieder atmen. Gierig sog er die Luft ein, spürte nur noch vage, wie er aus dem Wasser und mehr als unsanft zu Boden geworfen wurde, und ließ endlich los.
Hustend öffnete er die Augen. Er spürte, wie seine Gedanken
langsam in einen sich immer schneller drehenden Wirbel hineingezogen wurden, und vielleicht war er sogar schon ohnmächtig und halluzinierte, denn das letzte Bild, das er sah, war so grässlich, dass es nur aus einem Fiebertraum stammen konnte:
Die Wesen, die ihn und Chris gerettet hatten, waren keine Menschen, sondern –
Mike verlor das Bewusstsein.
Um ihn herum war es hell, als er erwachte. Er lag auf etwas Hartem, das wie tausend spitze Nadeln in seinen Rücken stach, und es war erbärmlich kalt. Das war das Erste, was ihm bewusst wurde. Das Zweite war die Erinnerung an eine Grauen erregende Gestalt mit furchtbaren Händen, die sich über ihn beugte, und sie war so intensiv, dass Mike sich mit einem Schrei aufrichtete und wild umsah. Sein Herz begann schlagartig zu hämmern.
Chris saß angstvoll zusammengekauert ein paar Meter neben ihm und starrte ihn aus großen Augen an, aber von dem Ungeheuer war keine Spur zu sehen falls es überhaupt je existiert hatte und nicht nur eine Fieberfantasie gewesen war.
Mike sah sich schaudernd ein zweites Mal um. Sie befanden sich am Ufer eines kreisrunden Sees von etwa dreißig Metern Durchmesser. Der Boden bestand aus feinem Sand und scharfkantigen Steinen – das war es, was so schmerzhaft in seinen Rücken gestochen hatte – und stieg in einiger Entfernung zu einer Schutthalde an, die fast bis zu der niedrigen Höhlendecke hinaufreichte.
Erst dieser Anblick machte Mike klar, dass sie sich nicht mehr in der Höhle befanden, in die Sarn sie gebracht hatte.
Er drehte sich wieder herum und Chris fuhr erschrocken zusammen und rutschte noch einen Meter weiter von ihm fort. In seinen Augen flackerte eine Angst, die Mike nur zu gut kannte.
»Tut mir nichts, Herr«, sagte Chris. »Es war nicht meine Schuld.«
»Ich weiß zwar nicht genau, was du meinst, aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, antwortete Mike. Er lächelte, sah aber sofort, dass er damit das genaue Gegenteil dessen zu erreichen schien, was er beabsichtigte: Die Angst in Chris’ Augen verstärkte sich noch.
»Du erinnerst dich nicht an mich, wie?«, fragte er.
»Erinnern?« Chris blickte ihn vollkommen verständnislos an und Mike stellte keine weitere Frage. Stattdessen stand er auf und begann die Geröllhalde emporzuklettern; eine Aufgabe, die sich als weitaus einfacher erwies, als er befürchtet hatte. Nach weniger als zwei Minuten hatte er den Gipfel des kleinen Bergs aus Trümmern und Geröll erreicht – und riss ungläubig die Augen auf, als er sah, was auf der anderen Seite lag.
Er hatte eine weitere Höhle erwartet und das war es auch, aber sie war gigantisch. Unter der Decke, die sich unmittelbar über Mike zu einer gewaltigen Höhle aufschwang, erstreckte sich eine sanft gewellte Ebene, die sich Kilometer um Kilometer dahinzog. Das jenseitige Ende dieses unterirdischen Landes war so weit entfernt, dass es bloß als Schatten zu erkennen war. Eine Art trockenes Seegras wuchs in großen Büscheln auf dem Boden und weiter entfernt konnte Mike einen grünen Schatten erkennen, der ganz gut ein Wald sein konnte.
»Was ... was ist das?«, flüsterte Mike erschüttert.
Er hatte gar nicht gemerkt, dass Chris ihm gefolgt war, aber er sagte unmittelbar neben ihm: »Das verbotene Land. Es gibt Tiere hier und gefährliche Pflanzen. Ihr solltet nicht dort hinuntergehen, Herr.«
»Vergiss denHerrn«,sagte Mike automatisch. Dann fügte er in verwirrtem Ton hinzu: »Woher weißt du das?«
»Ich war einmal dort«, antwortete Chris. Er sah Mike angstvoll an. »Ich weiß, dass wir es nicht dürfen, aber Ben, Juan und ich sind ein paar Mal von den Wächtern hergebracht worden. Niemand sonst kommt hierher. Wir konnten ... ausruhen. Werdet Ihr uns verraten?«
»Nein«, antwortete Mike lächelnd. »DieWächter?«
»Die Wesen, die uns gerettet haben.« Chris deutete auf den See hinab. »Sie greifen jeden an. Nur Ben, Juan und mich nicht. Im Gegenteil. Sie sind unsere Freunde.«
Und endlich erinnerte Mike sich wirklich. Das Monster, das er gesehen hatte, war keine Halluzination gewesen. Er war Geschöpfen wie diesem schon mehrmals begegnet – einmal an Bord der NAUTILUS und später am Ufer der kleinen Insel, auf der Argos und die beiden anderen Atlanter sie überwältigt hatten. Die bizarren Kreaturen, die wie unheimliche Kreuzungen zwischen Menschen und Haifischen aussahen, hatten noch nie jemandem etwas zu Leide getan, aber Argos und die anderen Atlanter fürchteten sie wie den Teufel. Etwas an diesem Gedanken erschien ihm ungeheuer wichtig, aber er bekam ihn nicht richtig zu fassen.
Bevor er intensiver darüber nachdenken konnte, fuhr Chris neben ihm erschrocken zusammen, und als Mike sich herumdrehte und in dieselbe Richtung sah wie er, erkannte er, dass sich das Wasser des kleinen Sees wieder bewegte. Diesmal tauchte jedoch kein Haifisch-Ungeheuer aus den Wellen auf, sondern ein struppiges schwarzes Etwas, das mit heftigen Schwimmbewegungen zum Ufer paddelte. Chris fuhr erneut zusammen und Mike machte eine beruhigende Geste.
»Keine Angst«, sagte er. »Das ist Astaroth. Ein Freund.«
Schön, dieses Wort einmal aus deinem Mund zu hören,maulte Astaroths Stimme in seinen Gedanken.Hältst du es für eine gute Idee, deine Freunde in Todesangst zu versetzen?
»Todesangst?«, fragte Mike verständnislos.